Für all die neuen Lebensmuster und
-anforderungen (und die genannten sind bei weitem nicht alle,
denkt man an Medien, Konsum, Autoverkehr) fehlen Bewertungsmaßstäbe,
Erfahrungen und Bewältigungsstrategien. Auch so ist es heute,
1992, zu erklären, warum nur 4,2 Prozent der Jugendlichen
in der eingangs zitierten Studie ohne Einschränkung und nur
15,7 Prozent mit geringen Einschränkungen der Auffassung
sind, daß das Leben für die Jugend seit dem Beitritt
der DDR zur BRD alles in allem besser geworden sei.
Die Mehrheit hat soziale Sicherheit, berufliche
Perspektive, Möglichkeiten einer sinnvollen Freizeitgestaltung
als für sich bedeutsam erfahren. Mit welcher Garantie, gemessen
an der ökonomischen Situation der ehemaligen DDR, soll hier
nicht diskutiert werden, spielt auch im Denken der heute Sechzehn-
bis Siebzehnjährigen kaum eine Rolle.
Am wenigsten aber sind die Jugendlichen
eingestellt auf die Arbeitslosigkeit. Noch immer haben arbeitsbezogene
Wertvorstellungen einen außerordentlich hohen Stellenwert,
kann diese hohe Wertschätzung der Arbeit zu Konflikten zwischen
Wunsch und Wirklichkeit, zu Frustration führen, aber auch
eine Basis für wirtschaftliche Entwicklung sein. Noch sind
die Jugendlichen nicht resigniert, wie häufig ihre Eltern,
sehen mehr als zwei Drittel ihr eigenes Leben eher zuversichtlich,
wenn auch nahezu die Hälfte die Zukunft der Gesellschaft
eher düster sieht. Sie hoffen auf eine Arbeit, die ihnen
Freude macht, Erfolg im Beruf, Glück in der Liebe, viele
Freunde, eine dauerhafte Partnerschaft, die Möglichkeit,
die Welt zu bereisen, und sind bereit, sich für den Frieden
einzusetzen. Vergleicht man gegenwärtige soziologische Untersuchungen
mit den Wünschen und Träumen der Mädchen und Jungen
aus dem Jahre 1990, so ist es noch immer das Bedürfnis nach
einer Welt, in der es Toleranz, Freundschaft und Hilfsbereitschaft
gibt, nach einer gesunden Umwelt, nach sicheren Orientierungen.
Inwiefern die Hoffnungen in Enttäuschungen,
Resignation oder Gewaltausbrüche umschlagen, hat die Gesellschaft
wesentlich in der Hand. Noch übertragen sich Orientierungsprobleme
der Eltern auf die Jugendlichen. So sagte einer der Jugendlichen,
die im September 1992 Steine auf ein Asylbewerberheim in Eisenhüttenstadt
warfen: "Die Eltern haben früher gemeckert, und meckern
heute wieder. Wie die sich das hier bieten lassen, wie sie belogen
und betrogen werden ...".
Inwieweit die Brüche in den Biographien
zu zerbrochenen Lebensbahnen werden, darf nicht abgewartet werden,
sondern bedarf der Unterstützung und Aufmerksamkeit aller.
Kinder und Jugendliche brauchen eine Lobby. Einen Beitrag dazu
sollte unsere Dokumentation leisten, der nachfolgende Auszüge
entnommen sind.
Kinder in der Leipziger
Demo
Ich war 13mal auf der Montagsdemo. Zuerst
waren wir wie in einer Familie, jetzt sind die Menschen dort aggressiver
und hören nicht mehr aufeinander.
Mädchen, 10 Jahre
Ich war immer auf der Demo. Ich forderte:
Nieder SED, Freie Wahlen und Aufdeckung der Verbrechen.
Mädchen, 11 Jahre
Ich war auf der Demo und habe (was ich vorher
nie gemacht habe) die Aktuelle Kamera angeguckt.
Mädchen, 10 Jahre
Ich finde es sehr gut, daß wir mit
unseren Demos eine Wende hervorbringen konnten. Auch finde ich
es gut, daß die Polizei nicht sehr viel (außer 7.
Oktober) eingriff. Ich hatte nicht gedacht, daß die Demos
so friedlich ausgingen, so daß kein Blutbad wie in Rumänien
entstand.
Mädchen, 12 Jahre
Als die Demo
bei uns in Leipzig begann, ging ich oft mit meinem Vater demonstrieren.
Warum ich das tat, das weiß ich gar nicht, vielleicht weil
meine Klassenkameraden viel von der Montagsdemo erzählten.
Sie haben das so spannend erzählt, daß es mich anregte,
dort einmal hinzugehen. Es hat mir auch gefallen, wie die Menschen
laut auf die Stasi schimpften. Dann ging ich jedesmal und rief
mit, über das, was ich gar nicht richtig verstand.
Mädchen, 13 Jahre