I.
Eine Quelle zur Zeitgeschichte: Die Besucherbücher der Ausstellung
"Lebensstationen in Deutschland"
Am 26. März 1993 eröffnete das
Deutsche Historische Museum im Berliner Zeughaus Unter den Linden
eine kulturhistorische Ausstellung zum Thema "Lebensstationen
in Deutschland 1900-1993". Ursprünglich für drei
Monate konzipiert, wurde die Ausstellung nach zwei Verlängerungen
bis in den Dezember 1993 gezeigt. In den Gästebüchern
dieser Ausstellung konnten die Besucher aus Deutschland-Ost und
Deutschland-West sagen, was sie voneinander hielten.
Die Reaktion auf dieses Angebot war enorm
und sprengte das bei Ausstellungen übliche Maß der
Äußerungen: Während der knapp neunmonatigen Laufzeit
der Ausstellung schrieben rund 7500 (!) Ausstellungsbesucher ihre
Meinung nieder und füllten auf diese Weise mehr als ein Dutzend
der ausgelegten Gästebücher. Diese waren bald zum nicht
mehr wegzudenkenden Teil der Ausstellung geworden, und auch die
Medien begriffen schnell, daß die Besucher hier einen Ort
sahen, wo sich "Volkes Stimme" niederschlagen konnte.
Wenn auch die Einzelfeststellungen vorherrschen, so ist es doch
ebenso erstaunlich wie zentral, daß zahlreiche Niederschriften
in den Besucherbüchern nicht isoliert voneinander zu sehen
sind, sondern mit anderen, vorausgegangenen in Beziehung stehen.
So fand in den Büchern auch eine Art Dialog, eine zeitversetzte
Diskussion der Besucher miteinander statt.
Das Thema der Ausstellung und der besondere
Ort, an dem sich die vox populi niederschlug, spielten sicher
eine besondere Rolle für das Hervorbringen so vieler und
vor allem so vielfältiger und divergierender Meinungsbekundungen:
Die Ausstellung stellte in einem kulturhistorischen Rahmen dar,
welche wichtigen Lebensabschnitte und -zäsuren in Deutschland
zwischen 1900 und 1993 vorzufinden sind und wie sie sich mit den
Veränderungen von Gesellschaft und Kultur gewandelt haben.
Lebensstationen wurden dabei verstanden als individuell wie kollektiv
wichtige Ereignisse, die einen Einschnitt in der Biographie darstellen
und den Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen
markieren. Dazu zählen Taufe, Kommunion/Konfirmation und
Heirat ebenso wie etwa die Mitgliedschaft in einer (staatlichen)
Jugendorganisation, der Eintritt ins Berufsleben, die Absolvierung
des Wehrdienstes oder der Übergang ins Rentenalter. Thema
der Ausstellung war also, wie sich die Struktur eines individuellen
Lebens, seine Abschnitte und Einschnitte, mit dem gesellschaftlichen
Wandel im 20. Jahrhundert auch gewandelt haben.
So war das Ausstellungsthema
keines, das dem Besucher äußerlich geblieben wäre;
die eigene Biographie und das eigene Leben kamen sehr schnell
mit ins Spiel. Hinzu kommt, daß fast die Hälfte der
Ausstellung sich mit der unterschiedlichen Entwicklung der Lebenssituation
in Deutschland-Ost und Deutschland-West nach 1945 befaßte.
Parallel zueinander verliefen die Abteilungen "DDR"
und "Bundesrepublik Deutschland", und zwischen ihnen
befand sich eine Mauer - eine begehbare allerdings. Von ihr aus
konnten die Besucher zugleich auf beide "Deutschlands"
blicken und sie unmittelbar vergleichen. Was sahen sie von dieser
Brücke aus? Auf der einen, der DDR-Seite, gab es eine streng
und geradlinig angelegte Ausstellungsarchitektur, die einen gelenkten
Lebenslauf vorstellte, dessen einzelne Stationen sich gleichförmig
reihten, während auf der anderen, der bundesrepublikanischen
Seite, die einzelnen Lebensstationen ein Labyrinth mit vielen
Ein- und Ausgängen bildeten. Die Architektur stellte also
mit den ihr eigenen (visuellen) Mitteln zwei stark differente
Lebenskonzeptionen dar: das straff geregelte Leben von der Kinderkrippe
bis zum "Feierabendheim" auf der einen Seite, auf der
anderen das "ganz normale Chaos" ohne starre Abfolge
und mit fließenden Übergängen.
Innerhalb dieser kontrastiven Architektur waren die Besucherbücher
von uns an zentraler Stelle platziert worden, nämlich auf
der Brücke mit Blick auf die Ausstellungsabschnitte "Deutsche
Demokratische Republik" und "Bundesrepublik Deutschland".
Unter der Themenstellung "Und heute - 1993?" forderten
wir die Besucher auf, sich ins Verhältnis zu setzen nicht
nur zu dem, was sie in der Ausstellung gesehen hatten, sondern
darüber hinaus auch zur Situation in Deutschland nach der
,Wende`.