Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Bericht zur (mentalen) Lage der Nation
Was die Besucher einer Berliner Ausstellung über die deutsch-deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken
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Teil 4 Teil 5 Teil 6

Katalog

Vorwort
Einführung

Deutschland um 1900

DDR
BRD


Aufsätze



Ausstellungsarchitektur



Besucherreaktionen

Aus Politk und Zeitgeschichte


Virtueller Spaziergang



Ausstellungsgrundriss



Weitere Informationen


 

I. Eine Quelle zur Zeitgeschichte: Die Besucherbücher der Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland"

Am 26. März 1993 eröffnete das Deutsche Historische Museum im Berliner Zeughaus Unter den Linden eine kulturhistorische Ausstellung zum Thema "Lebensstationen in Deutschland 1900-1993". Ursprünglich für drei Monate konzipiert, wurde die Ausstellung nach zwei Verlängerungen bis in den Dezember 1993 gezeigt. In den Gästebüchern dieser Ausstellung konnten die Besucher aus Deutschland-Ost und Deutschland-West sagen, was sie voneinander hielten.

Die Reaktion auf dieses Angebot war enorm und sprengte das bei Ausstellungen übliche Maß der Äußerungen: Während der knapp neunmonatigen Laufzeit der Ausstellung schrieben rund 7500 (!) Ausstellungsbesucher ihre Meinung nieder und füllten auf diese Weise mehr als ein Dutzend der ausgelegten Gästebücher. Diese waren bald zum nicht mehr wegzudenkenden Teil der Ausstellung geworden, und auch die Medien begriffen schnell, daß die Besucher hier einen Ort sahen, wo sich "Volkes Stimme" niederschlagen konnte. Wenn auch die Einzelfeststellungen vorherrschen, so ist es doch ebenso erstaunlich wie zentral, daß zahlreiche Niederschriften in den Besucherbüchern nicht isoliert voneinander zu sehen sind, sondern mit anderen, vorausgegangenen in Beziehung stehen. So fand in den Büchern auch eine Art Dialog, eine zeitversetzte Diskussion der Besucher miteinander statt.

Das Thema der Ausstellung und der besondere Ort, an dem sich die vox populi niederschlug, spielten sicher eine besondere Rolle für das Hervorbringen so vieler und vor allem so vielfältiger und divergierender Meinungsbekundungen: Die Ausstellung stellte in einem kulturhistorischen Rahmen dar, welche wichtigen Lebensabschnitte und -zäsuren in Deutschland zwischen 1900 und 1993 vorzufinden sind und wie sie sich mit den Veränderungen von Gesellschaft und Kultur gewandelt haben. Lebensstationen wurden dabei verstanden als individuell wie kollektiv wichtige Ereignisse, die einen Einschnitt in der Biographie darstellen und den Übergang von einem Lebensabschnitt in einen anderen markieren. Dazu zählen Taufe, Kommunion/Konfirmation und Heirat ebenso wie etwa die Mitgliedschaft in einer (staatlichen) Jugendorganisation, der Eintritt ins Berufsleben, die Absolvierung des Wehrdienstes oder der Übergang ins Rentenalter. Thema der Ausstellung war also, wie sich die Struktur eines individuellen Lebens, seine Abschnitte und Einschnitte, mit dem gesellschaftlichen Wandel im 20. Jahrhundert auch gewandelt haben.

So war das Ausstellungsthema keines, das dem Besucher äußerlich geblieben wäre; die eigene Biographie und das eigene Leben kamen sehr schnell mit ins Spiel. Hinzu kommt, daß fast die Hälfte der Ausstellung sich mit der unterschiedlichen Entwicklung der Lebenssituation in Deutschland-Ost und Deutschland-West nach 1945 befaßte. Parallel zueinander verliefen die Abteilungen "DDR" und "Bundesrepublik Deutschland", und zwischen ihnen befand sich eine Mauer - eine begehbare allerdings. Von ihr aus konnten die Besucher zugleich auf beide "Deutschlands" blicken und sie unmittelbar vergleichen. Was sahen sie von dieser Brücke aus? Auf der einen, der DDR-Seite, gab es eine streng und geradlinig angelegte Ausstellungsarchitektur, die einen gelenkten Lebenslauf vorstellte, dessen einzelne Stationen sich gleichförmig reihten, während auf der anderen, der bundesrepublikanischen Seite, die einzelnen Lebensstationen ein Labyrinth mit vielen Ein- und Ausgängen bildeten. Die Architektur stellte also mit den ihr eigenen (visuellen) Mitteln zwei stark differente Lebenskonzeptionen dar: das straff geregelte Leben von der Kinderkrippe bis zum "Feierabendheim" auf der einen Seite, auf der anderen das "ganz normale Chaos" ohne starre Abfolge und mit fließenden Übergängen.
Innerhalb dieser kontrastiven Architektur waren die Besucherbücher von uns an zentraler Stelle platziert worden, nämlich auf der Brücke mit Blick auf die Ausstellungsabschnitte "Deutsche Demokratische Republik" und "Bundesrepublik Deutschland". Unter der Themenstellung "Und heute - 1993?" forderten wir die Besucher auf, sich ins Verhältnis zu setzen nicht nur zu dem, was sie in der Ausstellung gesehen hatten, sondern darüber hinaus auch zur Situation in Deutschland nach der
,Wende`.

 
           
 
 
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