VII. Bilanzen: Besucher
thematisieren die Besucherbücher
Die Besucherbücher forderten nicht
nur zum Streit untereinander heraus, zum Dialog und zum gemeinsamen
Weiterdenken, sondern sie wurden von den Besuchern selbst zum
Gegenstand ihrer Analysen gemacht. So beklagt eine junge Frau
aus Westdeutschland die in den Niederschriften sich ausdrückende
Stimmung in der ehemaligen DDR - wo sei die Freude über die
neuen politischen Rechte und Freiheiten geblieben? "Wo sind
die Menschen, die sich so sehr die freie Meinungsäußerung
und Reisefreiheit gewünscht hatten? Freut sich denn keiner
von ihnen über den Mauerfall? Warum nur Klagen?" (3:
25.11. 93, junge w, Westdeutschland) Jemand hat darunter geschrieben:
"Pressefreiheit für Arbeitslose im Osten?"
Die Prioritäten der Wahrnehmung und
Bewertung der Gegenwart sind andere geworden. Die Erlangung politischer
Freiheiten im Osten ist in den Besucherbüchern von östlicher
Seite kaum ein Thema. Der aufmerksame Leser der Bücher wird
feststellen, daß die Reisefreiheit, die freie Meinungsäußerung
und freie Wahlen nicht thematisiert werden. Erst die Erinnerung
macht die Differenz in den allgemeinen Bürgerrechten wieder
sichtbar. Denkt man an die Bilder und Stimmungen von 1989/90 zurück,
so stellt man fest, wieviel sich geändert hat. Keine Rede
ist mehr vom Glück, dem Westen zuzugehören, von Freiheit,
Reisemöglichkeiten etc. Das Gewonnene - weil jetzt selbstverständlich
- wird nicht thematisiert, das Verlorene - Geborgenheit, Kontinuität,
soziale Sicherheit - deutlich herausgestrichen. Das ist insofern
durchaus verständlich, als es gerade die Verluste sind, die
den Alltag dominieren: Die Arbeitslosigkeit sowie das Verschwinden
der gewohnten sozialen Bezüge und Lebensformen werden täglich
neu und schmerzhaft erfahren. Das können die gewonnene Reisefreiheit
und die - in den letzten Monaten der DDR-Gesellschaft allenthalben
schon um sich greifende - individuelle Meinungsoffenheit nicht
kompensieren.
Diese Haltung bleibt natürlich nicht
ohne Kommentar und Widerspruch - insbesondere seitens der Besucher
aus dem Westen. Den Verlustäußerungen setzt eine jugendliche
Schreiberin aus Jever in Ostfriesland deutlich entgegen: "Ich
habe mir gerade mal ein paar Seiten durchgelesen. Und muß
feststellen: Hört endlich auf zu meckern!! Ist Freiheit nicht
mehr wert als alles andere?? Aller Anfang ist schwer, auch dieser,
aber es kann nur aufwärts gehen, wenn jeder was dafür
tut, und da sollte man vielleicht mal bei sich anfangen und nicht
immer auf die anderen warten." (7: 20.05. 93, junge w, Westdeutschland)
Ähnlich urteilen "zwei Mindener":
"Am 9. November 1989 haben wir vor Freude über die Entwicklung
- Untergang des ,realexistierenden Sozialismus` - geweint. Heute
- nach ca. dreieinhalb Jahren - sind wir nachdenklich über
alles, was sich verändert hat! Wer wollte denn die Freiheit
haben? Wir hatten sie!" (3: 31. 07. 93, m/w?, Westdeutschland)
Ein Stuttgarter schreibt, er "vermisse bei den vielen Zuschriften
in diesem Buch die Gedanken aus der Unfreiheit und Gängelei
in die Freiheit nach so vielen Jahren. Bin selbst vor über
40 Jahren geflüchtet, und wir haben alles, Haus, Hof und
Besitz, zurückgelassen, um diesem Regime zu entgehen und
um der Freiheit willen. Diese Eindrücke vermisse ich hier."
(4: 26.08. 93, m?, Stuttgart)
Auch im Bilanzieren des Gelesenen bleibt
der geradezu hilflose Versuch der Besucher evident, gegen die
alltäglichen Nöte und permanent erfahrbaren Brüche
in der Biographie der neuen Bundesbürger einen eher abstrakt
bleibenden Gewinn zu setzen. Das Unterfangen, die gewonnene "Freiheit"
in eine individuelle Bilanz einbringen zu wollen, kann nur schiefgehen.
Denn in vielen Fällen wird eben diese Freiheit heute als
etwas, was nie vermißt wurde, deklariert. Die Struktur der
Argumentation in den uns vorliegenden Texten, die auf die Besuchereinträge
in den Besucherbüchern selbst reflektieren, entspricht etwa
der im "Ossi-Wessi-Streit": In den Blick gerät
hier wie dort nicht das konkrete Individuum, sondern das Kollektiv
oder das abstrakte Individuum. Was fehlt, ist der Vorschlag, auch
hier - im Gefolge einer kommunitaristischen Idee etwa - gemeinsam
nach der Verwirklichung von Freiheit zu streben.
Eine Ausnahme
bieten die Besucherbücher freilich auch hier. Unter der Überschrift
"Kleine Anekdote" ist von einem Besucher aus Essen/Berlin
(3: 14.11.93, m, Westdeutschland) zu lesen: "An einem grauen
Novembertag bin ich nun hier gewesen, beeindruckt von der guten
Darstellung unserer Geschichte, der Geschichte der Menschen in
Deutschland. ,Wie geht es weiter?` - und leider doch überkommt
mich das Gefühl der Leere, fast schon Resignation, wenn ich
hier die Kommentare lese. Hat da wirklich ,jemand die Fenster
aufgestoßen, nach den Jahren der geistigen Stagnation` (Stefan
Heym 4.11.89 auf dem Alex) oder dümpeln wir immer tiefer
in einem Mief, gleichermaßen in Ost und West, aus dem unsere
Kinder nicht nach oben sehen können. Die Ideale, die ihr
Erwachsenen fast alle nicht erlebt, kennt die Jugend kaum noch.
Deutschland im Herbst 93 - ein Trauerspiel. ,Und ich glaube und
hoffe doch auf uns. Und wäre ich am Ende, erreicht habe nichts
als einen Anfang von vorn!` (frei nach W. Biermann)."