IV.
Im Wechselbad von verbalen Schlachten und Anteilnahme
"Man sollte die Mauer wieder errichten,
um uns (Wessis) vor Euch (Ossis) zu schützen, da ihr (Ossis)
eine Gefährdung für die Allgemeinheit darstellt",
schreibt ein Besucher aus den alten Bundesländern im Sommer
1993 in eines der Bücher. Ein folgender Besucher strich den
Eintrag durch, ein weiterer schrieb über den durchgestrichenen
Eintrag: "Zensur" und ein anderer: "Hornochsen".
Zwei weitere Einträge folgen:
"Werdet endlich erwachsen, tut uns
den Gefallen, wir Ossis sind doch gar nicht so schlimm."
"Alle, die dieser Meinung (bezieht
sich auf den ersten Text) sind, sind Schwachköpfe. Wenn Eure
Eltern; Großeltern oder Verwandten damals auf der Ostseite
gewesen wären, wärt Ihr heute auch ,Ossis'." (9:
19./20. 07. 93)
Beschimpfungen, Versuche, den anderen (östlichen)
Deutschen zum Deutschen "zweiter Klasse" zu stempeln,
sind kein Einzelfall. In einem Besucherbuch findet sich im Sommer
1993 der Eintrag: "Ich finde es schade, daß die Mauer
weg ist. Vorher gab es wenigstens Arbeit und eine gesicherte Existenz!
Der Preis für die sog. Freiheit ist zu hoch!" Unflätig
setzt ein folgender Besucher darunter: "Du Arschloch, ohne
uns wärst Du doch verreckt!", und ein dritter ergänzt:
"Oder Du Arschloch!" Ein vierter fügt hinzu: "Wer
Arbeit will, auch Arbeit kriegt!" (13: Juli 93)
Es folgen "Dialoge" wie: "Kohls
Aussage ,keinem wird es schlechter gehen' - das Gegenteil ist
ja wohl jetzt nach drei Jahren ,Einheit` bewiesen!"
"Wenn Euch Ossis die 40 Jahre mit der
Mauer so gut gefallen haben, könnt Ihr sie ja jetzt wieder
aufbauen."
"Sie steht im Kopf."
"Natürlich ist es besser geworden,
jedenfalls für uns ,Ossis`, leider nicht für alle."
"Wenn man im Vergleich DDR-BRD nicht sehen kann, daß
auf jeden Fall eine Besserung eingetreten ist, ist man wohl mit
Blindheit geschlagen."
"Ein Blinder" (6: 12./13. 10.
93)
Werden in der Erinnerung an die DDR die
Arbeit für alle und das staatlich garantierte Auskommen hochgehalten,
so lautet im Gegenzug der Vorwurf, es habe keine Freiheit gegeben.
Auf diese wollen aber andere, aus dem Osten, dann wieder gerne
verzichten. Sehen die einen mit dem Einzug westlicher Mentalität
Raff- und Geldgier um sich greifen, so verweisen die anderen auf
die beschränkten Konsummöglichkeiten in der DDR. An
diesen deutsch-deutschen Schmähungen wird deutlich, daß
fundamentale Orientierungsgrößen des Westens, nämlich
Freiheit, individuelle Leistung und Konsummöglichkeiten,
nach dem Fall der Mauer ihre Attraktivität für viele
der neuen Bundesbürger offensichtlich eingebüßt
haben. Das Ende der gewohnten Lebensverhältnisse erscheint
- trotz in vielen Fällen gestiegener finanzieller Möglichkeiten
, trotz politischer Freiheit, Reise- und Konsumangeboten - als
Verlust, da es die Entwertung der bisherigen Lebensumstände
bedeutet. Vier Jahre nach der Wende werden von einem Teil der
Ausstellungsbesucher aus der ehemaligen DDR die ehemaligen grundlegenden
Orientierungsgrößen des Ostens - soziale Sicherheit,
Kollektivität, beschränkte Märkte - wieder favorisiert.
V. Entfremdungen: Die alten
und die neuen Bundesbürger
Groß ist auf östlicher wie auf
westlicher Seite oftmals das Erstaunen angesichts der Fremdheit
bei der Deutschlands: "Die Unterschiede im Verhalten von
,Ossis` und ,Wessis` sind - bedingt durch den unterschiedlichen
,Hintergrund` (Erziehung, gesellschaftliche Verhältnisse
usw.) - größer, als ich erst dachte." (13: 09.09.93,
m, Ostdeutschland) Das Gefühl, mit den "anderen Deutschen"
Fremden gegenüberzustehen, spricht aus allen Besucherbüchern:
"Der Besuch dieser Ausstellung hat mich in meiner Ansicht
bestätigt, daß die deutsche Einheit gerade noch früh
genug zustande kam. Ein paar Jahre später wären Menschen
an der Regierung, die sich aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung
in Ost und West so weit voneinander entfernt haben, daß
sie die Einheit gar nicht mehr wollen." (9: 12.07. 93, w?,
59 J., Münster/Westf.) Und nicht nur die Regierungen, sondern
auch viele Menschen hätten dann sicher nicht mehr die Einheit
gewollt, vermutet mancher Besucher.
Besucher aus Ost und West haben das Gefühl,
von der Wiedervereinigung überrollt worden zu sein. Man traf
nur in der kurzen Zeit der Massenflucht aus der DDR und in der
Phase unmittelbar nach der Maueröffnung auf die "Brüder
und Schwestern" - hüben wie drüben. Nachdem die
erste Euphorie verflogen war, stellte man fest, wie sehr man einander
fremd ist, wie sehr mithin die Geschwistermetapher eine Phrase
war bzw. wie schnell sie es wurde: "Die sogenannte Wiedervereinigung
verlief in vielen Bereichen sehr unklug und ohne jegliches Einfühlungsvermögen
für das Fremdsein und Anderssein der anderen. Diese Fehler
haben tiefe Wunden bei den Ostdeutschen hinterlassen (z. B. Identitätsverlust,
mangelndes Selbstwertgefühl usw.)." (7: 11.06. 93, w,
Berlin-Steglitz)
Während in den Besucherbüchern
sehr wenig Material für die allenthalben kursierende Imagination
zu finden ist, "der Ostdeutsche eigne(t) sich hervorragend
zum ,häßlichen Deutschen`", womit er dem Westdeutschen
als "Projektionswand" für den "nie versiegenden
deutschen Selbsthaß" diene , findet sich doch bestätigt,
daß "die deutsch-deutschen Vereinigungsturbulenzen
... die Abstände zwischen den Menschen . . . eher vergrößert",
zumindest aber kaum verändert haben. Ein junger Mann aus
dem "Zonenrandgebiet" schildert sein Verhältnis
zur DDR folgendermaßen:
"Ich bin in der Nähe der ehemaligen
Grenze zur DDR aufgewachsen. Für mich war am Zaun ein Teil
der Welt zu Ende, und ein neuer (anderer) Teil begann dahinter.
Einen Bezug zu der anderen Seite hatte ich nicht. Eigentlich ging
es mir damals nicht anders als den meisten Menschen. Eigentlich
ist dies auch nach der Grenzöffnung so geblieben." (7:
Juli 93) Für diesen jungen Besucher ist mit 1989 zwar die
äußere Mauer gefallen, nicht aber die Fremdheit gewichen.
Sie ist in bezug auf das andere Deutschland und seine Bewohner
geblieben. Und seine Reiseaktivitäten haben ihn (in östlicher
Richtung) nicht weiter geführt als vor der Grenzöffnung.
Wen wundert es in Anbetracht der deutlich werdenden Differenzen,
wenn manchmal schon Stimmen laut werden, daß man es hier
mit einem Fall für eine "psychologische Friedensforschung"
im Rahmen der Begegnung mit einer fremden Kultur zu tun habe?
Jedenfalls sieht es Leo Ensel so: "Wenn das Aufeinanderprallen
von Westdeutschen und Ostdeutschen nicht die Herausforderung an
die vielzitierte multikulturelle Gesellschaft ist, dann weiß
ich nicht, was das Wort bedeuten soll!"
Die Fremdheit
scheint sich auch durch die Massenmedien oder die Imagination
vom wiedervereinigten Deutschland nicht problemlos reduzieren
zu lassen, bleibt doch bis in die jüngsten sozialwissenschaftlichen
Erhebungen und sozialpsychologischen Studien hinein - trotz aller
massenmedialen Appelle zum Zusammenwachsen - die mentale Differenz
deutlich sichtbar und wird vermutlich dadurch noch zusätzlich
forciert. Denn die Differenz zum anderen tendenziell abzulegen,
die Fremdheit zu reduzieren, setzt ja schon voraus, daß
es eine übergeordnete Einheit gibt, deren Vollzug noch aussteht.
Diese übergeordnete Einheit müßte aber anders
aussehen als die Kopie des Westens, die im Osten zum Original
erklärt wird (so jedenfalls die Besucher). Niemand würde
wohl derart massiv von Fremdheit sprechen, wenn es um die Nachbarn
der Europäischen Union ginge, wie es derzeit innerhalb Deutschlands
geschieht.