Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Bericht zur (mentalen) Lage der Nation
Was die Besucher einer Berliner Ausstellung über die deutsch-deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken
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Teil 4 Teil 5 Teil 6

Katalog

Vorwort
Einführung

Deutschland um 1900

DDR
BRD


Aufsätze



Ausstellungsarchitektur



Besucherreaktionen

Aus Politk und Zeitgeschichte


Virtueller Spaziergang



Ausstellungsgrundriss



Weitere Informationen


 

IV. Im Wechselbad von verbalen Schlachten und Anteilnahme

"Man sollte die Mauer wieder errichten, um uns (Wessis) vor Euch (Ossis) zu schützen, da ihr (Ossis) eine Gefährdung für die Allgemeinheit darstellt", schreibt ein Besucher aus den alten Bundesländern im Sommer 1993 in eines der Bücher. Ein folgender Besucher strich den Eintrag durch, ein weiterer schrieb über den durchgestrichenen Eintrag: "Zensur" und ein anderer: "Hornochsen". Zwei weitere Einträge folgen:

"Werdet endlich erwachsen, tut uns den Gefallen, wir Ossis sind doch gar nicht so schlimm."

"Alle, die dieser Meinung (bezieht sich auf den ersten Text) sind, sind Schwachköpfe. Wenn Eure Eltern; Großeltern oder Verwandten damals auf der Ostseite gewesen wären, wärt Ihr heute auch ,Ossis'." (9: 19./20. 07. 93)

Beschimpfungen, Versuche, den anderen (östlichen) Deutschen zum Deutschen "zweiter Klasse" zu stempeln, sind kein Einzelfall. In einem Besucherbuch findet sich im Sommer 1993 der Eintrag: "Ich finde es schade, daß die Mauer weg ist. Vorher gab es wenigstens Arbeit und eine gesicherte Existenz! Der Preis für die sog. Freiheit ist zu hoch!" Unflätig setzt ein folgender Besucher darunter: "Du Arschloch, ohne uns wärst Du doch verreckt!", und ein dritter ergänzt: "Oder Du Arschloch!" Ein vierter fügt hinzu: "Wer Arbeit will, auch Arbeit kriegt!" (13: Juli 93)

Es folgen "Dialoge" wie: "Kohls Aussage ,keinem wird es schlechter gehen' - das Gegenteil ist ja wohl jetzt nach drei Jahren ,Einheit` bewiesen!"

"Wenn Euch Ossis die 40 Jahre mit der Mauer so gut gefallen haben, könnt Ihr sie ja jetzt wieder aufbauen."

"Sie steht im Kopf."

"Natürlich ist es besser geworden, jedenfalls für uns ,Ossis`, leider nicht für alle."
"Wenn man im Vergleich DDR-BRD nicht sehen kann, daß auf jeden Fall eine Besserung eingetreten ist, ist man wohl mit Blindheit geschlagen."

"Ein Blinder" (6: 12./13. 10. 93)

Werden in der Erinnerung an die DDR die Arbeit für alle und das staatlich garantierte Auskommen hochgehalten, so lautet im Gegenzug der Vorwurf, es habe keine Freiheit gegeben. Auf diese wollen aber andere, aus dem Osten, dann wieder gerne verzichten. Sehen die einen mit dem Einzug westlicher Mentalität Raff- und Geldgier um sich greifen, so verweisen die anderen auf die beschränkten Konsummöglichkeiten in der DDR. An diesen deutsch-deutschen Schmähungen wird deutlich, daß fundamentale Orientierungsgrößen des Westens, nämlich Freiheit, individuelle Leistung und Konsummöglichkeiten, nach dem Fall der Mauer ihre Attraktivität für viele der neuen Bundesbürger offensichtlich eingebüßt haben. Das Ende der gewohnten Lebensverhältnisse erscheint - trotz in vielen Fällen gestiegener finanzieller Möglichkeiten , trotz politischer Freiheit, Reise- und Konsumangeboten - als Verlust, da es die Entwertung der bisherigen Lebensumstände bedeutet. Vier Jahre nach der Wende werden von einem Teil der Ausstellungsbesucher aus der ehemaligen DDR die ehemaligen grundlegenden Orientierungsgrößen des Ostens - soziale Sicherheit, Kollektivität, beschränkte Märkte - wieder favorisiert.

V. Entfremdungen: Die alten und die neuen Bundesbürger

Groß ist auf östlicher wie auf westlicher Seite oftmals das Erstaunen angesichts der Fremdheit bei der Deutschlands: "Die Unterschiede im Verhalten von ,Ossis` und ,Wessis` sind - bedingt durch den unterschiedlichen ,Hintergrund` (Erziehung, gesellschaftliche Verhältnisse usw.) - größer, als ich erst dachte." (13: 09.09.93, m, Ostdeutschland) Das Gefühl, mit den "anderen Deutschen" Fremden gegenüberzustehen, spricht aus allen Besucherbüchern: "Der Besuch dieser Ausstellung hat mich in meiner Ansicht bestätigt, daß die deutsche Einheit gerade noch früh genug zustande kam. Ein paar Jahre später wären Menschen an der Regierung, die sich aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung in Ost und West so weit voneinander entfernt haben, daß sie die Einheit gar nicht mehr wollen." (9: 12.07. 93, w?, 59 J., Münster/Westf.) Und nicht nur die Regierungen, sondern auch viele Menschen hätten dann sicher nicht mehr die Einheit gewollt, vermutet mancher Besucher.

Besucher aus Ost und West haben das Gefühl, von der Wiedervereinigung überrollt worden zu sein. Man traf nur in der kurzen Zeit der Massenflucht aus der DDR und in der Phase unmittelbar nach der Maueröffnung auf die "Brüder und Schwestern" - hüben wie drüben. Nachdem die erste Euphorie verflogen war, stellte man fest, wie sehr man einander fremd ist, wie sehr mithin die Geschwistermetapher eine Phrase war bzw. wie schnell sie es wurde: "Die sogenannte Wiedervereinigung verlief in vielen Bereichen sehr unklug und ohne jegliches Einfühlungsvermögen für das Fremdsein und Anderssein der anderen. Diese Fehler haben tiefe Wunden bei den Ostdeutschen hinterlassen (z. B. Identitätsverlust, mangelndes Selbstwertgefühl usw.)." (7: 11.06. 93, w, Berlin-Steglitz)

Während in den Besucherbüchern sehr wenig Material für die allenthalben kursierende Imagination zu finden ist, "der Ostdeutsche eigne(t) sich hervorragend zum ,häßlichen Deutschen`", womit er dem Westdeutschen als "Projektionswand" für den "nie versiegenden deutschen Selbsthaß" diene , findet sich doch bestätigt, daß "die deutsch-deutschen Vereinigungsturbulenzen ... die Abstände zwischen den Menschen . . . eher vergrößert", zumindest aber kaum verändert haben. Ein junger Mann aus dem "Zonenrandgebiet" schildert sein Verhältnis zur DDR folgendermaßen:

"Ich bin in der Nähe der ehemaligen Grenze zur DDR aufgewachsen. Für mich war am Zaun ein Teil der Welt zu Ende, und ein neuer (anderer) Teil begann dahinter. Einen Bezug zu der anderen Seite hatte ich nicht. Eigentlich ging es mir damals nicht anders als den meisten Menschen. Eigentlich ist dies auch nach der Grenzöffnung so geblieben." (7: Juli 93) Für diesen jungen Besucher ist mit 1989 zwar die äußere Mauer gefallen, nicht aber die Fremdheit gewichen. Sie ist in bezug auf das andere Deutschland und seine Bewohner geblieben. Und seine Reiseaktivitäten haben ihn (in östlicher Richtung) nicht weiter geführt als vor der Grenzöffnung. Wen wundert es in Anbetracht der deutlich werdenden Differenzen, wenn manchmal schon Stimmen laut werden, daß man es hier mit einem Fall für eine "psychologische Friedensforschung" im Rahmen der Begegnung mit einer fremden Kultur zu tun habe? Jedenfalls sieht es Leo Ensel so: "Wenn das Aufeinanderprallen von Westdeutschen und Ostdeutschen nicht die Herausforderung an die vielzitierte multikulturelle Gesellschaft ist, dann weiß ich nicht, was das Wort bedeuten soll!"

Die Fremdheit scheint sich auch durch die Massenmedien oder die Imagination vom wiedervereinigten Deutschland nicht problemlos reduzieren zu lassen, bleibt doch bis in die jüngsten sozialwissenschaftlichen Erhebungen und sozialpsychologischen Studien hinein - trotz aller massenmedialen Appelle zum Zusammenwachsen - die mentale Differenz deutlich sichtbar und wird vermutlich dadurch noch zusätzlich forciert. Denn die Differenz zum anderen tendenziell abzulegen, die Fremdheit zu reduzieren, setzt ja schon voraus, daß es eine übergeordnete Einheit gibt, deren Vollzug noch aussteht. Diese übergeordnete Einheit müßte aber anders aussehen als die Kopie des Westens, die im Osten zum Original erklärt wird (so jedenfalls die Besucher). Niemand würde wohl derart massiv von Fremdheit sprechen, wenn es um die Nachbarn der Europäischen Union ginge, wie es derzeit innerhalb Deutschlands geschieht.

 
           
 
 
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