II. Selektive Erinnerung:
Der staatlich verordnete Lebensweg in der DDR und die individuelle
Biographie
Was hatte uns überhaupt bewogen, die
Darstellung der Lebensstationen in Ost und West so hart zu kontrastieren?
Ausschlaggebend waren, über die unmittelbaren Eindrücke
und Erfahrungen im deutsch-deutschen Alltag hinaus, die Erkenntnisse
der Sozialwissenschaften. Schon ein erster Blick auf rein quantitative
Werte lehrt die Einsicht, daß der Lebensweg in der DDR im
allgemeinen auf festen Gleisen verlief. 80 Prozent der Säuglinge
kamen in die Krippe, 98 Prozent der Kinder wurden mit der Einschulung
"Junge Pioniere". Es folgten die Freie Deutsche Jugend
(FDJ), der rund drei Viertel aller Jugendlichen beitraten, und
der "Überführungsritus" der Jugendweihe, an
der 98 Prozent aller Vierzehnjährigen teilnahmen. Die Phase
der Bildung und Ausbildung unterlag einem strikten Zeitplan (J.
Zinnecker spricht hier vom "selektiven Moratorium" ),
und der Übergang ins Arbeitssystem war weitgehend vorgeplant.
Dementsprechend blieb den Jugendlichen in der stärker reglementierten
und auch auf sozio-kulturellem Gebiet durch einen "Modernisierungsrückstand"
charakterisierten DDR wenig Raum oder Zeit für Reifungskrisen
und für die Identitätssuche. Der Übergang ins Berufsleben
vollzog sich zumeist prompt, und der Arbeitsplatz wurde zu einer
Art Heimat. Während einer Psychotherapie-Tagung 1993 in Potsdam
fiel folgerichtig das Wort von der "Verkrippung der DDR",
und es bezog sich nicht nur auf die fast "flächendeckende"
sozialistische Krippenerziehung der Kleinkinder. "Wir wurden
ja immer ans Händchen genommen, das ganze Leben lang",
sagte eine Ärztin aus dem Plenum.
Ein anderes Ergebnis legen die Befunde der
Sozialwissenschaften bezogen auf den Westen nahe. Hier ist die
Bildungszeit offener und durch ungeplante Verlängerungen
gekennzeichnet. Der Übergang ins Berufsleben ist wenig geregelt,
und durch einen lockeren Zeitplan kommt es häufig zu einer
Verzögerung dieser Statuspassage. Charakteristisch für
den "westlichen Lebensweg" ist, daß der Zeitpunkt
der Gründung einer eigenen Familie zumeist hinausgeschoben
wird und daß die gewonnene Zeit zur Erprobung von Partnerschaften)
und Sexualität verwandt wird. Demgegenüber fand im Osten
die Ablösung von der Herkunftsfamilie durch die frühe
Neugründung einer eigenen Familie statt; eine "Probephase"
entfiel zumeist. 1981 lag das durchschnittliche Heiratsalter für
Frauen bei 23 Jahren (I971 sogar bei 21 Jahren); nur wenige heirateten
- anders als im Westen - jenseits der dreißig zum ersten
Mal . Es ist nur folgerichtig, daß die meisten Frauen ihre
Kinder zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr zur Welt brachten.
Danach war, in den Termini der Demographen, die "generative
Phase" im allgemeinen abgeschlossen.
Der Übergang ins Erwachsenenalter und
die Annäherung an den Status der eigenen Eltern vollzogen
sich in der DDR also sehr viel schneller als in der Bundesrepublik.
Fazit: Die Lebenswege unterschieden sich in Ost und West hinsichtlich
der Vorgaben, der Verbindlichkeit und der Steuerung durch überindividuelle
Faktoren grundlegend.
Auffällig ist nun, daß nur wenige
Besucher aus dem Westen sich mit der Gegenüberstellung der
Lebenswege auseinandersetzten. Eine der wenigen Äußerungen
lautete: "Gegenseitiges Kennenlernen ist zum gegenseitigen
Verständnis wichtig. Dazu trägt diese Ausstellung bei!"
(7: 11. 06. 93, w, Berlin-Steglitz)
Der geradlinige, verordnete Lebensweg in der DDR wurde dagegen
von den meisten Besuchern aus den neuem Bundesländern als
ein Spiegel betrachtet - ein Spiegel, in dem auch sie und ihre
Biographie sichtbar wurden. Die je individuelle Biographie in
diesem Spiegel sehen zu müssen, war für viele nur schwer
erträglich: "Wir haben nicht nur strammgestanden und
das FDJ-Hemd getragen" (6: 5.8.95, m, Ostdeutschland), so
und ähnlich lauteten etliche Einträge. In den Nischen
der Gesellschaft aber hätten viele ihr Auskommen und ihre
Zufriedenheit gefunden, das war oft die Selbst- und Fremddeutung:
"Ich war in der DDR trotz allem, was man im nachhinein als
organisiert und manchmal auch stumpfsinnig bezeichnen möchte,
glücklich. Glücklich, weil ich kein ,Held` war, weil
ich oft meine Klappe hielt und die Nischen fand, die ich für
mich suchte." (3: 13. 11. 93, m, Wittenberge)
Die ehemaligen DDR-Bürger insistierten
darauf, den offiziellen, verordneten Teil ihres Lebens, die ,Rahmung`
sozusagen, als den nicht-eigentlichen, nicht-authentischen Part
beiseite zu lassen. Insofern diente die Ausstellung mit den jeweils
schematisierten Lebensläufen Ost- und Westdeutscher auch
als Feld, das Distanzierungen von einer spezifischen Form der
Analyse und Betrachtung von Vergangenheit, einer an den Strukturen
orientierten Geschichtsschreibung, provozierte.