Aufriß
Elsa K. machte ihrem Unmut Luft: "Die
Ossis müssen erst einmal das Leben im Kapitalismus lernen,
die können ja nicht mal richtig arbeiten." Der sozialistische
Konter folgte: "Seit die Grenzen offen sind, ist alles teuer,
und die Drogen sind rübergekommen. Ich hätte lieber
Honecker wieder anstatt Kohl." Stimmen aus Deutschland vier
Jahre nach dem Mauerfall - der Ort des Schlagabtausches: das Deutsche
Historische Museum im Zeughaus Unter den Linden. In den Gästebüchern
der Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland 1900 bis
1993" sagten die Besucher, was sie voneinander halten.
Diese Äußerungen sind ein Gradmesser für die deutsch-deutschen
Befindlichkeiten im dritten Jahr nach der Wiedervereinigung. Die
Gesamtzahl der während der zehnmonatigen Laufzeit der Ausstellung
zusammengekommenen Besucheräußerungen beträgt
rund 7500. Davon waren rund 80 Prozent auswertbar, so daß
als Datenbasis etwa 6000 Besuchereinträge genutzt wurden.
Die Auswertung erfolgte hier primär nach qualitativen Gesichtspunkten:
Es wurden inhaltliche Schwerpunkte ermittelt, die die hauptsächlichen
Meinungsströme und -richtungen wiedergeben. Den im folgenden
dargestellten Schwerpunkten konnten rund drei Viertel der ausgewerteten
Äußerungen zugeordnet werden:
- Retrospektive ostdeutscher Besucher auf
die eigene Biographie in der DDR (Kap. 3)
- Schlagabtausch und Versöhnungsappelle
zwischen Deutschen-Ost und -West (Kap. 4)
- Deutsch-deutsche Begegnungen als Begegnungen
von Entfremdeten (Kap. 5)
- Ansichten zur Zukunft (Kap. 6)
Um die Entstehungsbedingungen der Besucheräußerungen
transparent zu machen, sei jedoch zunächst mehr über
die Ausstellung, ihre Fragestellungen und ihre Zielsetzung gesagt.
(Kap. 1 u. 2)
1. Zur Ausstellung
Die Ausstellung "Lebensstationen in
Deutschland 1900 bis 1993", gezeigt von März bis Dezember
1993 , unterschied sich in mehrfacher Hinsicht vom üblichen
Spektrum historischer Ausstellungen, denn sie thematisierte nicht
allein die Vergangenheit. Vielmehr standen auch Fragen und Probleme
der deutsch-deutschen Gegenwart im Zentrum. In einem kulturhistorischen
Rahmen stellte die Ausstellung dar, welche wichtigen Lebensabschnitte
und -zäsuren in Deutschland zwischen 1900 und 1993 vorzufinden
sind und wie sie sich mit den Veränderungen von Gesellschaft
und Kultur gewandelt haben. Lebensstationen wurden dabei verstanden
als individuell wie kollektiv wichtige Ereignisse, die einen Einschnitt
in der Biographie darstellen und den Übergang von einem Lebensabschnitt
in einen anderen markieren. Dazu zählen Taufe, Kommunion/Konfirmation
und Heirat ebenso wie etwa die Mitgliedschaft in einer (staatlichen)
Jugendorganisation, der Eintritt ins Berufsleben, die Absolvierung
des Wehrdienstes oder der Übergang ins Rentenalter. Sind
diese Einschnitte und Übergänge für den einzelnen
oft von großer Wichtigkeit und Bedeutung, so sind sie aus
gesellschaftlicher Perspektive selbstverständliche Routine,
weil die Stationen, seien sie nun religiöser oder säkularer
Natur, kollektiv geteilt werden. Thema der Ausstellung war also,
wie sich die Struktur eines individuellen Lebens, seine Abschnitte
und Einschnitte, mit dem gesellschaftlichen Wandel im 20. Jahrhundert
auch verändert haben.
Nahezu die Hälfte der Ausstellung befaßte
sich mit der unterschiedlichen Entwicklung der Lebensstationen
in Deutschland-Ost und Deutschland-West nach 1945. Die Abteilungen
"DDR" und "Bundesrepublik Deutschland" waren
räumlich parallel zueinander konzipiert, und zwischen ihnen
befand sich eine Mauer - eine begehbare allerdings. Von ihr aus
konnten die Besucher zugleich auf beide "Deutschlands"
blicken und sie unmittelbar vergleichen. Was sahen sie von dieser
Brücke aus? Auf der einen, der DDR-Seite, gab es eine streng
und geradlinig angelegte Ausstellungsarchitektur, die einen gelenkten
Lebenslauf vorstellte, dessen einzelne Stationen sich gleichförmig
reihten, während auf der anderen (bundesrepublikanischen)
Seite die einzelnen Lebensstationen ein Labyrinth mit vielen Ein-
und Ausgängen bildeten. Die Architektur visualisierte also
mit den ihr eigenen Mitteln der Darstellung zwei diametral entgegengesetzte
Lebenskonzeptionen: Das straff geregelte Leben von der Kinderkrippe
bis zum "Feierabendheim" auf der einen Seite, auf der
anderen das "ganz normale Chaos" ohne starre Abfolge
und mit fließenden Übergängen. Verstärkt
wurde der Kontrast zusätzlich durch die Farbgebung der Ausstellungsarchitektur:
Ein zurückhaltendes Gelb auf der einen, leuchtende Buntstiftfarben
auf der anderen Seite sollten die unterschiedlichen Erscheinungswelten
verdeutlichen.
Die Besucherbücher, die sehr schnell
zum nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Ausstellung avancierten,
waren von uns an zentraler Stelle platziert worden, nämlich
auf der bereits erwähnten Brücke mit Blick auf die Ausstellungsabschnitte
"Deutsche Demokratische Republik" und "Bundesrepublik
Deutschland". Unter der Überschrift "Und heute
1993?" war hier eine Situation in der Ausstellung geschaffen
worden, die die Besucher aufforderte, sich nicht nur zum in der
Ausstellung Gesehenen ins Verhältnis zu setzen, sondern darüber
hinaus auch zur Situation in Deutschland nach der 'Wende'.
Was lag der Entscheidung für die Entgegensetzung
der Lebensstationen in Ost und West zugrunde? Der Lebensweg, das
waren in der DDR im allgemeinen feste Gleise. 80 Prozent der Säuglinge
kamen in die Krippe, 98 Prozent der Kinder wurden schon mit der
Einschulung "Junge Pioniere". Es folgte die FDJ, der
rund drei Viertel aller Jugendlichen beitraten, und nach dem Einschnitt
durch die Jugendweihe, an der 98 Prozent aller 14jährigen
teilnahmen, der Betrieb. Er war oft das ganze Berufsleben lang
derselbe, und er wurde zu einer Art Heimat. Ein Wechsel des Arbeitsplatzes
galt als anrüchig; selbst für die Wissenschaftler an
den Hochschulen waren befristete Stellen die Ausnahme. Während
einer Psychotherapie-Tagung in Potsdam 1993 fiel folgerichtig
das Wort von der "Verkrippung der DDR", und es bezog
sich nicht nur auf die fast "flächendeckende" sozialistische
Krippenerziehung der Kleinkinder. "Wir wurden ja immer ans
Händchen genommen, das ganze Leben lang", sagte eine
Ärztin aus dem Plenum.
Im Westen dagegen ist, so die Befunde der
Sozialwissenschaften, die Bildungszeit offener und durch ungeplante
Verlängerungen gekennzeichnet. Der Übergang ins Berufsleben
ist wenig geregelt, und durch einen lockeren Zeitplan kommt es
häufig zu einer Verzögerung dieser Statuspassage. Im
Gegensatz hierzu unterlag die Verlängerung der Bildungszeit
in der stärker reglementierten Gesellschaft der DDR (J. Zinnecker
spricht hier vom "selektiven Moratorium") einem strikten
Zeitplan, und der Übergang ins Arbeitssystem war hochgradig
vorgeplant. Dementsprechend blieb in der durch einen "Modernisierungsrückstand"
auch auf sozio-kulturellem Gebiet charakterisierten DDR wenig
Raum für die Zeit der Jugend als eine Zeit von Reifungskrisen
und Identitätssuche.
Während im Westen der Zeitpunkt der
Gründung einer eigenen Familie zumeist hinausgeschoben wird
(von 1975 bis 1987 stieg das durchschnittliche Heiratsalter der
Männer von 25,3 auf 28 Jahre und das der Frauen von 22,7
auf 25,2 Jahre) und die gewonnene Zeit zur Erprobung von Partnerschaft(en)
und Sexualität verwandt wird, fand im Osten die Ablösung
von der Herkunftsfamilie durch die frühe Neugründung
einer eigenen Familie statt; eine "Probephase" entfiel
zumeist. 1981 lag das durchschnittliche Heiratsalter für
Frauen bei 23 Jahren (1971 sogar bei 21 Jahren); nur wenige heirateten
- anders als im Westen - jenseits der dreißig zum ersten
Mal. Dementsprechend brachten die meisten Frauen ihre Kinder zwischen
dem 20. und dem 25. Lebensjahr zur Welt. Danach war, in den Termini
der Demographie, die "generative Phase" im allgemeinen
abgeschlossen.
Der Übergang ins Erwachsenenalter und
die Annäherung an den Status der eigenen Eltern vollzog sich
in der DDR also sehr viel schneller und sehr viel häufiger
als in der Bundesrepublik. Man sieht, die Lebenswege unterschieden
sich in Ost und West hinsichtlich der Vorgaben, der Verbindlichkeit
und der Steuerung durch überindividuelle Faktoren fundamental.