Rosmarie Beier
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Deutsch-deutsche Befindlichkeiten -
Die Besucherbücher der Ausstellung "Lebensstationen in Deutschland" als Spiegel der mentalen Lage der Nation
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5. 1989-1993: Begegnungen unter Entfremdeten

In den gegenseitigen Beschimpfungen ist schon mittelbar deutlich geworden, was in manchen Statements und in vielen längeren Reflexionen der Ausstellungsgäste direkt angesprochen wird: Besucher aus Ost und West haben das Gefühl, von der Wiedervereinigung überrollt worden zu sein. Man traf nur in der kurzen Zeit der Massenflucht aus der DDR und in der Phase unmittelbar nach der Maueröffnung auf die "Brüder und Schwestern" hüben wie drüben. Nachdem die erste Euphorie verflogen war, stellte man fest, wie sehr man einander fremd ist, wie sehr mithin die Geschwistermetapher eine Phrase war bzw. wie schnell sie es zumindest wurde: "Die sogenannte Wiedervereinigung verlief in vielen Bereichen sehr unklug und ohne jegliches Einfühlungsvermögen für das Fremdsein und Anderssein der Anderen. Diese Fehler haben tiefe Wunden bei den Ostdeutschen hinterlassen (z. B. Identitätsverlust, mangelndes Selbstwertgefühl usw.)." (7: 11.6.93, w, Berlin-Steglitz)


"Was bleibt, ist eine große Hilflosigkeit des einzelnen. Die Unterschiede scheinen ganz und gar unüberwindlich; je jünger die Leute sind, um so mehr. Ich glaube wirklich, nur die nächsten Generationen könnten sich ost-westlich näherkommen. Was hilft aller guter Vorsatz - kein Mensch kann über seinen eigenen Schatten springen. Ich wünschte mir allerdings unterdessen etwas mehr Würde und Achtung im Umgang miteinander - nicht nur von Wessis gegen Ossis, sondern auch umgekehrt. Als Wessi in Ossiland habe ich die schlimmsten Ressentiments erlebt, die mir je begegnet sind - es scheint wirklich nicht anders zu gehen." (10: 19./21.6.93, m, Westdeutschland)


Während man in den Besucherbüchern sehr wenig Material für die allenthalben kursierende Imagination findet, "der Ostdeutsche eigne(t) sich hervorragend zum 'häßlichen Deutschen'", womit er dem Westdeutschen als "Projektionswand" für den "nie versiegenden deutschen Selbsthaß" diene, findet sich doch bestätigt, daß "die deutsch-deutschen Vereinigungsturbulenzen (. . .) die Abstände zwischen den Menschen (. . .) eher vergrößert", zumindest aber kaum verändert haben: "Als ich das erste Mal nach Ostberlin kam 1987, hielt ich es sage und schreibe ganze 3 Stunden aus. Fluchtartig verließ ich Ostberlin, war schockiert, frustriert und hatte eine Stinkwut im Bauch gegen die ganze DDR und alle Insassen (sic!). Heute halte ich es gut und gerne 3 Tage aus, ohne größere Probleme." (10. Juli 93, jugendlicher m, Frankfurt/M.) Was der junge Mann auf offene und auch etwas naive Art als einen persönlichen Fortschritt im Annäherungsprozeß beschreibt, nämlich daß er es in der ehemaligen DDR nun drei Tage statt drei Stunden "aushält", zeigt letztlich doch nur, daß man auch dem Fremden gegenüber einen Gewöhnungseffekt erzielen kann, daß die Fremdheit aber grundsätzlich vorhanden bleibt. Wen wundert es in Anbetracht der deutlich werdenden Differenzen, wenn manchmal schon Stimmen laut werden, daß man es hier mit einem echten Fall für eine "psychologische Friedensforschung" im Rahmen der Begegnung mit einer fremden Kultur zu tun habe? Jedenfalls sieht es L. Ensel so: "Wenn das Aufeinanderprallen von Westdeutschen und Ostdeutschen nicht die Herausforderung an die vielzitierte multikulturelle Gesellschaft ist, dann weiß ich nicht, was das Wort bedeuten soll!"


Die Fremdheit scheint sich auch durch die Massenmedien oder die Imagination vom wiedervereinigten Deutschland nicht problemlos reduzieren zu lassen, bleibt doch bis in die jüngsten sozialwissenschaftlichen Erhebungen und sozialpsychologischen Studien hinein trotz aller massenmedialen Appelle zum Zusammenwachsen - die mentale Differenz deutlich sichtbar und wird vermutlich dadurch noch zusätzlich forciert. Denn die Differenz zum anderen tendenziell abzulegen, die Fremdheit zu reduzieren, setzt ja schon voraus, daß es eine übergeordnete Einheit gibt, deren Vollzug noch aussteht. Diese übergeordnete Einheit müßte aber anders aussehen, als die Kopie des Westens im Osten zum Original zu erklären (so jedenfalls die Besucher, s.u. Punkt 6). Niemand würde wohl derart massiv von Fremdheit in bezug auf die anderen Nachbarn der Europäischen Union sprechen, wie es derzeit in Deutschland intern geschieht.


Nur wenige Bürger aus der ehemaligen DDR stellen das Ende ihres Staates auch als Chance für die eigene Entwicklung dar, die mit dem Fall der Mauer neue Perspektiven und Horizonte erhielt. Interessanterweise sind dann die Fremdheitserfahrungen nicht Anlaß zur Klage oder Irritation, sondern Ausgangspunkt für die Möglichkeit, sich eine neue, andere Welt zu erschließen. Es scheint, als habe die Schreiberin der folgenden Passage die Vorstellung von den zwei deutschen Staaten für sich in ihrer Biographie so umgesetzt, daß sie West-Berlin als anderes Land mit anderen als den eigenen mentalen Strukturen identifizieren kann. Sie absolviert quasi ein Auslandsstudium - und kann mit dieser Konstruktion im Kopf aus der neuen Situation für sich Gewinn schlagen:


"Ich wurde 1966 in der DDR geboren (. . .). In Leipzig studierte ich bis 1990 Geschichte und erlebte das, was als "Wende" in die Geschichte eingegangen ist, quasi hautnah mit. Heute studiere ich wieder, an der FUB, da mein DDR-Abschluß nicht anerkannt wurde. (. . .) Rückblickend kann ich heute von mir sagen, daß mir der Fall der Mauer und der Untergang der DDR neue Wege und Perspektiven eröffnet hat.(...) In Gesprächen mit Menschen aus Westdeutschland oder West-Berlin ist mir natürlich auch klar geworden, wie viele Unterschiede in Lebenserfahrung und Lebenslauf es gibt; ich verstehe diese Unterschiede als Chance zum Lernen, zum Verstehen, vorausgesetzt, daß die Menschen in Ost- wie Westdeutschland bereit sind, einander zuzuhören und die Meinung des anderen einfach einmal zuzulassen. Dann vielleicht kann etwas daraus werden, allerdings nur unter noch einer Voraussetzung und die heißt: Nicht Be-Wältigung, sondern Aufarbeitung der Geschichte, der von Nazi-Deutschland und der in der DDR. Dabei wären sicherlich auch Fragen an die Geschichte der Bundesrepublik zu stellen." (1: 14.10.93, w, Studentin der Judaistik)


Doch solch eine Haltung, die aus dem Ende des Gewohnten den Neubeginn der individuellen Entwicklung gewinnt, ist ebenso eine große Ausnahme wie der hier vorgebrachte Gedanke, nur über die Rekonstruktion der Geschichte Ost wie West ließe sich die Wiedervereinigung tatsächlich realisieren. Das der Psychoanalyse abgeschaute Modell: mit sich selbst ins reine kommen durch die Thematisierung der dethematisierten Aspekte in der eigenen und in der kollektiven Biographie, ist offensichtlich eher ein Anliegen der Intellektuellenszene als das der Ausstellungsbesucher. Die Diskrepanz zwischen der allenthalben in den Kulturzeitschriften und auf dem Büchermarkt eingeklagten Aufarbeitung der Vergangenheit und den Aufgaben, die in den Besucherbüchern als notwendig zu bewältigen deklariert werden, ist frappant. Vorherrschend sind Stimmungen und Wahrnehmungen, die sich in Empörung über erlittene Ungerechtigkeit artikulieren. Von der Geschichte betrogen worden zu sein, zufällig auf der falschen Seite gelebt zu haben, dies taucht als Muster der Vergangenheitsinterpretation bei der ersten Generation der in der DDR Geborenen häufig auf:


Viele Menschen hätten "heute noch nicht begriffen (. . .), daß uns der Kommunismus als Folge des Faschismus und des II. Weltkrieges aufgezwungen wurde. Ich bin 1946 geboren (in Deutschland), war niemals für ein kommunistisches System eingestellt, wurde also 40 Jahre unschuldig zum Kommunismus gezwungen. Gleichaltrige im Westen dagegen hatten die Wahl!" (9: 24.6.93, m, Ostdeutschland) Von ihnen fühlt sich der Schreiber schlecht behandelt: "Trotzdem fühlt man sich als Mensch II. Klasse durch das arrogante Verhalten vieler 'Wessis'. Heute würde ich auf eine Wiedervereinigung verzichten und wenn es mir schlechter gehen würde!" (Ebd.)


Auch bei einem anderen Schreiber aus der ehemaligen DDR mischen sich Ressentiments und Enttäuschung über Personen (und eben nicht über das Staats- und Wirtschaftssystem!) mit Wut und Enttäuschung: "Mai 1993 im Stolpe-Land - Ich fragte beim Schulamt nach Arbeit nach (ich hatte nie gekündigt!). Ich war Regimekritiker der DDR. Eine verschmitzt lächelnde Kreisschulrätin holte den Personalchef mit der Bemerkung "Ja, es ist der alte!" Tatsächlich, es war der alte Genosse Kaderleiter! Welche Chance ich dann hatte - dazu keine Äußerung als Regimekritiker der DDR!" (9: 7.7.93, m, Ostdeutschland)


Die Kränkungen, seien sie nun durch die neuen Kollegen aus dem Westen oder das Westpersonal in Behörden und Ämtern erfahren, werden noch schmerzhafter dort erlebt, wo man altbekannten Personen aus der DDR in neuen entscheidungsrelevanten Positionen erneut begegnet. Und auch hier zielt die Kritik der ehemaligen DDR-Bürger nicht auf die strukturellen Hintergründe. Beklagt wird, daß man dem bekannten Altkader erneut begegnet; beklagt wird, daß dieses im Lande von "Stolpe" möglich sei. Das Land wird mit seinem Regenten synonym gesetzt. Vergangenheitsbewältigung, wie sie etwa jüngst von Wichert, Thierse und Wolffsohn vorgeschlagen wurde, kann da womöglich gar nicht greifen. Wer "den Kern der Systemstrukturen" aufdecken will, kann sich nicht sicher sein, damit auch etwas zum besseren Umgang mit den erlittenen Kränkungen, Demütigungen und Diskriminierungen in die Hand zu bekommen. "Die Analyse des Systems und seiner Mechanismen wird vieles aufklären", meint Thierse, aber er gibt gleichzeitig zu bedenken, daß mit der Rekonstruktion der Strukturen nicht alles geleistet sei. Sein Plädoyer für den "Dialog des Austausches von Biographien, in dem hoffentlich andere Maßstäbe gelten als bei der Bewertung von ökonomischen und politischen Verhältnissen", findet jedenfalls in den Aufzeichnungen aus den Gästebüchern einigen Halt. Denn diese rekurrieren in der Vergangenheitsbewältigung kaum auf das "System", sondern auf die Biographie, auf Personen und Begegnungen.


 
           
 
 
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