5. 1989-1993: Begegnungen
unter Entfremdeten
In den gegenseitigen Beschimpfungen ist
schon mittelbar deutlich geworden, was in manchen Statements und
in vielen längeren Reflexionen der Ausstellungsgäste
direkt angesprochen wird: Besucher aus Ost und West haben das
Gefühl, von der Wiedervereinigung überrollt worden zu
sein. Man traf nur in der kurzen Zeit der Massenflucht aus der
DDR und in der Phase unmittelbar nach der Maueröffnung auf
die "Brüder und Schwestern" hüben wie drüben.
Nachdem die erste Euphorie verflogen war, stellte man fest, wie
sehr man einander fremd ist, wie sehr mithin die Geschwistermetapher
eine Phrase war bzw. wie schnell sie es zumindest wurde: "Die
sogenannte Wiedervereinigung verlief in vielen Bereichen sehr
unklug und ohne jegliches Einfühlungsvermögen für
das Fremdsein und Anderssein der Anderen. Diese Fehler haben tiefe
Wunden bei den Ostdeutschen hinterlassen (z. B. Identitätsverlust,
mangelndes Selbstwertgefühl usw.)." (7: 11.6.93, w,
Berlin-Steglitz)
"Was bleibt, ist eine große Hilflosigkeit des einzelnen.
Die Unterschiede scheinen ganz und gar unüberwindlich; je
jünger die Leute sind, um so mehr. Ich glaube wirklich, nur
die nächsten Generationen könnten sich ost-westlich
näherkommen. Was hilft aller guter Vorsatz - kein Mensch
kann über seinen eigenen Schatten springen. Ich wünschte
mir allerdings unterdessen etwas mehr Würde und Achtung im
Umgang miteinander - nicht nur von Wessis gegen Ossis, sondern
auch umgekehrt. Als Wessi in Ossiland habe ich die schlimmsten
Ressentiments erlebt, die mir je begegnet sind - es scheint wirklich
nicht anders zu gehen." (10: 19./21.6.93, m, Westdeutschland)
Während man in den Besucherbüchern sehr wenig Material
für die allenthalben kursierende Imagination findet, "der
Ostdeutsche eigne(t) sich hervorragend zum 'häßlichen
Deutschen'", womit er dem Westdeutschen als "Projektionswand"
für den "nie versiegenden deutschen Selbsthaß"
diene, findet sich doch bestätigt, daß "die deutsch-deutschen
Vereinigungsturbulenzen (. . .) die Abstände zwischen den
Menschen (. . .) eher vergrößert", zumindest aber
kaum verändert haben: "Als ich das erste Mal nach Ostberlin
kam 1987, hielt ich es sage und schreibe ganze 3 Stunden aus.
Fluchtartig verließ ich Ostberlin, war schockiert, frustriert
und hatte eine Stinkwut im Bauch gegen die ganze DDR und alle
Insassen (sic!). Heute halte ich es gut und gerne 3 Tage aus,
ohne größere Probleme." (10. Juli 93, jugendlicher
m, Frankfurt/M.) Was der junge Mann auf offene und auch etwas
naive Art als einen persönlichen Fortschritt im Annäherungsprozeß
beschreibt, nämlich daß er es in der ehemaligen DDR
nun drei Tage statt drei Stunden "aushält", zeigt
letztlich doch nur, daß man auch dem Fremden gegenüber
einen Gewöhnungseffekt erzielen kann, daß die Fremdheit
aber grundsätzlich vorhanden bleibt. Wen wundert es in Anbetracht
der deutlich werdenden Differenzen, wenn manchmal schon Stimmen
laut werden, daß man es hier mit einem echten Fall für
eine "psychologische Friedensforschung" im Rahmen der
Begegnung mit einer fremden Kultur zu tun habe? Jedenfalls sieht
es L. Ensel so: "Wenn das Aufeinanderprallen von Westdeutschen
und Ostdeutschen nicht die Herausforderung an die vielzitierte
multikulturelle Gesellschaft ist, dann weiß ich nicht, was
das Wort bedeuten soll!"
Die Fremdheit scheint sich auch durch die Massenmedien oder die
Imagination vom wiedervereinigten Deutschland nicht problemlos
reduzieren zu lassen, bleibt doch bis in die jüngsten sozialwissenschaftlichen
Erhebungen und sozialpsychologischen Studien hinein trotz aller
massenmedialen Appelle zum Zusammenwachsen - die mentale Differenz
deutlich sichtbar und wird vermutlich dadurch noch zusätzlich
forciert. Denn die Differenz zum anderen tendenziell abzulegen,
die Fremdheit zu reduzieren, setzt ja schon voraus, daß
es eine übergeordnete Einheit gibt, deren Vollzug noch aussteht.
Diese übergeordnete Einheit müßte aber anders
aussehen, als die Kopie des Westens im Osten zum Original zu erklären
(so jedenfalls die Besucher, s.u. Punkt 6). Niemand würde
wohl derart massiv von Fremdheit in bezug auf die anderen Nachbarn
der Europäischen Union sprechen, wie es derzeit in Deutschland
intern geschieht.
Nur wenige Bürger aus der ehemaligen DDR stellen das Ende
ihres Staates auch als Chance für die eigene Entwicklung
dar, die mit dem Fall der Mauer neue Perspektiven und Horizonte
erhielt. Interessanterweise sind dann die Fremdheitserfahrungen
nicht Anlaß zur Klage oder Irritation, sondern Ausgangspunkt
für die Möglichkeit, sich eine neue, andere Welt zu
erschließen. Es scheint, als habe die Schreiberin der folgenden
Passage die Vorstellung von den zwei deutschen Staaten für
sich in ihrer Biographie so umgesetzt, daß sie West-Berlin
als anderes Land mit anderen als den eigenen mentalen Strukturen
identifizieren kann. Sie absolviert quasi ein Auslandsstudium
- und kann mit dieser Konstruktion im Kopf aus der neuen Situation
für sich Gewinn schlagen:
"Ich wurde 1966 in der DDR geboren (. . .). In Leipzig studierte
ich bis 1990 Geschichte und erlebte das, was als "Wende"
in die Geschichte eingegangen ist, quasi hautnah mit. Heute studiere
ich wieder, an der FUB, da mein DDR-Abschluß nicht anerkannt
wurde. (. . .) Rückblickend kann ich heute von mir sagen,
daß mir der Fall der Mauer und der Untergang der DDR neue
Wege und Perspektiven eröffnet hat.(...) In Gesprächen
mit Menschen aus Westdeutschland oder West-Berlin ist mir natürlich
auch klar geworden, wie viele Unterschiede in Lebenserfahrung
und Lebenslauf es gibt; ich verstehe diese Unterschiede als Chance
zum Lernen, zum Verstehen, vorausgesetzt, daß die Menschen
in Ost- wie Westdeutschland bereit sind, einander zuzuhören
und die Meinung des anderen einfach einmal zuzulassen. Dann vielleicht
kann etwas daraus werden, allerdings nur unter noch einer Voraussetzung
und die heißt: Nicht Be-Wältigung, sondern Aufarbeitung
der Geschichte, der von Nazi-Deutschland und der in der DDR. Dabei
wären sicherlich auch Fragen an die Geschichte der Bundesrepublik
zu stellen." (1: 14.10.93, w, Studentin der Judaistik)
Doch solch eine Haltung, die aus dem Ende des Gewohnten den Neubeginn
der individuellen Entwicklung gewinnt, ist ebenso eine große
Ausnahme wie der hier vorgebrachte Gedanke, nur über die
Rekonstruktion der Geschichte Ost wie West ließe sich die
Wiedervereinigung tatsächlich realisieren. Das der Psychoanalyse
abgeschaute Modell: mit sich selbst ins reine kommen durch die
Thematisierung der dethematisierten Aspekte in der eigenen und
in der kollektiven Biographie, ist offensichtlich eher ein Anliegen
der Intellektuellenszene als das der Ausstellungsbesucher. Die
Diskrepanz zwischen der allenthalben in den Kulturzeitschriften
und auf dem Büchermarkt eingeklagten Aufarbeitung der Vergangenheit
und den Aufgaben, die in den Besucherbüchern als notwendig
zu bewältigen deklariert werden, ist frappant. Vorherrschend
sind Stimmungen und Wahrnehmungen, die sich in Empörung über
erlittene Ungerechtigkeit artikulieren. Von der Geschichte betrogen
worden zu sein, zufällig auf der falschen Seite gelebt zu
haben, dies taucht als Muster der Vergangenheitsinterpretation
bei der ersten Generation der in der DDR Geborenen häufig
auf:
Viele Menschen hätten "heute noch nicht begriffen (.
. .), daß uns der Kommunismus als Folge des Faschismus und
des II. Weltkrieges aufgezwungen wurde. Ich bin 1946 geboren (in
Deutschland), war niemals für ein kommunistisches System
eingestellt, wurde also 40 Jahre unschuldig zum Kommunismus gezwungen.
Gleichaltrige im Westen dagegen hatten die Wahl!" (9: 24.6.93,
m, Ostdeutschland) Von ihnen fühlt sich der Schreiber schlecht
behandelt: "Trotzdem fühlt man sich als Mensch II. Klasse
durch das arrogante Verhalten vieler 'Wessis'. Heute würde
ich auf eine Wiedervereinigung verzichten und wenn es mir schlechter
gehen würde!" (Ebd.)
Auch bei einem anderen Schreiber aus der ehemaligen DDR mischen
sich Ressentiments und Enttäuschung über Personen (und
eben nicht über das Staats- und Wirtschaftssystem!) mit Wut
und Enttäuschung: "Mai 1993 im Stolpe-Land - Ich fragte
beim Schulamt nach Arbeit nach (ich hatte nie gekündigt!).
Ich war Regimekritiker der DDR. Eine verschmitzt lächelnde
Kreisschulrätin holte den Personalchef mit der Bemerkung
"Ja, es ist der alte!" Tatsächlich, es war der
alte Genosse Kaderleiter! Welche Chance ich dann hatte - dazu
keine Äußerung als Regimekritiker der DDR!" (9:
7.7.93, m, Ostdeutschland)
Die Kränkungen, seien sie nun durch die neuen Kollegen aus
dem Westen oder das Westpersonal in Behörden und Ämtern
erfahren, werden noch schmerzhafter dort erlebt, wo man altbekannten
Personen aus der DDR in neuen entscheidungsrelevanten Positionen
erneut begegnet. Und auch hier zielt die Kritik der ehemaligen
DDR-Bürger nicht auf die strukturellen Hintergründe.
Beklagt wird, daß man dem bekannten Altkader erneut begegnet;
beklagt wird, daß dieses im Lande von "Stolpe"
möglich sei. Das Land wird mit seinem Regenten synonym gesetzt.
Vergangenheitsbewältigung, wie sie etwa jüngst von Wichert,
Thierse und Wolffsohn vorgeschlagen wurde, kann da womöglich
gar nicht greifen. Wer "den Kern der Systemstrukturen"
aufdecken will, kann sich nicht sicher sein, damit auch etwas
zum besseren Umgang mit den erlittenen Kränkungen, Demütigungen
und Diskriminierungen in die Hand zu bekommen. "Die Analyse
des Systems und seiner Mechanismen wird vieles aufklären",
meint Thierse, aber er gibt gleichzeitig zu bedenken, daß
mit der Rekonstruktion der Strukturen nicht alles geleistet sei.
Sein Plädoyer für den "Dialog des Austausches von
Biographien, in dem hoffentlich andere Maßstäbe gelten
als bei der Bewertung von ökonomischen und politischen Verhältnissen",
findet jedenfalls in den Aufzeichnungen aus den Gästebüchern
einigen Halt. Denn diese rekurrieren in der Vergangenheitsbewältigung
kaum auf das "System", sondern auf die Biographie, auf
Personen und Begegnungen.