4. Ost & West zwischen
Schlagabtausch und Versöhnungsappellen
Die Besucherbücher liefern in einer
Hinsicht Äußerungen, die sich aus anderen Formen der
Datenerhebung kaum gewinnen lassen: In ihnen dokumentiert sich
Streit in Form gegenseitiger Beschimpfungen. Äußerungen
dieser Art finden sich - wenn man denn Vergleiche sucht - weder
in den Graffiti und ähnlichen flüchtigen Parolen noch
in offenen Befragungen und Gruppendiskussionen der empirischen
Sozialforschung. Haben erstere Schlagwortcharakter und sind sie
in der Regel monologisch konstruiert, so sind letztere versachlichten
Diskursformen verpflichtet. So erstaunt es nicht, daß sozialwissenschaftliche
Forschungen solch eine Heftigkeit der Ressentiments nicht zutage
fördern, wie sie in den Besucherbüchern sichtbar wird.
"Im Westen fast nur Scheiße! entschuldigen Sie bitte
die Wortwahl, aber was sein muß, muß sein. Baut die
Mauer höher!", schreibt ein Besucher aus der ehemaligen
DDR im Sommer 1993 in eines der Bücher. (1: 23.9.93) Ein
anderer, offensichtlich aus dem Westen, setzt herausfordernd darunter:
"Lang lebe das Grundgesetz!!" Ein dritter Besucher,
nun wiederum aus der DDR, reagiert: "Wir Ossis sind das einzig
wahre Deutsche Volk!" Darauf folgt, von wieder einem anderen
Besucher (wohl aus dem Westen), die Bemerkung: "Ihr habt
wohl ne Macke", und ein weiterer (auch aus dem Westen?) fügt
hinzu: "Wir Deutschen sind die wahren Ossis" Eine Bürgerin
aus dem Osten greift in die Fehde ein und bekundet: "Als
ehem. DDR-Bürgerin distanziere ich mich von der o. g. Meinung
ganz entschieden."
Beschimpfungen, Versuche, den anderen (östlichen) Deutschen
zum Deutschen "2. Klasse" zu stempeln, sind kein Einzelfall.
In einem Besucherbuch findet sich im Sommer 1993 der Eintrag:
"Wir haben gewonnen! Ein BRDler!! (Wir wollen die Mauer wiederhaben,
die DDR kostet viel zuviel!)". "WOHLSTANDSCHAUVINIST!"
ergänzt in Großbuchstaben aufgebracht ein anderer Besucher,
und ein dritter, vermutlich aus der ehemaligen DDR, fügt
hinzu: "Ihr denkt wohl, Geld allein wäre genug!"
Ein weiterer Besucher schaltet sich ein: "Die o.g. Bemerkung
zeigt, wie wenig eine Vergangenheit und Bildung in einem freiheitlich-demokratischen
Staat Vernunft oder Humanität garantiert. Schade um jeden
Beweis derartigen Egoismus." (2: 26./27.7.93, m, Rheinland)
"Kohls Aussage 'KEINEM WIRD ES SCHLECHTER GEHEN' - das Gegenteil
ist ja wohl jetzt nach drei Jahren 'Einheit' bewiesen!"
"Wenn Euch Ossis die 40 Jahre mit der Mauer so gut gefallen
haben, könnt Ihr sie ja jetzt wieder aufbauen."
"Sie steht im Kopf."
"Natürlich ist es besser geworden, jedenfalls für
uns 'Ossis', leider nicht für alle."
"Wenn man im Vergleich DDR - BRD nicht sehen kann, daß
auf jeden Fall eine Besserung eingetreten ist, ist man 'wohl mit
Blindheit geschlagen."
"Ein Blinder." (6: 12./13.10.93)
Versucht man, diese Schlagabtausche zu systematisieren, so stellt
man fest, daß ein Cluster sich auf das Besser- oder Schlechtergehen
bezieht: Werden in Erinnerung an die DDR die Arbeit für alle
und das staatlich garantierte Auskommen hochgehalten, so lautet
im Gegenzug der Vorwurf, es habe keine Freiheit gegeben (auf die
andere, aus dem Osten, dann wieder gerne verzichten wollen). Sehen
die einen mit dem Einzug westlicher Mentalität Raff- und
Geldgier um sich greifen, so verweisen die anderen auf die beschränkten
Konsummöglichkeiten in der alten DDR. An diesen deutsch-deutschen
Schmähungen wird deutlich, daß fundamentale Orientierungsgrößen
des Westens, nämlich Freiheit, individuelle Leistung und
Konsummöglichkeiten, nach dem Fall der Mauer ihre Attraktivität
für viele der neuen Bundesbürger offensichtlich eingebüßt
haben. Vier Jahre nach der Wende werden die ehemaligen grundlegenden
Orientierungsgrößen des Ostens, nämlich soziale
Sicherheit, Kollektivität, beschränkte Märkte,
wieder favorisiert.
Dies geht aber nicht einher mit einer vorwärtsschauenden
Politik, also mit dem Versuch, die alten Orientierungen in der
neuen Republik zu verwirklichen. Vielmehr lautet die Parole: Die
Mauer muß wieder errichtet werden - ohne daß freilich
gesehen wird, daß sie dann auch an der Ostgrenze der ehemaligen
DDR errichtet werden müßte. Durchgängig wird in
den Besucherbüchern das Verhältnis zwischen Ost- und
Westdeutschland nicht in den Kontext des völligen Zusammenbruchs
des Sozialismus eingebettet. In den Köpfen der Besucher dominiert
die stillschweigende Annahme, daß der status quo in der
DDR keine Veränderungen erfahren hätte, wäre die
Mauer nicht gefallen. Zudem wird das Problem entweder als eines
auf der Staatsebene oder als eines zwischen westlichen und östlichen
Personentypen (und nicht zwischen Einzelpersonen) verhandelt.
Ein Besucher, der offenkundig beruflich in den neuen Bundesländern
tätig ist, notiert: "Ein richtiger Schritt auf dem Weg
zur Einheit wäre, auch in den neuen Bundesländern, die
DDR endlich offen als das zu bezeichnen, was sie war: als eine
totalitäre Unterdrückungsmaschine mit den gleichen Eigenschaften
eines totalitären Staates wie die NS-Militärdiktatur.
Die DDR als einen Staat zu bezeichnen, der im Interesse der Menschenrechte
und der Freiheit genauso untergegangen ist wie der Hitler-Staat,
und froh zu sein, daß es so und nicht anders gekommen ist.
Dr. A. Heine, Denzungen (Baden), z.Zt. Halberstadt (Sachsen-Anhalt)."
"Auf diesen Geistesblitz können wir in Halberstadt gut
verzichten! M. Müller, Halberstadt."
"Ein 'kluges Köpfchen', dieser
Dr. A. Heine, die armen Halberstädter, die ihn ertragen müssen!"
"Wie kommt so ein 'Denkriese' zu einem
akademischen Grad? Gekauft?" (12: 21.11.93)
Die Kommentare geben das gereizte Verhältnis zwischen den
Deutschen-Ost und den Deutschen-West wieder. Ressentiments finden
sich auf beiden Seiten der (ehemaligen) Mauer. Es sind weder die
"Ossis" noch die "Wessis" allein, die attackieren.
Von der jeweils anderen Seite herabgewürdigt, wehren sich
viele durch die Identifikation mit dem abwertenden Terminus "Ossi"
bzw. "Wessi". Zwar bricht kein Nationalitätenkonflikt
aus, da die imaginäre Ost-West-Grenze keine zwischen Ethnien
oder Nationen ist; was aber sichtbar wird, ist ein Konflikt zwischen
zwei imaginären Staaten mit unterschiedlichen Wirtschafts-
und Sozialregimen. Stolz zu sein, dem einen oder anderen zuzugehören,
ist einerseits ein Ausdruck von Hilflosigkeit, bewegt man sich
doch lediglich in einem imaginär anderen Staat, während
man faktisch in ein und derselben Bundesrepublik Deutschland lebt.
Andererseits ist der Stolz Ausdruck eines starren Beharrens auf
Traditionen und verinnerlichten Normen und Wertvorstellungen,
die zu verändern man nicht bereit ist. Beide Seiten sind
verletzt, irritiert, begegnen der jeweils anderen mit Mißtrauen,
Ressentiment, manchmal auch mit Haß. Daß diese vergiftete
Stimmung in den Büchern im Laufe des Sommers noch zugenommen
hat, ist auffällig. Man wird es damit erklären können,
daß sich insgesamt die Stimmung in Deutschland im Herbst
1993 verschlechtert hat, so daß die Besucherbücher
hier ein Spiegel der allgemeinen Verhältnisse sind.
Doch trotz aller verbalen Schmähungen äußern sich
auch viele Besucher betroffen und mit großen inneren Bedenken
zu dem Auseinanderfallen der deutschen Bevölkerung in "Ossis"
und "Wessis". Warnungen vor dem Selbstabgrenzen, sei
es auf östlicher, sei es auf westlicher Seite, werden wiederholt
formuliert. "Die Bevölkerung spaltet sich selber in
Ossis und Wessis!", lautet ein Eintrag im Juli 1993. (11:
22.7.93); und ein anderer Besucher schreibt: "Mich stimmt
es traurig, daß wir untereinander so verhaßt über
den 'Ossi' und den 'Wessi' reden. Beide Seiten haben sich zwar
verschieden entwickelt, aber müßten doch nach der langen
Sehnsucht des Zusammenseins besser miteinander umgehen".
Unterzeichnet ist der Eintrag von einem "Mensch(en) mit Bauchschmerzen".
(2: 13.7.93)
Bestürzung über den Haß zwischen Ost und West
findet sich auch in diesem ausführlichen Bericht einer jungen
Frau aus Westberlin: "Mir macht Deutschland Angst mit dem
ganzen Ausländerhaß. Aber mir macht auch der Haß
unter den Deutschen Angst. Freunde von mir lästern kräftig
über Ossis, und es fällt mir schwer, sie davon abzubringen.
Der Osten ist für sie halt doof und keiner will dorthin,
weder ums mal anzusehen, so quasi als Tourist, oder um dort zu
arbeiten und zu leben. Mein Freund hat Angst, in eine kleine Stadt
hier im Umland zu ziehen, weil er meint, er müßte sich
seine Haare abschneiden, ansonsten würde er von Rechtsradikalen
zusammengeschlagen werden. In einer Ost-Berliner Kneipe hörte
ich Ossis über Wessis lästern, einer wurde für
einen Wessi gehalten und das war ihm furchtbar peinlich. So könnte
ich seitenlang schreiben und bekräftigen, daß das wohl
noch ne ganze Zeit dauern wird, bis wir Deutschen wieder zusammengewachsen
sind.". (4: 27.7.93, w, Westdeutschland)
"Anna", Jg. 1969, wünscht sich: "Keine Mauer
mehr im Herzen", und eine andere junge Frau blickt über
die Differenzen zwischen den Deutschen hinaus und sieht sie im
Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit und -diskriminierung: "Zur
Frage 'Und heute?' kann ich nur sagen, daß ich stark hoffe
und annehme, daß sich die sogenannte(n) 'West- und Ostkultur(en)'
so verwischen, daß man später die Begriffe 'Ossi' und
'Wessi' nicht mehr braucht. Es ist ein Land, und also sollte sich
auch eine gemeinsame Kultur bilden. Es soll aber nicht nur DEUTSCH
sein, da ich Rassendiskriminierung, besonders Ausländerdiskriminierung,
total bescheuert finde. Am besten wäre eine gemischte Multikultur."
(8: 11.6.93, Westdeutschland)
Solche Einträge, die für gegenseitiges Verstehen und
Achten plädieren, finden sich immer wieder in den Besucherbüchern
- ein Silberstreif am Horizont gegenseitiger Verachtung? Sie zeigen
zumindest, daß Ressentiment und Abneigung nicht durchgängig
vorhanden sind, daß viele, insbesondere junge Menschen bewußt
ihre "Mitmenschlichkeit" dagegen setzen und dies auch
in den Besucherbüchern bekunden.
"Wessi Jens" wartet mit einem Konzept zum Abbau der
Differenzen auf. Miteinander reden, sich kennenlernen, das scheint
ihm der richtige Weg zu sein: "Entgegen einer weitverbreiteten
Meinung wissen die BürgerInnen der (Ex-) DDR mehr von der/über
die Bundesrepublik bis 89 als umgekehrt. Die Ignoranz und Unwissenheit
der 'Westler' (was haben die schon an dem einen Tag Ostberlin
beim 'Verkloppen' des Zwangsumtausches mitbekommen?) bleibt ein
großes Problem. Der weitaus größere Teil unserer
(Staats-)Bürgerinnen, nämlich die ca. 60 Mio. WestlerInnen,
hat sich die DDR nicht eingemeindet, hat sie nicht einverleibt,
denn er kennt sie nicht." (7: 18.6.93, m, Westdeutschland)
Hier wird der Wunsch formuliert zu erleben, daß, die Ostdeutschen
sich öffnen, sich äußern und sich nicht immer
nur anpassen. Zwei Phänomene stechen bei dieser wie bei einigen
ähnlichen Äußerungen hervor: Die Auflösung
des "Ossi-Wessi-Schemas" ist in stärkerem Maße
ein Anliegen der "Wessis". Wenn zweitens in der Konfrontation
immer das Kollektiv im Vordergrund steht, es immer alle "Ossis"
bzw. alle "Wessis" trifft, so erscheint die Versöhnung,
der Ausgleich, das Verwischen der Differenzen einzig über
den Weg der individuellen Begegnung möglich. Es ist das Einzelgespräch,
der individuelle Kontakt, der zur Beendigung der Vorurteile führen
soll. So ist auch die Opposition zwischen Verachtung aus dem Kollektiv
heraus und Anerkennung aus dem individuellen Kontakt heraus eines
der herausragenden Merkmale in der Auseinandersetzung über
das "Ossi-Wessi-Schema". Wenngleich solche Äußerungen
nur von einer Minderheit der Besucher getroffen werden, sind sie
doch insofern ein Fingerzeig, als über ein echtes menschliches
Interesse am anderen ein Weg in die vereinte Zukunft gesehen wird.