3. Ausstellung und erinnerte
Wirklichkeit: Das 'eigentliche' Leben war ganz anders . . .
Die Besucher der Ausstellung wurden über
die Objekte und die Gestaltung unvermittelt konfrontiert mit dem
kaum vergangenen Ost-Alltag bzw. dem immer noch aktuellen West-Alltag.
Für die Bürger der neuen Länder war dies sicher
provokanter als für westliche Besucher. Denn das Gefühl,
die eigene Gegenwart plötzlich verloren zu haben, die eigene
Biographie nur noch als historische sehen zu können, wurde
dadurch evident, daß nun der eigene Alltag plötzlich
im Museum, als Gegenstand der Geschichtsdarstellung erschien:
"DDR - wir erinnern uns daran und fragen uns, warum wohl
jetzt, nach so kurzer Zeit schon eine Ausstellung von so großem
Stellenwert über unsere Jugend existiert." (junge w,
Berlin-Mitte) Aber das ist es ja gerade: Das Museum führt
vor Augen, daß das gewohnte Leben unwiderruflich dahin ist.
Wird aber akzeptiert, daß es sich
beim DDR-Alltag um Geschichte handelt, so trägt die Wiederbegegnung
mit der eigenen Vergangenheit für die ehemaligen DDR-Bürger
oft sentimentale Züge. Die gezeigten Gegenstände sind
dann Anlaß, Stimmungen zu revozieren. Eine 22jährige
Studentin aus Berlin-Prenzlauer Berg schreibt: "Ja, die Brottasche
mit Pitti-Platsch-Aufkleber kennen wir noch (. ..): Kann sich
ein Wessi vorstellen, daß wir Ossis lachen, wenn wir an
Pionier-, FDJ-, GST (Gesellschaft für Sport und Technik-)
Ausweisen etc. vorbeigehen? Wer nahm das alles ernst, wenn schon
wir als heutige Studenten, die ja nun mal als Vorbild und Klassenbeste
ganz vorn standen, dies nicht taten?" Ein "wir"
wird hier ins Feld geführt, das immer noch die alte sozialistische
Gemeinschaft meint, diese dabei aber um den offiziellen, staatspolitischen
Part kürzt und den informellen Aspekt der Beziehungen in
der Gemeinschaft, die Freude, die Späße, das Glück
herausstellt.
Durchgängig ist zu beobachten, daß so in Hinblick auf
die eigene Erinnerung verfahren wird. Die Macht der Gegenstände,
des Alltags in staatlichen Institutionen mit seinen Reglements
und Ritualen, wie sie die Ausstellung einzufangen versucht, wird
gebrochen auf der Basis des Erinnerns von Ereignissen und Stimmungen:
"Ich melde mich hier als 'krippengeschädigtes' DDR-Kind,
das durch Kinderkrippe, Kindergarten, POS (Polytechnische Oberschule),
EOS (Erweiterte Oberschule) und Studium ging - so wie es hier
in dieser Ausstellung steht, gehen mußte. Ich kann nicht
sagen, daß mir das alles geschadet hat, da ich einfach zu
schöne Erinnerungen an meine Kindheit habe." (5: 18.5.93,
w, 22 J., Ostdeutschland)
In diesem Sinne war für die Besucher
die Ausstellungsgestaltung sehr viel mehr als nur ein äußerer
Rahmen. Sie betrachteten sie in den meisten Fällen als unmittelbaren
Spiegel des geradlinigen, verordneten Lebensweges in der DDR -
ein Spiegel, in dem auch sie und ihre Biographien gespiegelt wurden.
Diese Darstellung war für manche Besucher aus der ehemaligen
DDR nur schwer erträglich: "Es gab auch Freude und Lachen
in der DDR!", so und ähnlich lauten einige Einträge:
"Das Leben in der DDR war bunter! Es war aufmüpfiger!
Es war unregelmäßiger! Es gab genug Leute, die gegen
den Gleichlauf (-schritt) angingen!" (9: 22./23.5.93, m?,
Ostdeutschland)
Das eigentliche, wahre Leben, die erinnerten Ereignisse seien
doch ganz anders gewesen als der in der Ausstellung vorgeführte
strikte, starre Lebenslauf - so der Tenor etlicher Niederschriften.
Das ist natürlich insoweit richtig, als die Ausstellung ja
auch nicht das individuelle alltägliche Leben darstellen
wollte, sondern die Strukturen und Rahmenbedingungen, die ihm
zugrunde lagen. Man griffe allerdings zu kurz, wollte man die
Differenz auf eine Opposition von dargestellter Strukturgeschichte
und erinnerter Ereignisgeschichte reduzieren. Denn noch etwas
anderes wird mit diesen Äußerungen artikuliert: Die
ehemaligen DDR-Bürger insistieren darauf, daß man den
offiziellen, verordneten Teil ihres Lebens, die 'Rahmung' sozusagen,
als den nicht-eigentlichen, nicht-authentischen Part beiseite
lassen müsse. Insofern diente die Ausstellung mit dem schematisierten
Lebenslauf der DDR-Biographie ihnen auch als Feld, das Distanzierungen
zur Strukturgeschichte, zu einer spezifischen Form der Analyse
und Betrachtung von Vergangenheit provozierte. In den Nischen
der Gesellschaft hätten viele ihr Auskommen und ihre Zufriedenheit
gefunden, lautet oft die Selbst- und Fremddeutung: "Ich war
in der DDR trotz allem, was man im nachhinein als organisiert
und manchmal auch stumpfsinnig bezeichnen möchte, glücklich.
Glücklich, weil ich kein 'Held' war, weil ich oft meine Klappe
hielt und die Nischen fand, die ich für mich suchte."
(3: 13.11.93, m, Wittenberge)
Oft wird zwischen 'Vorder- und Hinterbühne' getrennt: Die
staatlich und sozial verordneten Lebensstationen sind für
viele das "Un-Eigentliche", das man ausklammert. So
wird in den Besucherbüchern von denen, die in der DDR lebten,
oft der im Rückblick als angenehm empfundene Alltag gegen
die Dimensionen ausgespielt, die diesen Alltag strukturierten.
'Ist das Nostalgie, Verklärung von Geschichte oder vielleicht
sogar doch die "wahre" Identität der DDR-Bürger,
die sich darin ausdrückt?
"Wie gerne würde ich wieder ein Pionier sein, fröhlich
zum Appell gehen. Ich finds scheiße, daß es die Mauer
nicht mehr gibt. Es gab auch schlechte Seiten am Osten, aber es
hatte wenigstens jeder eine Arbeit. Der Westen war zwar immer
schön zu Ostzeiten, aber es war ein Reinfall. Was haben die
Leute davon (die, die die Mauer nicht haben wollten), die meisten
haben keine Arbeit und keine Wohnung mehr. Aber trotz allem: ich
bin und bleibe ein vollblütiger Ossi, Martin S. 13 Jahre".)
(4: 31.10.93)
Mit der Formulierung "Der Westen war zwar immer schön
zu Ostzeiten . . ." drückt der Schüler Martin aus,
was die Sozialwissenschaften als das Angewiesensein der beiden
deutschen Staaten aufeinander bezeichnet haben; sie waren "Polarisierungszwillinge",
die in ihrer Unterschiedlichkeit komplementär waren. Entsprechend
ist nicht nur auffällig, daß viele Schüler und
junge Menschen den Verlust der DDR und mithin auch den Bruch in
der eigenen Biographie als schmerzhaft empfinden, sondern auch
und besonders, daß sie die Bundesrepublik als den schlechteren
deutschen Staat bewerten, demgegenüber sie der DDR den Vorzug
gäben, wenn sie noch existierte. Viele Äußerungen
sind aber auch sehr ambivalent, indem sie Gutes und Schlechtes
an der Bundesrepublik nebeneinanderstellen. Doch wenn Negatives
geäußert wird, geschieht dies oft sehr heftig. Vergleicht
man diesen vorherrschenden Eindruck mit den Ergebnissen quantifizierender
Jugendforschungen, wie etwa mit der großen Shell-Jugendstudie
aus dem Jahre 1992, so lassen sich durchaus Parallelen, aber auch
eine wichtige Differenz ausmachen. Die Shell-Studie kommt zu dem
Ergebnis, daß die meisten Jugendlichen sich nicht eindeutig
festlegen können oder wollen hinsichtlich der Bewertung ihrer
Lebensveränderungen. 16 Im Unterschied dazu urteilen die
Jugendlichen in den Besucherbüchern vielleicht authentischer,
da der formale Beobachtungs- und Befragungsrahmen entfällt,
jedenfalls aber sehr viel eindeutiger: negativ.
Bedauern angesichts der verlorenen Lebenswelt und Rückwärtsgewandtheit
überwiegen. Der gerade von Analytikern des Zeitgeschehens
oft geforderte nüchterne, kritische Blick auf die Zustände
im realexistierenden Sozialismus ist kaum vorhanden, und Einflüsse
einer in diesem Sinne wirkenden (schulischen) politischen Bildung
sind nicht zu erkennen, denn nur sehr selten wird in einem Ost-West-Systemvergleich
von den DDR-Bürgern ihr Staat genau betrachtet und (im analytischen
Sinne) mit dem westlichen Gesellschaftssystem verglichen. Zu den
wenigen Einträgen gehört der folgende, in dem eine Besucherin
aus der ehemaligen DDR die Veränderungen formuliert, die
sich ihrer Meinung nach besonders für die Frauen aus der
Wiedervereinigung ergeben haben: "Es ist schade, daß
alle Bereiche aus dem Leben in der ehemaligen DDR als schlecht
abgetan wurden und nichts mehr eine Fortsetzung findet. Gerade
für Frauen und deren Verwirklichung wurde doch mehr erreicht
als in der BRD." (11: 22.7.93, w, Ostdeutschland)
Solche Äußerungen sind nicht häufig; interessant
ist jedoch bezüglich des Verhältnisses der Geschlechter,
daß die Frauen aus der ehemaligen DDR ein recht hohes Bewußtsein
ihrer gesellschaftlichen Stellung zum Ausdruck bringen, das sich
über die (staatlich erwünschte und geförderte)
Voll-Berufstätigkeit und das Krippenwesen konstituierte.
Brüche in diesem staatlich-gesellschaftlich vorgegebenen
und verinnerlichten Bild werden auch im nachhinein nicht thematisiert,
und die spezifische Geschlechterpolarisierung, die sich in politisch-gesellschaftlichem
Patriarchalimus und Ungleichheit der Frauen bei vielfacher Mehrbelastung
ausdrückte, gerät auch nachträglich nicht in den
Blick.
Schaut man sich die wiedergegebenen Äußerungen und
Haltungen einmal im größeren soziologischen Zusammenhang
an, so fallen zwischen den Statements in den Besucherbüchern
und anderen Datenmaterialien zur Transformation der DDR-Gesellschaft
Ähnlichkeiten auf. Nicht nur verschlechterte objektive Lebensumstände,
sondern auch enttäuschte Erwartungen und subjektive Beeinträchtigungen
durch Orientierungsprobleme und verbreitete Zukunftsängste
haben im Osten einen Stimmungseinbruch seit 1990 verursacht. So
lautet das Ergebnis des Sozio-Ökonomischen Panels (SÖP),
durchgeführt im Jahr eins nach der Wiedervereinigung. Danach
war das Niveau der Zufriedenheit mit dem Leben im allgemeinen
bereits 1990 in einem negativen Sinn "beeindruckend".
Die Gesamtbevölkerung im Osten Deutschlands wies zu diesem
Zeitpunkt in der Bilanzierung ihrer Lebensverhältnisse ein
Niveau auf, das "im Westen lediglich bei typischen Problemgruppen
(Arbeitslose; Alleinstehende; einsame Ältere; dauerhaft gesundheitlich
Beeinträchtigte) anzutreffen war - und diese Tendenz hat
sich im folgenden Zeitraum noch verstärkt: Im Juli 1991 sahen
sich 84 Prozent aller Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse.
Die negative Einschätzung der Lebensverhältnisse ist
dabei nicht unmittelbar abhängig von der finanziellen und
beruflichen Situation: Nur rund die Hälfte der neuen Bundesbürger
charakterisierte sich 1991 als mit den eigenen Lebensumständen
"eher zufrieden".
Mit anderen Worten: Das Ende der gewohnten Lebensumstände
erscheint ihnen - trotz gestiegener finanzieller Möglichkeiten,
trotz politischer Freiheiten, Reise- und Konsumangeboten etc.
- als Verlust, da es die Entwertung der bisherigen Lebensumstände
bedeutet und genau dieser Verlust spricht auch aus den Besucheräußerungen:
Er führt zu Nostalgie und Sentiment.
Man sieht: Die Bewertung dessen, was man
selbst noch als Augenzeuge wahrgenommen hat, fällt ganz unterschiedlich
aus - je nachdem, wie die eigene Biographie erzählt wird.
Es gibt im Augenschein der Lebensstationen in der Bundesrepublik
und der DDR keine homogene Vorstellung davon, wie sich das Leben
in den beiden deutschen Staaten gestaltete.