Die Bemerkung, daß früher die
Welt noch in Ordnung gewesen sei, nötigt uns in der Regel
nicht mehr ab als ein Kopfschütteln über den vermuteten
Konservatismus dieser Aussage und ein mitleidiges Schulterzucken
über den altersbedingten Erinnerungsoptimismus, den wir hinter
einer solchen Einschätzung vermuten. Eine solche Überheblichkeit
ist jedoch vollkommen unangebracht. Nimmt man ihn nämlich
wörtlich und bezieht man ihn auf den Lebenslauf der Menschen,
dann ist er sehr zutreffend. Der Lebenslauf der Menschen in der
traditionellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, weit hineinreichend
in das zwanzigste, war geordnet. In manchen eher ländlichen
Regionen Nord- und Westeuropas haben sich beträchtliche Bestände
dieser Ordnung erhalten, für Südeuropa gilt dieses in
besonderer Weise und, was die Zukunft für die Gestaltung
des Lebenslaufs der Menschen in Osteuropa, aber auch in Ostdeutschland
bringen wird, gehört zu den anthropologisch interessantesten
und politisch wichtigsten Fragen an die nächsten Jahrzehnte.
Wenn von der
Ordnung des Lebenslaufs die Rede ist, dann ist damit nicht die
Ordnung der Besitzverhältnisse gemeint, die Ordnung politischer
Herrschaft, die Ordnung der Moral oder diejenige von Wissenschaft
und Kunst. Die Ordnung des Lebenslaufs ist eine Ordnung der Zeit.
Es geht um die Regeln, um die Organisation des einen Lebens, das
jedem Menschen gegeben ist. Dem, dem Freiheit und Selbstbestimmung
wichtige Werte sind, sträubt sich bei dieser Fragestellung
bereits der Widerstand. Soll uns die Freiheit genommen werden,
unseren Lebenslauf so zu gestalten, wie es uns paßt? Das
kann sicher nicht das Thema sein. Wenn wir indessen schwerwiegende
soziale und individuelle Probleme und Desorientierungen der Gegenwart
verstehen wollen, dann müssen wir uns vor Augen führen,
wie sich die Verhältnisse durch eine Umorganisation der Zeit
im Lebenslauf verändert haben.
Die Menschen
haben sich schon sehr früh Gedanken darüber gemacht,
ob ihr Lebenslauf eine gesetzmäßige Ordnung besitze.
Die erste bekannte Periodisierung des Lebenslaufs datiert bereits
von 600 v. Christus. Die Längen der idealtypischen Lebensphasen
haben sich in der Geschichte häufig geändert. Der Zahl
7 kam dabei, wie im 90. Psalm, immer eine besondere Bedeutung
zu. Oftmals wurde auch von sieben Lebensphasen unterschiedlicher
Länge ausgegangen. Die Tatsache, daß es sich dabei
um eine ungerade Zahl handelte, begünstigte die Vorstellung
eines bestimmten Aufbaus des Lebenslaufs. Dieser Aufbau wurde
im Bild der Lebenstreppe vorgestellt. Sie sah das Leben als einen
Auf- und Abstieg, zwischen denen ein "Lebensgipfel"
lag. Da in der Regel der Mann im Zentrum dieser Darstellungen
stand, stellte denn auch der geschäftliche Erfolg im bürgerlichen
Leben den Höhepunkt der Treppenstruktur dar. Diese Vorstellung
enthält den christlichen Gedanken, daß das Leben durch
die Aufgabe der Bewährung gekennzeichnet sei. Der Gedanke
an den sicheren Tod wird in der Aufbauphase unterdrückt,
um im absteigenden Flügel der Treppe im Mittelpunkt zu stehen,
der sich am körperlichen Verfall orientiert. Mit diesen Vorstellungen
von einem Lebenslauf können wir uns als Zeitgenossen der
Leistungsgesellschaft noch recht gut orientieren. Sie sind denn
auch nicht zufällig neuzeitliche Modelle für den Lebenslauf,
die besonders im 19. Jahrhundert ein beliebtes Thema zahlloser
Illustrationen waren. Dieser Strukturtyp ist aber bereits die
Überlagerung einer älteren Lebenslaufvorstellung, die
im Bilde des Rades, des Lebensrades, enthalten war. Die zentrale
Eigenschaft dieser ältesten, von den christlichen Bewährungsvorstellungen
noch nicht vollständig überlagerten Konzeption ist diese:
Das Leben beginnt
an derselben Stelle, an der es endet, oder umgekehrt formuliert:
es endet an derselben Stelle, an der es beginnt. Der Mensch wird
aus dem Tod heraus in das Leben geboren und aus dem Leben heraus
in den Tod zurückgebracht. Die organisierende Kategorie dieser
zyklischen Lebenslaufvorstellung ist also die des Todes. Das Leben
ist demnach ein zeitlich überschaubarer Ausstieg aus dem
Kontinuum des Nichtlebens. Und ebenso sicher, wie die Menschen
diesem Tod entstammen, führt der Lebenslauf sie dorthin wieder
zurück. Die Unbegreiflichkeit, den Schrecken der Todestatsache
begreiflich und tendenziell hinnehmbar zu machen, war wohl die
zentrale Aufgabe jener zyklischen Lebenslaufvorstellung. Wir finden
sie außerhalb Europas in zahlreichen Kulturen wieder, die
Nirwana-Vorstellung im ostasiatischen Raum ist wohl die bekannteste.
Warum war nun
aber die zyklische Lebenslaufvorstellung, das Bild des Rades,
in besonderer Weise geeignet, die Menschen mit ihrer Todestatsache
zu versöhnen? Diese Leistung läßt sich nur verstehen,
wenn man berücksichtigt, daß die einzelnen Lebensphasen
jenes Zyklus einige strikte Bedingungen erfüllten:
- Die Zahl und Art der Lebensphasen war eindeutig definiert.
- Die Abfolge der Lebensphasen gehorchte einer Ordnung, innerhalb
derer es keine Umkehrbarkeit und keine Wiederholungen gab.
- Die Orientierung innerhalb des Lebenslaufes wurde den Menschen
dadurch erleichtert, daß die Gemeinschaft Riten der Überführung,
Transitionsriten, bereithielt, mit deren Hilfe den Menschen anschaulich
gemacht wurde, in welcher Phase sie sich befanden.
Betrachtet man
die Zahl der für die traditionelle Gesellschaft verbürgten
Lebensphasen, dann muß man feststellen, daß diese
wesentlich größer war, als wir es uns heute vorstellen
können. Eine idealtypische Rekonstruktion erlaubt es uns,
etwa folgende Phasen zu unterscheiden:
- Geburt
- frühe Kindheit
- Schulalter
- Lehrjahre/frühe Jugend
- Jugendalter
- Adoleszenz
- Ehe
- Zeugungsalter
- Schwangerschaft/werdende Vaterschaft
- mittleres Lebensalter/Elternschaft
- "empty nest" (das "leere" Elternhaus)
- Großelternschaft
- Tod.
Die Übersicht
über diese Lebensphasen erscheint uns auf den ersten Blick
nicht weiter überraschend. Kaum eine dieser Phasen hinterläßt
den Eindruck, heute verlorengegangen zu sein. Die Differenz wird
allerdings auffälliger, wenn wir uns vor Augen führen,
daß die Struktur dieses Lebenszyklus wegen seiner Zyklizität
einmal die beiden genannten Bedingungen der Unumkehrbarkeit und
der Nichtwiederholbarkeit einzelner Lebensphasen erfüllte.
Weil zum Beispiel außereheliche Sexualität und die
damit verbundene mögliche Folge außerehelicher Elternschaft
nicht positiv sanktioniert war, konnte es eine Umkehrung der Phasen
Ehe - Zeugungsalter - Elternschaft nicht geben, und ebensowenig
war an eine Wiederholung einzelner Lebensphasen zu denken, wie
sie beispielsweise durch die Freigabe der Scheidungsmöglichkeit
einer Ehe entstanden ist. Die Lebensphase der Ehe, der Elternschaft,
aber auch anderer wie die mit der Ausbildung verbundenen können
heute,