Dieter Lenzen
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
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Deutschland um 1900

DDR
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Dieter Lenzen


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Viele der anderen Riten aus der traditionellen Gesellschaft existieren nicht mehr, sind nicht einmal mehr bekannt. Hinzu kommt, daß die Einschnitte des Übergangs von Lebensphase zu Lebensphase heute einen anderen Charakter haben. Diese Übergänge werden psychisch häufig nachhaltig als Krise erlebt. In der psychologischen Forschung besteht Uneinigkeit darüber, ob diese Krisenerlebnisse nachhaltige psychische Schäden verursachen oder nicht. Für die zentrale Frage des Umgangs mit der Todestatsache sind indessen beide Ergebnisse gleichbedeutend: Wenn solche Lebenslaufkrisen, die nicht rituell bewältigt werden, nachhaltige psychische Schädigungen hinterlassen, dann kann dieses auch auf die fehlenden rituellen Leistungen zurückgeführt werden. Findet eine solche bleibende Prägung nicht statt, dann wird die Todestatsache durch den einzelnen offenbar überspielt. Er ist in der Lage, aufgrund welcher Mechanismen auch immer, diese zu verdrängen. Es kann als weitgehend gesichert gelten, daß beide Effekte auf das Ausbleiben ritueller Übergangsformen zurückgeführt werden können. Dafür sprechen im wesentlichen drei Beobachtungen in den modernen Industriegesellschaften:
- versuchte, aber mißlingende Transitionsriten (so haben die verbliebenen volkskirchlichen Riten in der Regel nur noch den Charakter von Familienfeiern und werden, wie zum Beispiel im Falle des "Brautraubs" am Hochzeitstage, nurmehr als Spiele durchgeführt);
- versuchte Selbsttransitionen (in den letzten Jahren sind, begünstigt durch die weite Verbreitung elektronischer Unterhaltungsmedien, zahllose Möglichkeiten entstanden, eine Transition selbst zu versuchen. So sind beispielsweise Horrorfilme oder auch Computerspiele, die den Spielenden auf eine "Bewährungsprobe" im Kampf mit simulierten Gegnern am Joystick veranlassen, durchaus als Ersatzversuche der Selbsttransition zu werten, die wegen ihres fehlenden Ernstcharakters natürlich nicht gelingen können; in dramatischer Weise haben sich in den letzten Jahren die Folgen dieses Transitionsbedürfnisses für Jugendliche zugespitzt, wenn man etwa an gewalttätige Ausschreitungen Jugendlicher gegen gesellschaftliche Minderheiten denkt);
- Formen des Auf-Dauer-Stehens versuchter Transitionen (das dauernde Mißlingen einer Überführung in die jeweils nächste Lebensphase des Erwachsenen führt zu einer tendenziell endlosen Wiederholung von Transitionsversuchen, die wir als Fernsehsucht, Spielsucht usw. beobachten können).

Aber die vergeblichen Versuche, in eine nächste Lebensphase zu gelangen, spielen sich nicht nur am Bildschirm des Fernsehers oder des Computers ab. Weil die beiden Merkmale des traditionellen zyklischen Lebenslaufs, Unumkehrbarkeit der Lebensphasen und Unwiederholbarkeit, verlorengegangen sind, hat das derart "ungeordnete" Lebenslaufschema eine sehr wichtige Funktion verloren: den Menschen nicht nur mit der Todestatsache zu versöhnen, sondern ihn erwachsen zu machen. Wenn es möglich ist, Lebenslaufmerkmale wie die Schwangerschaft oder die "Bewährung" in der gewalttätigen Handlung schon im Kindes- oder Jugendalter zu erleben, wenn es möglich ist, als Sechzigjähriger in der Volkshochschule die Haltung eines Schülers einzunehmen, und wenn es möglich ist, Lebenslaufphasen zu wiederholen, die Ehe, die außereheliche Sexualität, und wiederum die Phase des Lernens, dann kann eine Gesellschaft über gemeinsame Lebenslaufvorstellungen nicht mehr sinnstiftend, orientierend und mit anthropologischen Tatsachen versöhnend fungieren. Man kann das auch umgekehrt formulieren: Umkehrbarkeit und Wiederholbarkeit von Lebensphasen sind der Ausdruck dafür, daß die so desinteressierten Menschen womöglich unbewußt nach einer Ordnung in ihrem Leben suchen, die an einem allgemein verbürgten Schema verlorengegangen ist.

Wenn alles zu jeder Zeit passieren kann, dann ist zwar jedes Ereignis überraschend, weil die Überraschung aber der Regelfall ist, gibt es keine Überraschung mehr. Die Menschen werden dazu genötigt, sich den Ereignissen hinzugeben, auch wenn sie der Meinung sind, deren Herr zu sein.

Auf diese Weise begeben sich viele Menschen in den Industrieländern freiwillig-unfreiwillig in den Dauerstatus des Kindes. Diese Behauptung muß etwas näher erläutert werden: Die Verdrängung der Todestatsache wird im linearisierten Lebenslauf durch den Verzicht auf rituelle Überführungen, die mit dieser Tatsache bekanntmachen, total. Ergänzend wirken zahllose andere Verdrängungsmechanismen, wie die Versprechungen einer allheilenden-allheiligen Medizin, das Unauffälligmachen der Gestorbenen (Tote werden nicht mehr öffentlich aufgebahrt, Friedhöfe befinden sich am Rande der Städte) und eine allfällige Sicherheitspolitik, die uns unablässig suggeriert, vom Sicherheitsgurt über Kernkraftsicherheit bis zur militärischen Sicherung alles im Griff zu haben. Diese Exkommunikation des Todes aus unserem Leben benimmt uns eines wichtigen Lebensstatus: des Erwachsenenalters. Denn wenn die Bezeichnung, jemand sei erwachsen, einmal einen Sinn gehabt hat, dann nicht nur denjenigen, daß er zeugungsfähig, ausgelernt und beruflich erfolgreich ist, sondern auch den, daß ihm die kurze Spanne seines Lebens bewußt ist und daß er deshalb dieses Leben bewußt gestaltet und es nicht einfach nur lebt. Das Leben einfach zu leben, das ist Kindersache. Kinder müssen (noch) nicht an ihr Ende denken. Erwachsene in unserer entritualisierten, durch die Linearität des Lebens gekennzeichneten Kultur müssen das auch nicht. Sie sind diesbezüglich den Kindern gleich. Sie sind infantilisiert. Nirgendwo kommt dieses so nachhaltig zum Ausdruck wie in der endlosen Flut der Spiel-, Unterhaltungs- und Zerstreuungsmöglichkeiten, die unsere Kultur bietet. Nirgends wird dieses so sinnfällig wie in der unablässigen Feier des Kindes, die dieses "Jahrhundert des Kindes" uns beschert hat. Nirgends wird diese Tendenz so aufdringlich wie im Jugendkult und seiner Verachtung der alten Menschen, wenn diese sich nicht bemühen, jugendlich zu scheinen und zu diesem Zwecke ihr Geld zum kosmetischen Chirurgen, in die Modeboutique oder in das Büro für Fernreisen tragen. Dort, in der Südsee, auf den Bahamas oder auch nur in Gran Canaria oder Mallorca erleben sie dann, alterslos, das Paradies auf Erden und leben scheinbar ewig, weil der Tod aus ihrem Blickfeld geraten ist.

Bedauerlicherweise geht diese Paradiessimulation aber nicht einher mit paradiesischer Friedfertigkeit. Die besondere Vergünstigung meiner paradiesischen Lage wird mir, darauf hat schon Sokrates hingewiesen, nur erlebbar, wenn das Andere gleichzeitig sichtbar bleibt. Das Andere ist der Tod, das Leiden, die Gewalt, deren Erlebnis wir nunmehr aus sicherer Entfernung genießen können. So vermitteln uns die Nachrichtenbilder am Fernsehen durchaus Todeserfahrungen, und unsere Zustimmung zu Euthanasie und Abtreibung ist immer eine Zustimmung zum Tod der anderen, kein Ja-Sagen zum eigenen Tod. Könnte es so sein, daß unsere Tötungsbereitschaft, zumindest die Bereitschaft, den Tod der anderen hinzunehmen, steigt, wenn wir unseren eigenen Tod aus der Wirklichkeit des Lebenslaufs eliminiert haben?

Angesichts dieser Frage drängen sich Bilder des Jahres 1992 auf, in denen Gewalt gegen "die Anderen" gezeigt wurde, sichtbar wurde, und dieses insbesondere auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Angesichts der friedlichen Beseitigung der Diktatur ebendort erschien die hohe Gewaltbereitschaft weiter Kreise der Bevölkerung für viele überraschend. Und wo sie nicht rätselhaft war, da wurden auch gleich Erklärungen angeboten, wie wir sie aus gesellschaftstheoretischen Faschismusanalysen kennen, vor allem die Vermutung, hier würden Enttäuschungen über die eigene desolate soziale Lage auf Sündenböcke projiziert. Diese Einschätzung muß nicht falsch sein, aber sie ist unvollständig. Für die Gesellschaft der ehemaligen DDR galt nämlich, ähnlich wie für andere osteuropäische Länder, in sehr viel extremerer Weise das, was wir in den westeuropäischen Ländern hinsichtlich der Linearisierung des Lebenslaufes beobachten konnten. Hier war die Akzeptanz volkskirchlicher Riten sehr viel weiter zurückgedrängt. Hier waren Wiederholungen von Lebenslaufphasen z. B. durch höhere Scheidungsfrequenzen häufiger. Hier war die Feier einer Jugend, auf die alle Hoffnungen zukünftiger sozialistischer Entwicklungen projiziert wurden, Staatsreligion; nicht umsonst spielte der Pubertätsritus der Jugendweihe die entscheidende, nahezu einzige Überführungsrolle im sozialistischen Lebenslauf. Es war dieses die Überführung vom Jugendlichen in den Status eines Erwachsenen, der auf die Verpflichtungen gegenüber dem Sozialismus eingeschworen wurde. In einer Gesellschaftstheorie aber, in der wie in keiner zweiten auf Fortschritt und Zukunft gesetzt wurde, konnte für eine Gegenwärtigkeit der Tatsache des eigenen Todes, des eigenen Todes, kein Platz eingeräumt werden. Dadurch dürfte, verknüpft mit einer allfälligen Entmündigung der Bevölkerung, der Infantilisierungsprozeß jener DDR-Bürger demjenigen der Angehörigen westlicher Industriegesellschaften kaum nachgestanden haben, wenngleich auch aus anderen Gründen. Auch in dieser Gesellschaft spielte eine säkularisierte Paradiesvorstellung die Rolle, die sie in marktwirtschaftlichen Systemen spielt: Das Paradies auf Erden sollte die sozialistische Gesellschaft werden. Daß es dabei wohl weniger um die Ermöglichung grenzenlosen Konsums ging als um eine durch Gleichheit der Lebensverhältnisse erzeugte Utopie der Ruhe und Friedfertigkeit, ist strukturell und hinsichtlich der Effekte für die anderen vergleichsweise bedeutungslos: Die anderen waren in diesem Falle diejenigen, denen gegenüber Gewaltbereitschaft öffentlich lizensiert war, die Menschen in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern. Und in Formen der Staatsjugendorganisationen, der paramilitärischen Ausbildung für Jugendliche bis hin zu den Betriebskampfgruppen bot jener Staat hinreichend Möglichkeiten, den Tod als den Tod der anderen zu erleben und sich so ganz genau wie im Westen zu suggerieren, daß das eigene Leben davon unbetroffen sein würde.

Insofern speisen sich westliche wie östliche, am Bildschirm oder in der militärischen Übung simulierte Gewaltbereitschaft, westlicher wie östlicher Jugendkult, westliche wie östliche Fortschrittsideologie und westliche wie östliche Ignoranz gegenüber der kurzen Spanne des einen Lebens und der daraus erwachsenden Nötigung, es bewußt zu gestalten, aus derselben, christlichen Quelle, deren Säkularisierung ihren ursprünglichen Sinn zerstört hat und mit ihr und durch sie die Ordnung eines Lebenslaufs, in dem nichts mehr an den Tod und damit nichts mehr an das Leben erinnert.

© Dieter Lenzen, 1993

 
           
 
 
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