Viele der anderen
Riten aus der traditionellen Gesellschaft existieren nicht mehr,
sind nicht einmal mehr bekannt. Hinzu kommt, daß die Einschnitte
des Übergangs von Lebensphase zu Lebensphase heute einen
anderen Charakter haben. Diese Übergänge werden psychisch
häufig nachhaltig als Krise erlebt. In der psychologischen
Forschung besteht Uneinigkeit darüber, ob diese Krisenerlebnisse
nachhaltige psychische Schäden verursachen oder nicht. Für
die zentrale Frage des Umgangs mit der Todestatsache sind indessen
beide Ergebnisse gleichbedeutend: Wenn solche Lebenslaufkrisen,
die nicht rituell bewältigt werden, nachhaltige psychische
Schädigungen hinterlassen, dann kann dieses auch auf die
fehlenden rituellen Leistungen zurückgeführt werden.
Findet eine solche bleibende Prägung nicht statt, dann wird
die Todestatsache durch den einzelnen offenbar überspielt.
Er ist in der Lage, aufgrund welcher Mechanismen auch immer, diese
zu verdrängen. Es kann als weitgehend gesichert gelten, daß
beide Effekte auf das Ausbleiben ritueller Übergangsformen
zurückgeführt werden können. Dafür sprechen
im wesentlichen drei Beobachtungen in den modernen Industriegesellschaften:
- versuchte, aber mißlingende Transitionsriten (so haben
die verbliebenen volkskirchlichen Riten in der Regel nur noch
den Charakter von Familienfeiern und werden, wie zum Beispiel
im Falle des "Brautraubs" am Hochzeitstage, nurmehr
als Spiele durchgeführt);
- versuchte Selbsttransitionen (in den letzten Jahren sind, begünstigt
durch die weite Verbreitung elektronischer Unterhaltungsmedien,
zahllose Möglichkeiten entstanden, eine Transition selbst
zu versuchen. So sind beispielsweise Horrorfilme oder auch Computerspiele,
die den Spielenden auf eine "Bewährungsprobe" im
Kampf mit simulierten Gegnern am Joystick veranlassen, durchaus
als Ersatzversuche der Selbsttransition zu werten, die wegen ihres
fehlenden Ernstcharakters natürlich nicht gelingen können;
in dramatischer Weise haben sich in den letzten Jahren die Folgen
dieses Transitionsbedürfnisses für Jugendliche zugespitzt,
wenn man etwa an gewalttätige Ausschreitungen Jugendlicher
gegen gesellschaftliche Minderheiten denkt);
- Formen des Auf-Dauer-Stehens versuchter Transitionen (das dauernde
Mißlingen einer Überführung in die jeweils nächste
Lebensphase des Erwachsenen führt zu einer tendenziell endlosen
Wiederholung von Transitionsversuchen, die wir als Fernsehsucht,
Spielsucht usw. beobachten können).
Aber die vergeblichen Versuche, in eine
nächste Lebensphase zu gelangen, spielen sich nicht nur am
Bildschirm des Fernsehers oder des Computers ab. Weil die beiden
Merkmale des traditionellen zyklischen Lebenslaufs, Unumkehrbarkeit
der Lebensphasen und Unwiederholbarkeit, verlorengegangen sind,
hat das derart "ungeordnete" Lebenslaufschema eine sehr
wichtige Funktion verloren: den Menschen nicht nur mit der Todestatsache
zu versöhnen, sondern ihn erwachsen zu machen. Wenn es möglich
ist, Lebenslaufmerkmale wie die Schwangerschaft oder die "Bewährung"
in der gewalttätigen Handlung schon im Kindes- oder Jugendalter
zu erleben, wenn es möglich ist, als Sechzigjähriger
in der Volkshochschule die Haltung eines Schülers einzunehmen,
und wenn es möglich ist, Lebenslaufphasen zu wiederholen,
die Ehe, die außereheliche Sexualität, und wiederum
die Phase des Lernens, dann kann eine Gesellschaft über gemeinsame
Lebenslaufvorstellungen nicht mehr sinnstiftend, orientierend
und mit anthropologischen Tatsachen versöhnend fungieren.
Man kann das auch umgekehrt formulieren: Umkehrbarkeit und Wiederholbarkeit
von Lebensphasen sind der Ausdruck dafür, daß die so
desinteressierten Menschen womöglich unbewußt nach
einer Ordnung in ihrem Leben suchen, die an einem allgemein verbürgten
Schema verlorengegangen ist.
Wenn alles zu jeder Zeit passieren kann,
dann ist zwar jedes Ereignis überraschend, weil die Überraschung
aber der Regelfall ist, gibt es keine Überraschung mehr.
Die Menschen werden dazu genötigt, sich den Ereignissen hinzugeben,
auch wenn sie der Meinung sind, deren Herr zu sein.
Auf diese Weise begeben sich viele Menschen
in den Industrieländern freiwillig-unfreiwillig in den Dauerstatus
des Kindes. Diese Behauptung muß etwas näher erläutert
werden: Die Verdrängung der Todestatsache wird im linearisierten
Lebenslauf durch den Verzicht auf rituelle Überführungen,
die mit dieser Tatsache bekanntmachen, total. Ergänzend wirken
zahllose andere Verdrängungsmechanismen, wie die Versprechungen
einer allheilenden-allheiligen Medizin, das Unauffälligmachen
der Gestorbenen (Tote werden nicht mehr öffentlich aufgebahrt,
Friedhöfe befinden sich am Rande der Städte) und eine
allfällige Sicherheitspolitik, die uns unablässig suggeriert,
vom Sicherheitsgurt über Kernkraftsicherheit bis zur militärischen
Sicherung alles im Griff zu haben. Diese Exkommunikation des Todes
aus unserem Leben benimmt uns eines wichtigen Lebensstatus: des
Erwachsenenalters. Denn wenn die Bezeichnung, jemand sei erwachsen,
einmal einen Sinn gehabt hat, dann nicht nur denjenigen, daß
er zeugungsfähig, ausgelernt und beruflich erfolgreich ist,
sondern auch den, daß ihm die kurze Spanne seines Lebens
bewußt ist und daß er deshalb dieses Leben bewußt
gestaltet und es nicht einfach nur lebt. Das Leben einfach zu
leben, das ist Kindersache. Kinder müssen (noch) nicht an
ihr Ende denken. Erwachsene in unserer entritualisierten, durch
die Linearität des Lebens gekennzeichneten Kultur müssen
das auch nicht. Sie sind diesbezüglich den Kindern gleich.
Sie sind infantilisiert. Nirgendwo kommt dieses so nachhaltig
zum Ausdruck wie in der endlosen Flut der Spiel-, Unterhaltungs-
und Zerstreuungsmöglichkeiten, die unsere Kultur bietet.
Nirgends wird dieses so sinnfällig wie in der unablässigen
Feier des Kindes, die dieses "Jahrhundert des Kindes"
uns beschert hat. Nirgends wird diese Tendenz so aufdringlich
wie im Jugendkult und seiner Verachtung der alten Menschen, wenn
diese sich nicht bemühen, jugendlich zu scheinen und zu diesem
Zwecke ihr Geld zum kosmetischen Chirurgen, in die Modeboutique
oder in das Büro für Fernreisen tragen. Dort, in der
Südsee, auf den Bahamas oder auch nur in Gran Canaria oder
Mallorca erleben sie dann, alterslos, das Paradies auf Erden und
leben scheinbar ewig, weil der Tod aus ihrem Blickfeld geraten
ist.
Bedauerlicherweise geht diese Paradiessimulation
aber nicht einher mit paradiesischer Friedfertigkeit. Die besondere
Vergünstigung meiner paradiesischen Lage wird mir, darauf
hat schon Sokrates hingewiesen, nur erlebbar, wenn das Andere
gleichzeitig sichtbar bleibt. Das Andere ist der Tod, das Leiden,
die Gewalt, deren Erlebnis wir nunmehr aus sicherer Entfernung
genießen können. So vermitteln uns die Nachrichtenbilder
am Fernsehen durchaus Todeserfahrungen, und unsere Zustimmung
zu Euthanasie und Abtreibung ist immer eine Zustimmung zum Tod
der anderen, kein Ja-Sagen zum eigenen Tod. Könnte es so
sein, daß unsere Tötungsbereitschaft, zumindest die
Bereitschaft, den Tod der anderen hinzunehmen, steigt, wenn wir
unseren eigenen Tod aus der Wirklichkeit des Lebenslaufs eliminiert
haben?
Angesichts dieser Frage drängen sich
Bilder des Jahres 1992 auf, in denen Gewalt gegen "die Anderen"
gezeigt wurde, sichtbar wurde, und dieses insbesondere auf dem
Gebiet der ehemaligen DDR. Angesichts der friedlichen Beseitigung
der Diktatur ebendort erschien die hohe Gewaltbereitschaft weiter
Kreise der Bevölkerung für viele überraschend.
Und wo sie nicht rätselhaft war, da wurden auch gleich Erklärungen
angeboten, wie wir sie aus gesellschaftstheoretischen Faschismusanalysen
kennen, vor allem die Vermutung, hier würden Enttäuschungen
über die eigene desolate soziale Lage auf Sündenböcke
projiziert. Diese Einschätzung muß nicht falsch sein,
aber sie ist unvollständig. Für die Gesellschaft der
ehemaligen DDR galt nämlich, ähnlich wie für andere
osteuropäische Länder, in sehr viel extremerer Weise
das, was wir in den westeuropäischen Ländern hinsichtlich
der Linearisierung des Lebenslaufes beobachten konnten. Hier war
die Akzeptanz volkskirchlicher Riten sehr viel weiter zurückgedrängt.
Hier waren Wiederholungen von Lebenslaufphasen z. B. durch höhere
Scheidungsfrequenzen häufiger. Hier war die Feier einer Jugend,
auf die alle Hoffnungen zukünftiger sozialistischer Entwicklungen
projiziert wurden, Staatsreligion; nicht umsonst spielte der Pubertätsritus
der Jugendweihe die entscheidende, nahezu einzige Überführungsrolle
im sozialistischen Lebenslauf. Es war dieses die Überführung
vom Jugendlichen in den Status eines Erwachsenen, der auf die
Verpflichtungen gegenüber dem Sozialismus eingeschworen wurde.
In einer Gesellschaftstheorie aber, in der wie in keiner zweiten
auf Fortschritt und Zukunft gesetzt wurde, konnte für eine
Gegenwärtigkeit der Tatsache des eigenen Todes, des eigenen
Todes, kein Platz eingeräumt werden. Dadurch dürfte,
verknüpft mit einer allfälligen Entmündigung der
Bevölkerung, der Infantilisierungsprozeß jener DDR-Bürger
demjenigen der Angehörigen westlicher Industriegesellschaften
kaum nachgestanden haben, wenngleich auch aus anderen Gründen.
Auch in dieser Gesellschaft spielte eine säkularisierte Paradiesvorstellung
die Rolle, die sie in marktwirtschaftlichen Systemen spielt: Das
Paradies auf Erden sollte die sozialistische Gesellschaft werden.
Daß es dabei wohl weniger um die Ermöglichung grenzenlosen
Konsums ging als um eine durch Gleichheit der Lebensverhältnisse
erzeugte Utopie der Ruhe und Friedfertigkeit, ist strukturell
und hinsichtlich der Effekte für die anderen vergleichsweise
bedeutungslos: Die anderen waren in diesem Falle diejenigen, denen
gegenüber Gewaltbereitschaft öffentlich lizensiert war,
die Menschen in den imperialistischen und kapitalistischen Ländern.
Und in Formen der Staatsjugendorganisationen, der paramilitärischen
Ausbildung für Jugendliche bis hin zu den Betriebskampfgruppen
bot jener Staat hinreichend Möglichkeiten, den Tod als den
Tod der anderen zu erleben und sich so ganz genau wie im Westen
zu suggerieren, daß das eigene Leben davon unbetroffen sein
würde.
Insofern speisen sich westliche wie östliche,
am Bildschirm oder in der militärischen Übung simulierte
Gewaltbereitschaft, westlicher wie östlicher Jugendkult,
westliche wie östliche Fortschrittsideologie und westliche
wie östliche Ignoranz gegenüber der kurzen Spanne des
einen Lebens und der daraus erwachsenden Nötigung, es bewußt
zu gestalten, aus derselben, christlichen Quelle, deren Säkularisierung
ihren ursprünglichen Sinn zerstört hat und mit ihr und
durch sie die Ordnung eines Lebenslaufs, in dem nichts mehr an
den Tod und damit nichts mehr an das Leben erinnert.
© Dieter Lenzen, 1993