Dieter Lenzen
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
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Deutschland um 1900

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Man muß sich die Struktur und den Inhalt dieser Riten genauer ansehen, um deren Leistungsfähigkeit für die Orientierung innerhalb des Lebenslaufes nachvollziehen zu können. Wichtig ist dafür, daß der Transitionsritus nicht von dem Initianden bzw. der Initiandin selbst vollzogen werden kann, sondern immer von fremden Autoritäten, Vertretern der Lebensgemeinschaft, zu der die betreffenden Menschen gehören. Diese sind in besonderer Weise autorisiert und geeignet, einen solchen Ritus durchzuführen. Die Autorisation erwerben sie durch Weihen der Gemeinschaft und durch ihre über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Kenntnisse der Zusammenhänge von Leben und Tod. Der Transitionsritus selbst ist nun dadurch gekennzeichnet, daß der Initiand bzw. die Initiandin häufig aus seiner/ihrer gewohnten Umgebung entfernt wird. Dieses ist das rituelle Exil, wie wir es zum Beispiel in vielen Kulturen beim Pubertätsexil oder auch als Geburtsexil kennen. Die Entfernung aus der gewohnten Umgebung ist keine Urlaubsreise, sondern sie findet unter dramatischen Umständen, zum Beispiel als gewaltsame Entführung, statt. Der Initiand oder die Initiandin erlebt diese Exilation als eine dramatische Verunsicherung. Im Transitionsexil finden im wesentlichen zwei Ereignisse statt: Manipulationen, zum Teil sehr schmerzhafter Art, am Körper des Initianden bzw. der Initiandin und Belehrungen über die bevorstehende Lebensphase und über das, was die Gemeinschaft von dem Initianden erwartet. Diese Belehrungen sind uns heute noch nachvollziehbar. Als Brautunterricht oder Taufunterricht für die Eltern und Paten, auch in der Gestalt des Beileidsbesuchs eines Pfarrers bei den Hinterbliebenen eines Toten sind Reste dieser rituellen Belehrungen erhalten. Denn dieses ist vollkommen klar: In solchen Veranstaltungen wird nicht wirklich gelernt, sondern ein Übergang "gefeiert". Die körperlichen Manipulationen hatten nun einen wichtigen, vermutlich den wichtigeren Sinn: Sie veränderten die Gestalt des Initianden. Der Beschneidungsritus gehört hierhin, aber in vielen ursprünglichen Kulturen auch noch Formen der Tätowierung, des Abfeilens der Zähne usw. Wenn man sich die Erlebnisqualität dieser Ereignisse für die Betroffenen anschaut, dann wird ihre Bedeutung sinnfällig: Entfernung aus der gewohnten Umgebung, schmerzhafte Manipulationen, Belehrungen über die Zukunft lösen bei diesen Menschen Ängste aus. Sie werden sichtbar verändert, sie werden als die Menschen der vorangegangenen Lebensphase symbolisch getötet, um als Veränderte in die Gemeinschaft zurückzukehren. Sie sind andere geworden.

Markant formuliert: Der Mensch der Lebensphase 1 ist getötet und als Mensch der Lebensphase 2 wiedergeboren worden. Genau genommen handelt es sich also um Riten von Tod und Wiedergeburt, die die ewige Zyklizität des Lebens, des individuellen wie des Lebens überhaupt, symbolisieren und vor allen Dingen nachfühlbar machen. Dieses dramatische Todeserlebnis enthält für die Betroffenen aber auch eine Tröstung: Sie sterben nicht wirklich, sie überleben, ja sie überleben sogar in einer Art "geläuterter" Form. Sie sind aufgestiegen, sie sind "erwachsener" als vorher. Dem dramatischen und schmerzhaften Todeserlebnis wird sein Schrecken durch die Tröstung, das Versprechen eines neuen Lebens, genommen. Für dieses Erlebnis der Sicherheit und Zuversicht sind die Menschen bereit gewesen, erhebliche Einschränkungen, Schmerzen und Fremdbestimmungen auf sich zu nehmen. Und: Die Gemeinschaft, in die die Initiierten zurückkehren, billigt ihnen nunmehr neue Rechte, die Rechte der neuen Lebensphase zu.

In der Verbindung der drei Elemente des traditionellen zyklischen Lebenslaufs wird also seine Leistungsfähigkeit deutlich: Eine relativ hohe Zahl nicht sehr langer Lebensphasen, die als solche in ihrer Abfolge unumkehrbar und nicht wiederholbar sind, verdeutlicht und nachfühlbar gemacht durch dramatische Riten, die die Todestatsache erfahrbar machen und zugleich mit ihr versöhnen. Am Ende steht immer das Leben.

Diese Verhältnisse haben sich nun im historischen Verlauf, insbesondere der letzten zweihundert Jahre, verstärkt aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und hier insbesondere in den Industriegesellschaften, nachhaltig geändert. Nichts ist in diesem Sinne mehr "in Ordnung". Alles kann jederzeit geschehen, und am Ende steht nicht das Leben, sondern der Tod, dieses wollen wir aber nicht wahrhaben.

Wie ist es dazu gekommen? - Vielleicht muß man noch einmal auf das Bild der Lebenstreppe zurückkommen. Einerseits enthielt es in seinem Auf und Ab noch die Vorstellung vom Verfall, ohne aber die Tröstung der Zyklizität zu enthalten. Aber bei diesem Bild ist es nicht geblieben. Die wissenschaftliche, insbesondere psychologische Literatur des 20. Jahrhunderts skizziert den Lebenslauf häufig nur noch als Aufstieg und unterschlägt die Todestatsache gänzlich (vgl. die folgende Abbildung).

Dieser lineare Aufstieg als Muster des modernen Lebenslaufs ist die konsequente Fortführung des christlichen Bewährungsgedankens. Für die Christen war die naturalistische,


an der Himmelsdrehung orientierte Weltsicht von der ewigen Wiederkehr des Gleichen unter keinen Umständen akzeptabel. Damit wäre die Einmaligkeit des Opfertodes Christi in Frage gestellt worden, wenn die Geschichte sich immer wiederholte. Dieser Opfertod deutet ebenso wie Schöpfung, Sündenfall und Jüngstes Gericht auf die Notwendigkeit einer linearen Zeitvorstellung innerhalb der christlichen Religion. Für die Christen ist der Tod nicht der Ort des Wiederbeginns weiteren Lebens, sondern das Ziel, die Linearität der Endlosigkeit des ewigen Lebens. Um in diese Endlosigkeit überführt zu werden, sind innerhalb der Spanne des kurzen Lebens Lizenzen zu erwerben, der Mensch muß sich bewähren durch seine Lebensführung. Wenn er dieses tut, dann "führt" das Leben ihn zur ewigen Glückseligkeit. Wir sehen: Zyklizität des Lebenslaufs und christliche Religion vertragen einander nicht. Wer an Christus glaubt, muß sich seinen Lebenslauf als linearen vorstellen. Diese aufwärtsgerichtete Geradheit des Lebens funktionierte nun aber sowohl für die Individuen als auch die Gesellschaft nur so lange, als sie mit dem unverbrüchlichen Glauben an das ewige Leben und die Notwendigkeit eines darauf ausgerichteten Lebens auf Erden verbunden war. Als dieser Glaube zu brechen begann, ohne daß sich die Linearitätsvorstellung änderte, entstand die Quelle jener "Unordnung", die für die zeitgenössischen Menschen so verwirrend und belastend geworden ist, ohne daß sie sich über deren Ursachen in der Regel im klaren sind.

Der Säkularisierungsprozeß hat zwar die Vorstellung von der Linearität des Lebenslaufes nicht beeinträchtigt, ganz im Gegenteil, sie ist bekräftigt worden durch eine inzwischen ganz unchristliche Leistungs- und Arbeitsethik, die auf Aufstieg, Fortschritt, Beschleunigung und auf Zukunft ausgerichtet ist. Gleichzeitig hat der Säkularisierungs- und Industrialisierungsprozeß seit dem Ende des 19. Jahrhunderts alle anderen Merkmale des traditionellen Lebenslaufs aber nachhaltig verändert.

So ist zunächst die Zahl der eindeutig erlebten und erlebbaren Lebensphasen drastisch gesunken. Volkskirchliche Riten stehen nur noch an der Schwelle einer geringen Zahl von Lebensphasen: Die Taufe, die Eheschließung, die Konfirmation und kirchliche Bestattungen. Soweit dazu statistische Ergebnisse vorliegen, kommt hinzu, daß längst nicht jeder Bürger diese Transitionsriten in Anspruch nimmt. Die Abbildung 2 zeigt das Verhältnis von staatlichen und kirchlichen rituellen Übergängen für die alte Bundesrepublik im Jahr 1982. Der Anteil der kirchlich vorgenommenen Transitionsriten sinkt. Einen säkularisierten Ersatz gibt es nur in Form der standesamtlichen Trauung, nicht für den Eintritt oder Austritt in das bzw. aus dem Leben:

 
           
 
 
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