Damit die Charakterisierung des traditionellen
Lebenszyklus nicht mißverstanden wird, muß auf eines
noch einmal hingewiesen werden: Es geht nicht um eine Beschreibung
der Lebenswirklichkeit jener Zeit. Wir wissen alle, daß
es zahllose außereheliche Kinder gab, so daß also
sehr wohl eine Lebensphase der anderen vorgezogen wurde. Aber
wir wissen auch, daß diese Umkehrung nicht lizensiert war,
ja daß die fehlende Bereitschaft der Gesellschaft, eine
solche Umkehrung zu akzeptieren, noch im 18., ja 19. Jahrhundert
dazu führte, daß ledige Mütter ihr Neugeborenes
aus Angst vor Entdeckung töteten und nicht selten als Kindsmörderinnen
vor Gericht gestellt wurden oder daß uneheliche Kinder in
Findelhäuser oder "Pflegestellen" gegeben wurden,
wo sie vernachlässigt wurden oder gar verhungerten. Das Bedürfnis,
die offizielle Lebenslaufordnung stabil zu halten, war also so
massiv, daß in einer ja noch sehr christlich geprägten
Gesellschaft selbst vor dem Bruch des Tötungsverbots nicht
zurückgeschreckt wurde. Die kleinen "Bankerts",
die auf der Bank mit den Mägden gezeugten Kinder, störten
eine Lebenslaufordnung, die den Zeitgenossen sehr wichtig gewesen
sein muß. Man kann versuchen, dieses mit sozialtheoretischen
Hypothesen zu erklären. So mag die Ordnung als solche und
ihre Einhaltung die Sicherung der Herrschaftsträger erleichtert
haben. Aber es kommt wohl eine viel heftiger wirkende anthropologische
Motivation hinzu. Die Destabilisierung der Lebenslaufordnung hätte
eine fundamentale, religiös verbürgte Sicherheit gefährdet,
die für jeden einzelnen Menschen unverzichtbar war: die Sicherheit,
daß der Tod, der sichere Tod, so grauenvoll nicht ist, wie
man ihn als Lebender fürchten mußte, wenn man ihn nicht
kannte.
Den Tod zu kennen, ihn kennenzulernen, war
deshalb die dritte, eigentlich wichtigste Funktion der zyklischen
Lebenslaufordnung. Diese anthropologische Leistung eines strikt
geordneten Lebenslaufes begreift man nur, wenn man sich die alltägliche
Praxis des Fortschreitens innerhalb dieses Lebenslaufs, des Übergangs
von Lebensphase zu Lebensphase, vor Augen führt. Woher wußten
die Menschen, in welcher Lebensphase sie sich befanden? Woher
wußten sie, wie nahe sie schon oder wie ferne sie noch dem
Tode sind? - Dieses Bewußtsein konnte nur vermittelt werden,
indem eine über das Wissen von Leben und Tod verfügende
Autorität ihnen sagte, wo sie stehen. Diese Autorität
war die Kirche, allgemeiner, die Priester, Pfarrer, eben Agenten
der Kirche und später, in säkularisierter Form, der
Staat. Diese Autoritätsträger sagten aber nicht lediglich
den Menschen, in welcher Lebensphase sie sich befanden, sondern
ein wesentlicher Bestandteil ihres Amtes bestand darin, die Menschen
von Lebensphase zu Lebensphase zu transformieren, zu definieren,
zu bestimmen, in welcher Lebensphase man sich befand. Die Tätigkeit,
die solche Definitionen fühlbar macht, ist der Ritus und
der mit ihm verbundene Kult. - Für jeden Übergang von
einer Lebensphase in die andere besaß die traditionelle
Gesellschaft einen Ritus. Beispiele seien genannt, solche, die
wir noch kennen, und solche, die uns heute unbekannt sind:
So war der Übergang vom Tod in das
Leben, die Geburt, von Reinigungsriten begleitet, ebenso war für
die Mutter der Übergang von der Entbindung zur Mutterschaft,
die Wöchnerinnenzeit, gleichfalls durch Reinigungsriten markiert,
nach deren Vollzug sie allererst wieder bestimmte Handlungen vollziehen
durfte, zum Beispiel das Betreten eines Gotteshauses. Der Übergang
des neugeborenen Kindes in die frühe Kindheit war markiert
durch den Taufritus, verbunden mit der Namengebung. Der Übergang
von der frühen Kindheit in das Schulalter ist eine späte
"Erfindung", die heilige Erstkommunion markierte zumindest
für den katholischen Raum den religiösen Übergang.
Die Transition in das "Lehrlingsalter" war noch im Mittelalter,
aber auch später, von unterschiedlichen Riten der Lehrlingsaufnahme
begleitet, in gleicher Weise der Abschluß dieser Ausbildungsphase.
In einigen Handwerksberufen, z.B. dem des Druckers, sind Reste
solcher Tradition erhalten, wenn die Absolventen der Druckerlehre
"gegautscht" werden. Die Lebensphase der Wanderschaft
des "Gesellen" war nicht nur eine Ergänzung der
Ausbildung, sondern vor allem eine Erfüllung des antiken
Mythos von der "Heldenfahrt", der eigentlichen Bewährung
vor dem Übertritt in das Erwachsenenleben. Für dieses
war die Begegnung mit dem anderen Geschlecht sicher das hervorragende
Merkmal. So gab es eine durchaus voreheliche Sexualität in
ritualisierter Form, etwa der sogenannten "Komm-Nächte",
die mit verschiedenen Partnern vollzogen wurden. Die Entscheidung
für den einen Partner/die eine Partnerin führte zur
Hochzeit, die aber nicht gleichbedeutend mit einem Übergang
in die Phase der Kindeszeugung war. Dafür hielt die Kirche
noch zusätzliche Riten, Fruchtbarkeitsriten, zum Teil heidnischen
Ursprungs, bereit, die der Priester an den Eheleuten vollzog.
Die eingetretene Schwangerschaft wurde nicht irgendwie "bemerkt",
sondern durch Autoritäten der Gemeinschaft festgestellt und
"definiert". Nicht selten wurde die Schwangere im Verlauf
dieser Lebensphase außerhalb ihrer gewohnten Umgebung rituellen
Belehrungen über die künftige Lebensphase ausgesetzt,
wie auch der Geburtsvorgang, wenn er etwa im "Geburtsexil",
also außerhalb des Hauses stattfand, mit nachhaltigen rituellen
Erlebnissen verbunden war.