Dieter Lenzen
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
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Deutschland um 1900

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Damit die Charakterisierung des traditionellen Lebenszyklus nicht mißverstanden wird, muß auf eines noch einmal hingewiesen werden: Es geht nicht um eine Beschreibung der Lebenswirklichkeit jener Zeit. Wir wissen alle, daß es zahllose außereheliche Kinder gab, so daß also sehr wohl eine Lebensphase der anderen vorgezogen wurde. Aber wir wissen auch, daß diese Umkehrung nicht lizensiert war, ja daß die fehlende Bereitschaft der Gesellschaft, eine solche Umkehrung zu akzeptieren, noch im 18., ja 19. Jahrhundert dazu führte, daß ledige Mütter ihr Neugeborenes aus Angst vor Entdeckung töteten und nicht selten als Kindsmörderinnen vor Gericht gestellt wurden oder daß uneheliche Kinder in Findelhäuser oder "Pflegestellen" gegeben wurden, wo sie vernachlässigt wurden oder gar verhungerten. Das Bedürfnis, die offizielle Lebenslaufordnung stabil zu halten, war also so massiv, daß in einer ja noch sehr christlich geprägten Gesellschaft selbst vor dem Bruch des Tötungsverbots nicht zurückgeschreckt wurde. Die kleinen "Bankerts", die auf der Bank mit den Mägden gezeugten Kinder, störten eine Lebenslaufordnung, die den Zeitgenossen sehr wichtig gewesen sein muß. Man kann versuchen, dieses mit sozialtheoretischen Hypothesen zu erklären. So mag die Ordnung als solche und ihre Einhaltung die Sicherung der Herrschaftsträger erleichtert haben. Aber es kommt wohl eine viel heftiger wirkende anthropologische Motivation hinzu. Die Destabilisierung der Lebenslaufordnung hätte eine fundamentale, religiös verbürgte Sicherheit gefährdet, die für jeden einzelnen Menschen unverzichtbar war: die Sicherheit, daß der Tod, der sichere Tod, so grauenvoll nicht ist, wie man ihn als Lebender fürchten mußte, wenn man ihn nicht kannte.

Den Tod zu kennen, ihn kennenzulernen, war deshalb die dritte, eigentlich wichtigste Funktion der zyklischen Lebenslaufordnung. Diese anthropologische Leistung eines strikt geordneten Lebenslaufes begreift man nur, wenn man sich die alltägliche Praxis des Fortschreitens innerhalb dieses Lebenslaufs, des Übergangs von Lebensphase zu Lebensphase, vor Augen führt. Woher wußten die Menschen, in welcher Lebensphase sie sich befanden? Woher wußten sie, wie nahe sie schon oder wie ferne sie noch dem Tode sind? - Dieses Bewußtsein konnte nur vermittelt werden, indem eine über das Wissen von Leben und Tod verfügende Autorität ihnen sagte, wo sie stehen. Diese Autorität war die Kirche, allgemeiner, die Priester, Pfarrer, eben Agenten der Kirche und später, in säkularisierter Form, der Staat. Diese Autoritätsträger sagten aber nicht lediglich den Menschen, in welcher Lebensphase sie sich befanden, sondern ein wesentlicher Bestandteil ihres Amtes bestand darin, die Menschen von Lebensphase zu Lebensphase zu transformieren, zu definieren, zu bestimmen, in welcher Lebensphase man sich befand. Die Tätigkeit, die solche Definitionen fühlbar macht, ist der Ritus und der mit ihm verbundene Kult. - Für jeden Übergang von einer Lebensphase in die andere besaß die traditionelle Gesellschaft einen Ritus. Beispiele seien genannt, solche, die wir noch kennen, und solche, die uns heute unbekannt sind:

So war der Übergang vom Tod in das Leben, die Geburt, von Reinigungsriten begleitet, ebenso war für die Mutter der Übergang von der Entbindung zur Mutterschaft, die Wöchnerinnenzeit, gleichfalls durch Reinigungsriten markiert, nach deren Vollzug sie allererst wieder bestimmte Handlungen vollziehen durfte, zum Beispiel das Betreten eines Gotteshauses. Der Übergang des neugeborenen Kindes in die frühe Kindheit war markiert durch den Taufritus, verbunden mit der Namengebung. Der Übergang von der frühen Kindheit in das Schulalter ist eine späte "Erfindung", die heilige Erstkommunion markierte zumindest für den katholischen Raum den religiösen Übergang. Die Transition in das "Lehrlingsalter" war noch im Mittelalter, aber auch später, von unterschiedlichen Riten der Lehrlingsaufnahme begleitet, in gleicher Weise der Abschluß dieser Ausbildungsphase. In einigen Handwerksberufen, z.B. dem des Druckers, sind Reste solcher Tradition erhalten, wenn die Absolventen der Druckerlehre "gegautscht" werden. Die Lebensphase der Wanderschaft des "Gesellen" war nicht nur eine Ergänzung der Ausbildung, sondern vor allem eine Erfüllung des antiken Mythos von der "Heldenfahrt", der eigentlichen Bewährung vor dem Übertritt in das Erwachsenenleben. Für dieses war die Begegnung mit dem anderen Geschlecht sicher das hervorragende Merkmal. So gab es eine durchaus voreheliche Sexualität in ritualisierter Form, etwa der sogenannten "Komm-Nächte", die mit verschiedenen Partnern vollzogen wurden. Die Entscheidung für den einen Partner/die eine Partnerin führte zur Hochzeit, die aber nicht gleichbedeutend mit einem Übergang in die Phase der Kindeszeugung war. Dafür hielt die Kirche noch zusätzliche Riten, Fruchtbarkeitsriten, zum Teil heidnischen Ursprungs, bereit, die der Priester an den Eheleuten vollzog. Die eingetretene Schwangerschaft wurde nicht irgendwie "bemerkt", sondern durch Autoritäten der Gemeinschaft festgestellt und "definiert". Nicht selten wurde die Schwangere im Verlauf dieser Lebensphase außerhalb ihrer gewohnten Umgebung rituellen Belehrungen über die künftige Lebensphase ausgesetzt, wie auch der Geburtsvorgang, wenn er etwa im "Geburtsexil", also außerhalb des Hauses stattfand, mit nachhaltigen rituellen Erlebnissen verbunden war.

 
           
 
 
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