III. Nostalgie statt politischer
Aufarbeitung der Vergangenheit
In den Besucherbüchern überwiegen
Bedauern angesichts der verlorenen Lebenswelten und Rückwärtsgewandtheit.
Der gerade von Analytikern des Zeitgeschehens oft geforderte nüchterne,
kritische Blick auf die Zustände im realexistierenden Sozialismus
ist kaum vorhanden, und Einflüsse einer in diesem Sinne wirkenden
(schulischen) politischen Bildung sind nicht zu erkennen, denn
nur sehr selten wird in einem Ost-West-Systemvergleich von den
DDR-Bürgern ihr Staat genau betrachtet und (im analytischen
Sinne) mit dem westlichen Gesellschaftssystem verglichen.
Es erschreckt, daß nur wenige der
Ausstellungsbesucher aus der ehemaligen DDR das Ende ihres Staates
auch als Chance für die eigene Entwicklung darstellen, die
mit dem Fall der Mauer neue Perspektiven und Horizonte erhielt.
Die Diskrepanz zwischen der allenthalben in den Kulturzeitschriften
und auf dem Büchermarkt eingeklagten Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit
und den Aufgaben, die in den Besucherbüchern als notwendig
zu bewältigen deklariert werden, ist frappant. Forderte erst
jüngst wieder der Theologe und CDU-Bundestagsabgeordnete
Rainer Eppelmann die "Aufarbeitung der Geschichte",
die den ehemaligen DDR-Bürgern "niemand abnehmen"
könne, so herrschen in den Besucherbüchern Stimmungen
und Wahrnehmungen vor, die sich in Empörung über (vermeintlich
oder tatsächlich erlittene) Ungerechtigkeiten ergehen.
Von der Geschichte betrogen worden zu sein,
zufällig auf der falschen Seite gelebt zu haben, dies taucht
als Muster der Vergangenheitsinterpretation häufig auf: So
schreibt ein kurz nach Kriegsende im östlichen Deutschland
geborener Mann, daß viele Menschen "heute noch nicht
begriffen haben, daß uns der Kommunismus als Folge des Faschismus
und des Zweiten Weltkrieges aufgezwungen wurde. Ich bin 1946 geboren
(in Deutschland), war niemals für ein kommunistisches System
eingestellt, wurde also 40 Jahre unschuldig zum Kommunismus gezwungen.
Gleichaltrige im Westen dagegen hatten die Wahl!" (9: 24.06.
93, m, Ostdeutschland) Von ihnen fühlt sich der Schreiber
schlecht behandelt: "Trotzdem fühlt man sich als Mensch
II. Klasse durch das arrogante Verhalten vieler ,Wessis`. Heute
würde ich auf eine Wiedervereinigung verzichten und wenn
es mir schlechter gehen würde!" (Ebd.)
Ein nachfolgender Besucher merkt dazu an:
"Der gute Mann hat im Prinzip recht, nur sollte er Haß
und Bitterkeit denjenigen gegenüber empfinden, die die katastrophalen
Folgen des Sozialismus-Experiments verursacht haben. Sie leben
heute noch 'und das wohl nicht einmal schlecht." (9: nach
24.06.93, m, Westdeutschland?) Hier wird dem restaurativen Wunsch
nach Rückkehr zu den alten Verhältnissen entgegengehalten,
man solle sich die Personen anschauen, denen man die ganze Misere
zu verdanken habe.
Nicht das Regime wird kritisiert, nicht
die strukturellen Hintergründe, sondern als Kränkung
wird beklagt, daß man altbekannten Personen aus der DDR
in neuen entscheidungsrelevanten Positionen begegnet: "Mai
1993 im Stolpe-Land - Ich fragte beim Schulamt nach Arbeit an
(ich hatte nie gekündigt!). Ich war Regimekritiker der DDR.
Eine verschmitzt lächelnde Kreisschulrätin holte den
Personalchef mit der Bemerkung: ,Ja, es ist der alte!` Tatsächlich,
es war der alte Genosse Kaderleiter! Welche Chance ich dann hatte
- dazu keine Äußerung als Regimekritiker der DDR."
(9: 07.07. 93, m, Ostdeutschland) Das Land wird mit seinem Regenten
synonym gesetzt ("StolpeLand").
Vergangenheitsbewältigung,
wie sie jüngst von Günter Wichert, Wolfgang Thierse
und Michael Wolffsohn vorgeschlagen wurde, kann da womöglich
gar nicht greifen. Wer "den Kern der Systemstrukturen"
aufdecken will, kann sich nicht sicher sein, damit auch etwas
zum besseren Umgang mit den erlittenen Kränkungen, Demütigungen
und Diskriminierungen in die Hand zu bekommen. "Die Analyse
des Systems und seiner Mechanismen wird vieles aufklären",
meint Thierse , aber er gibt gleichzeitig zu bedenken, daß
mit der Rekonstruktion der Strukturen nicht alles geleistet sei.
Sein Plädoyer für den "Dialog des Austausches von
Biographien, in dem hoffentlich andere Maßstäbe gelten
als bei der Bewertung von ökonomischen und politischen Verhältnissen",
findet jedenfalls in den Aufzeichnungen aus den Gästebüchern
einigen Halt. Denn diese rekurrieren in der Vergangenheitsbewältigung
kaum auf das "System", sondern auf die Biographie, auf
Personen und Begegnungen.