Hans Bertram
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Die Familie in den alten und neuen Bundesländern
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Deutschland um 1900

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Hans Bertram


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Die Benachteiligung der Frauen

Hat es sich im vorhergehenden Abschnitt gezeigt, daß die forcierte Integration der Frauen und Mütter in das Erwerbsleben in der früheren DDR keinesfalls den Lebensvorstellungen der Mehrheit der Mütter und Väter in den neuen Bundesländern entspricht, kann man bei der Analyse der Einkommen feststellen, daß auch hier trotz etwa gleicher beruflicher Belastung die Benachteiligung der Frauen im Erwerbsleben keineswegs aufgehoben war.

1988 lag das persönliche Nettoeinkommen der Männer aus den westdeutschen Dienstleistungszentren bei circa DM 4.000,- und das der Frauen bei circa DM 2.200,-. Da Frauen im Durchschnitt drei Viertel der Erwerbsarbeitszeit der Männer aufweisen, hätten sie auch durchschnittlich drei Viertel des Einkommens verdienen müssen. Sie erreichten aber nur 56 Prozent des Einkommens der Männer. Diese geschlechtsspezifische Benachteiligung in den westdeutschen Dienstleistungszentren ist nicht nur ein Ergebnis dieser Studie, sondern häufig in der Literatur nachgewiesen worden. Die von uns untersuchten Frauen sind ausbildungsmäßig und auch positionell überwiegend in der oberen bis mittleren Hälfte der Berufspositionen angesiedelt, was in etwa ja auch der Berufsstruktur der Dienstleistungszentren entspricht. Trotz dieser beruflichen Fortschritte bedeutet die Bereitschaft, auf einen Teil der Arbeitszeit zu verzichten, um Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, auch in den Dienstleistungszentren eine extreme ökonomische Benachteiligung.

Ein Vergleich der Einkommensrelationen in den neuen Bundesländern ist nicht unproblematisch, da sich die Einkommensstrukturen der alten und der neuen Bundesrepublik gegenwärtig überlagern. Frauen mit einer durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden verdienten in Leipzig im Frühjahr 1992 circa DM 1.350,- gegenüber circa DM 1.850,- bei den Männern mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von circa 42 Stunden. Für rund 90 Prozent der Arbeitszeit der Männer erhalten Frauen circa 73 Prozent des Lohnes.

Die forcierte Gleichstellungspolitik der früheren DDR hat also ebenfalls nicht dazu geführt, daß Frauen einkommensmäßig mit den Männern gleichgezogen haben. Solange diese Diskriminierung der Frauen im beruflichen Bereich, für die die ökonomische Benachteiligung nur ein Indikator ist, nicht abgebaut wird, ist auch davon auszugehen, daß die von den Frauen selbst gewünschten Modelle der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur eine geringe Zukunftschance haben werden. Gegenwärtig können diese Vorstellungen nur realisiert werden, wenn man beruflich erhebliche Nachteile für sich in Kauf nimmt. Selbst die in den Dienstleistungszentren ansatzweise zu beobachtende in etwa gleiche zeitliche Belastung der Männer und Frauen wird sich als Modell zukünftiger Familienform kaum durchsetzen können, weil jede junge qualifizierte Frau immer wieder damit konfrontiert wird, daß sie sich angesichts der Erziehung der eigenen Kinder beruflichen Diskriminierungsprozessen ausgesetzt sieht.

Für die Leipziger Frauen kann man davon ausgehen, daß sie auf der einen Seite gewinnen und auf der anderen verlieren werden, falls sich die Dienstleistungsstrukturen nach westlichem Muster durchsetzen. Zum einen wird die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze deutlich ausgeweitet werden, weil ihr Anteil, insbesondere im Dienstleistungsbereich, relativ hoch ist. Man kann darüber hinaus vermuten, daß sie Zeit gewinnen, weil sich die zeitliche Belastung durch den Beruf reduzieren wird, und sie können auf eine bessere Betreuungssituation der Kinder zurückgreifen. Ostdeutsche Frauen werden aber insofern verlieren, als sich jene traditionellen ökonomischen Ungleichheitsrelationen zwischen Mann und Frau, die in den fortgeschrittenen Dienstleistungszentren der Bundesrepublik bestehen, aufgrund der Übertragung westdeutscher Tarif- und Berufspositionssysteme in gleicher Weise auswirken werden wie in den westdeutschen Dienstleistungszentren.

Die sozialen Beziehungen innerhalb von Familien

Bisher wurden nur die äußeren Formen von Familie wie Familienstand, zeitliche Arbeitsteilung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutiert. Mindestens ebenso wichtig für die Analyse von familialen Lebensformen ist aber die Frage, wie Familienmitglieder miteinander umgehen und welche Beziehungen sie zueinander haben.

Solche Fragestellungen, die sich in der Regel in empirischen Untersuchungen nur schwer nachprüfen lassen, haben wir in den westdeutschen Dienstleistungszentren und Leipzig wie folgt analysiert: Alle Befragten wurden gebeten, eine beliebige Anzahl von Personen (im Durchschnitt wurden sieben bis acht Personen genannt) zu nennen, die einem einfallen, wenn man über Freunde, Verwandte und Bekannte nachdenkt. Anschließend wurde danach gefragt, was man mit diesen Personen im einzelnen mache. Hierzu wurden eine Reihe von Aktivitäten vorgegeben, die von persönlichen Gesprächen über gemeinsame Mahlzeiten, Freizeit, persönliche Beziehungen bis hin zu finanziellen Unterstützungen reichten. Erst in einem dritten Schritt wurde erfragt, in welcher verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen oder befreundeten Beziehung man nun tatsächlich zu der jeweils genannten Person stehe. Auf diese Weise läßt sich genau prüfen, bei welchen Aktivitäten welche Art von Personen genannt wurden, ohne daß diese Personen vorgegeben worden wären.

Der Anteil jener Aktivitäten, zu denen die eigenen Kinder genannt wurden, wurde jeweils bezogen auf das Lebensalter des jüngsten Kindes, um zu prüfen, ob die Kinder in den einzelnen Situationen in Abhängigkeit vom Alter unterschiedlich häufig genannt werden.
Zunächst ist es nicht verwunderlich, daß bei den Gesprächen, die man führt, Kinder dann, wenn das jüngste Kind unter zwei Jahren alt ist, so gut wie nicht genannt werden. Es ist auch nachvollziehbar, daß bei gemeinsamen Mahlzeiten Kinder mit zunehmendem Alter häufiger genannt werden, während bei Gefühlen die Häufigkeit der Nennungen bis zum 14. Lebensjahr ansteigt, um danach deutlich abzusinken, was als Indikator für die zunehmenden Ablösungsprozesse von den Eltern interpretiert werden kann. Gleiches gilt im übrigen auch für die Freizeit, die bis zum 14. Lebensjahr überwiegend mit den Kindern verbracht wird, während diese Prozentsätze bei den älteren Kindern deutlich zurückgehen.

Vergleicht man dies nun mit Leipzig, folgt das Muster bei Gesprächen in etwa demjenigen in den westdeutschen Dienstleistungszentren, allerdings mit dem Unterschied, daß Kinder in Leipzig häufiger genannt werden als in den westdeutschen Dienstleistungszentren. Das gleiche gilt für Mahlzeiten, Gefühle und Freizeit. Es läßt sich feststellen, daß aus der Sicht der Befragten Kinder in Leipzig häufiger als in den westdeutschen Dienstleistungszentren genannt werden, wenn es um gemeinsames Essen, um gefühlsmäßige Bindung oder Freizeit geht. Dabei fällt auf, daß der in den westdeutschen Dienstleistungszentren aus der Sicht der Eltern mit dem 15. bis 17. Lebensjahr einsetzende Ablösungsprozeß bei den Leipziger Kindern nicht zu beobachten ist. Offenkundig ist in diesen Altersgruppen die Bindung an die Eltern enger als in den westdeutschen Dienstleistungszentren.

Wenn man diese Ergebnisse mit den Anstrengungen in der DDR vergleicht, die Kinder und Jugendlichen aus dem Elternhaus herauszuholen und sie einer vergesellschafteten Form der Erziehung zu unterwerfen, läßt sich bezüglich unserer Leipziger Befragten feststellen, daß diese Politik keinen Erfolg gehabt haben kann. Die Familienbindungen sind hier eher stärker als schwächer ausgeprägt.

Dieses Ergebnis stimmt interessanterweise mit einer Beobachtung überein, die Helmut Schelsky in den fünfziger Jahren formuliert hat, als er feststellte, daß offensichtlich Familien und Familienmitglieder, wenn sie von Staat und Gesellschaft extrem beansprucht werden, eher die Reaktion zeigen, sich auf sich selbst zurückzuziehen, da jene Freiräume nur im Kontext der vertrauten Familie erhalten werden können. In solchen Beanspruchungssituationen scheint es so etwas wie eine Eigenlogik von Familien oder eine Eigenlogik des Verhaltens von Personen zu geben.

Fazit

Dieser vorläufige Vergleich familialer Lebensformen in den westdeutschen Dienstleistungszentren und Leipzig als einer Großstadt, die vermutlich eine ähnliche Entwicklung nehmen wird, zeigt, daß familiales Leben zwar manche Ähnlichkeit aufweist, aber doch in vielen Punkten heute noch deutlich unterschiedlich ist.

Wir haben diesen Aufsatz eingeleitet mit dem Verweis auf jene stillen Revolutionen und massiven Individualisierungstendenzen, die Robert N. Bellah und andere beschrieben haben. Es will so scheinen, als ob die Familie in Leipzig möglicherweise eine gesellschaftliche Entwicklung dokumentiert, die vor jenen Individualisierungsschüben und massiven Veränderungen der Wertstrukturen auch einmal in den Dienstleistungszentren der Bundesrepublik existiert hat.

© Hans Bertram, 1993

 
           
 
 
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