Die Benachteiligung der
Frauen
Hat es sich im vorhergehenden Abschnitt
gezeigt, daß die forcierte Integration der Frauen und Mütter
in das Erwerbsleben in der früheren DDR keinesfalls den Lebensvorstellungen
der Mehrheit der Mütter und Väter in den neuen Bundesländern
entspricht, kann man bei der Analyse der Einkommen feststellen,
daß auch hier trotz etwa gleicher beruflicher Belastung
die Benachteiligung der Frauen im Erwerbsleben keineswegs aufgehoben
war.
1988 lag das persönliche Nettoeinkommen
der Männer aus den westdeutschen Dienstleistungszentren bei
circa DM 4.000,- und das der Frauen bei circa DM 2.200,-. Da Frauen
im Durchschnitt drei Viertel der Erwerbsarbeitszeit der Männer
aufweisen, hätten sie auch durchschnittlich drei Viertel
des Einkommens verdienen müssen. Sie erreichten aber nur
56 Prozent des Einkommens der Männer. Diese geschlechtsspezifische
Benachteiligung in den westdeutschen Dienstleistungszentren ist
nicht nur ein Ergebnis dieser Studie, sondern häufig in der
Literatur nachgewiesen worden. Die von uns untersuchten Frauen
sind ausbildungsmäßig und auch positionell überwiegend
in der oberen bis mittleren Hälfte der Berufspositionen angesiedelt,
was in etwa ja auch der Berufsstruktur der Dienstleistungszentren
entspricht. Trotz dieser beruflichen Fortschritte bedeutet die
Bereitschaft, auf einen Teil der Arbeitszeit zu verzichten, um
Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, auch in den Dienstleistungszentren
eine extreme ökonomische Benachteiligung.
Ein Vergleich der Einkommensrelationen in
den neuen Bundesländern ist nicht unproblematisch, da sich
die Einkommensstrukturen der alten und der neuen Bundesrepublik
gegenwärtig überlagern. Frauen mit einer durchschnittlichen
wöchentlichen Arbeitszeit von 38 Stunden verdienten in Leipzig
im Frühjahr 1992 circa DM 1.350,- gegenüber circa DM
1.850,- bei den Männern mit einer wöchentlichen Arbeitszeit
von circa 42 Stunden. Für rund 90 Prozent der Arbeitszeit
der Männer erhalten Frauen circa 73 Prozent des Lohnes.
Die forcierte Gleichstellungspolitik der
früheren DDR hat also ebenfalls nicht dazu geführt,
daß Frauen einkommensmäßig mit den Männern
gleichgezogen haben. Solange diese Diskriminierung der Frauen
im beruflichen Bereich, für die die ökonomische Benachteiligung
nur ein Indikator ist, nicht abgebaut wird, ist auch davon auszugehen,
daß die von den Frauen selbst gewünschten Modelle der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur eine geringe Zukunftschance
haben werden. Gegenwärtig können diese Vorstellungen
nur realisiert werden, wenn man beruflich erhebliche Nachteile
für sich in Kauf nimmt. Selbst die in den Dienstleistungszentren
ansatzweise zu beobachtende in etwa gleiche zeitliche Belastung
der Männer und Frauen wird sich als Modell zukünftiger
Familienform kaum durchsetzen können, weil jede junge qualifizierte
Frau immer wieder damit konfrontiert wird, daß sie sich
angesichts der Erziehung der eigenen Kinder beruflichen Diskriminierungsprozessen
ausgesetzt sieht.
Für die Leipziger Frauen kann man davon
ausgehen, daß sie auf der einen Seite gewinnen und auf der
anderen verlieren werden, falls sich die Dienstleistungsstrukturen
nach westlichem Muster durchsetzen. Zum einen wird die Zahl der
Teilzeitarbeitsplätze deutlich ausgeweitet werden, weil ihr
Anteil, insbesondere im Dienstleistungsbereich, relativ hoch ist.
Man kann darüber hinaus vermuten, daß sie Zeit gewinnen,
weil sich die zeitliche Belastung durch den Beruf reduzieren wird,
und sie können auf eine bessere Betreuungssituation der Kinder
zurückgreifen. Ostdeutsche Frauen werden aber insofern verlieren,
als sich jene traditionellen ökonomischen Ungleichheitsrelationen
zwischen Mann und Frau, die in den fortgeschrittenen Dienstleistungszentren
der Bundesrepublik bestehen, aufgrund der Übertragung westdeutscher
Tarif- und Berufspositionssysteme in gleicher Weise auswirken
werden wie in den westdeutschen Dienstleistungszentren.
Die sozialen Beziehungen
innerhalb von Familien
Bisher wurden nur die äußeren
Formen von Familie wie Familienstand, zeitliche Arbeitsteilung
und Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutiert. Mindestens
ebenso wichtig für die Analyse von familialen Lebensformen
ist aber die Frage, wie Familienmitglieder miteinander umgehen
und welche Beziehungen sie zueinander haben.
Solche Fragestellungen, die sich in der
Regel in empirischen Untersuchungen nur schwer nachprüfen
lassen, haben wir in den westdeutschen Dienstleistungszentren
und Leipzig wie folgt analysiert: Alle Befragten wurden gebeten,
eine beliebige Anzahl von Personen (im Durchschnitt wurden sieben
bis acht Personen genannt) zu nennen, die einem einfallen, wenn
man über Freunde, Verwandte und Bekannte nachdenkt. Anschließend
wurde danach gefragt, was man mit diesen Personen im einzelnen
mache. Hierzu wurden eine Reihe von Aktivitäten vorgegeben,
die von persönlichen Gesprächen über gemeinsame
Mahlzeiten, Freizeit, persönliche Beziehungen bis hin zu
finanziellen Unterstützungen reichten. Erst in einem dritten
Schritt wurde erfragt, in welcher verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen
oder befreundeten Beziehung man nun tatsächlich zu der jeweils
genannten Person stehe. Auf diese Weise läßt sich genau
prüfen, bei welchen Aktivitäten welche Art von Personen
genannt wurden, ohne daß diese Personen vorgegeben worden
wären.
Der Anteil jener Aktivitäten, zu denen
die eigenen Kinder genannt wurden, wurde jeweils bezogen auf das
Lebensalter des jüngsten Kindes, um zu prüfen, ob die
Kinder in den einzelnen Situationen in Abhängigkeit vom Alter
unterschiedlich häufig genannt werden.
Zunächst ist es nicht verwunderlich, daß bei den Gesprächen,
die man führt, Kinder dann, wenn das jüngste Kind unter
zwei Jahren alt ist, so gut wie nicht genannt werden. Es ist auch
nachvollziehbar, daß bei gemeinsamen Mahlzeiten Kinder mit
zunehmendem Alter häufiger genannt werden, während bei
Gefühlen die Häufigkeit der Nennungen bis zum 14. Lebensjahr
ansteigt, um danach deutlich abzusinken, was als Indikator für
die zunehmenden Ablösungsprozesse von den Eltern interpretiert
werden kann. Gleiches gilt im übrigen auch für die Freizeit,
die bis zum 14. Lebensjahr überwiegend mit den Kindern verbracht
wird, während diese Prozentsätze bei den älteren
Kindern deutlich zurückgehen.
Vergleicht man dies nun mit Leipzig, folgt
das Muster bei Gesprächen in etwa demjenigen in den westdeutschen
Dienstleistungszentren, allerdings mit dem Unterschied, daß
Kinder in Leipzig häufiger genannt werden als in den westdeutschen
Dienstleistungszentren. Das gleiche gilt für Mahlzeiten,
Gefühle und Freizeit. Es läßt sich feststellen,
daß aus der Sicht der Befragten Kinder in Leipzig häufiger
als in den westdeutschen Dienstleistungszentren genannt werden,
wenn es um gemeinsames Essen, um gefühlsmäßige
Bindung oder Freizeit geht. Dabei fällt auf, daß der
in den westdeutschen Dienstleistungszentren aus der Sicht der
Eltern mit dem 15. bis 17. Lebensjahr einsetzende Ablösungsprozeß
bei den Leipziger Kindern nicht zu beobachten ist. Offenkundig
ist in diesen Altersgruppen die Bindung an die Eltern enger als
in den westdeutschen Dienstleistungszentren.
Wenn man diese Ergebnisse mit den Anstrengungen
in der DDR vergleicht, die Kinder und Jugendlichen aus dem Elternhaus
herauszuholen und sie einer vergesellschafteten Form der Erziehung
zu unterwerfen, läßt sich bezüglich unserer Leipziger
Befragten feststellen, daß diese Politik keinen Erfolg gehabt
haben kann. Die Familienbindungen sind hier eher stärker
als schwächer ausgeprägt.
Dieses Ergebnis stimmt interessanterweise
mit einer Beobachtung überein, die Helmut Schelsky in den
fünfziger Jahren formuliert hat, als er feststellte, daß
offensichtlich Familien und Familienmitglieder, wenn sie von Staat
und Gesellschaft extrem beansprucht werden, eher die Reaktion
zeigen, sich auf sich selbst zurückzuziehen, da jene Freiräume
nur im Kontext der vertrauten Familie erhalten werden können.
In solchen Beanspruchungssituationen scheint es so etwas wie eine
Eigenlogik von Familien oder eine Eigenlogik des Verhaltens von
Personen zu geben.
Fazit
Dieser vorläufige Vergleich familialer
Lebensformen in den westdeutschen Dienstleistungszentren und Leipzig
als einer Großstadt, die vermutlich eine ähnliche Entwicklung
nehmen wird, zeigt, daß familiales Leben zwar manche Ähnlichkeit
aufweist, aber doch in vielen Punkten heute noch deutlich unterschiedlich
ist.
Wir haben diesen
Aufsatz eingeleitet mit dem Verweis auf jene stillen Revolutionen
und massiven Individualisierungstendenzen, die Robert N. Bellah
und andere beschrieben haben. Es will so scheinen, als ob die
Familie in Leipzig möglicherweise eine gesellschaftliche
Entwicklung dokumentiert, die vor jenen Individualisierungsschüben
und massiven Veränderungen der Wertstrukturen auch einmal
in den Dienstleistungszentren der Bundesrepublik existiert hat.
© Hans Bertram, 1993