Günter Roski
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Jugendliche in der DDR
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Deutschland um 1900

DDR
BRD


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Günter Roski


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Empirische Befunde der siebziger und achtziger Jahre

Der im vorhergehenden Abschnitt skizzierte Prozeß soll im folgenden anhand der Entwicklung ausgewählter Wertorientierungen und Einstellungen veranschaulicht werden.

Als eine zentrale Kategorie erwies sich in allen Untersuchungen des ZIJ Leipzig die Identifikation mit der DDR. Sie wurde mit zwei verschiedenen Indikatoren (Fragestellungen) gemessen: "Ich bin stolz, ein Bürger unseres sozialistischen Staates zu sein" und "Ich fühle mich mit der DDR eng verbunden". Auf beide Fragen konnte mittels vierstufiger Schätzskalen geantwortet werden (von "vollkommen" über "mit Einschränkungen" und "kaum" bis zu "überhaupt nicht"). Dieses vierstufige Antwortmodell wurde allgemein bei Fragestellungen nach politischen Einstellungen und Überzeugungen verwendet.

In der Tat war die Identifikation mit der DDR zur Mitte der siebziger Jahre und noch bis zur Mitte der achtziger Jahre bei den Jugendlichen relativ stark ausgeprägt. Es entwickelte sich ein durchaus auch emotional verankertes DDR-Bewußtsein, das insbesondere durch die Anerkennungswelle für die DDR zu Beginn der siebziger Jahre gestärkt wurde.

 

Der Sozialismus war offenbar in der Lage, einen kontinuierlichen Anstieg der Lebensqualität zu gewährleisten. Im Verbund mit den traditionellen "deutschen Tugenden" Fleiß und Zielstrebigkeit sollte es nach Ansicht vieler Jugendlicher gelingen, einen Westdeutschland vergleichbaren (oder gar höheren) Lebensstandard zu erreichen. Diese Überzeugung wurde durch die Erfahrung der Lebensbedingungen in Osteuropa gestärkt. Der größere Teil der Jugendlichen war in den siebziger Jahren davon überzeugt, daß in der DDR eine humanistische Gesellschaftsordnung verwirklicht wird, die beispielhaft für die ganze Welt ist. Erst als Ende der siebziger Jahre Zweifel an den Potenzen des sozialistischen Weltsystems, an der ökonomischen Souveränität der DDR aufkommen mußten, wurde der Stolz auf die DDR-Staatsbürgerschaft zum ersten Mal deutlich erschüttert. Trotz nun ständig zunehmender Vorbehalte hielt sich das DDR-Identitätsbewußtsein bei den meisten Jugendlichen noch bis zur Mitte der achtziger Jahre und brach erst dann völlig zusammen, als die ökonomische und politische Krise immer offensichtlicher wurde und man die Erfahrung machte, daß der SED-Staat nur durch Restriktionen in der Lage war, seine Macht zu erhalten.

Nicht unwichtig erscheint es, an dieser Stelle auf die allerdings immer im Verlauf der DDR-Geschichte nachvollziehbaren Differenzierungen in der Ausprägung politisch relevanter Einstellungen und Überzeugungen bei verschiedenen sozialen Gruppen unter der Jugend hinzuweisen. So waren, wie schon eingangs angemerkt, Studenten und Intellektuelle immer stärker DDR-verbunden und von den "Vorzügen des Sozialismus" überzeugt als Lehrlinge oder junge Arbeiter. Letztere erfuhren frühzeitiger die Diskrepanz zwischen "Lehre" und Alltag im Berufsleben, äußerten sich zu größeren Anteilen zurückhaltend und skeptisch. Sie durchliefen allerdings auch nicht wie Studenten oder Fach- und Hochschulabsolventen eine derartige politische Schulung, wie sie an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen üblich war. Über das Ausmaß politischer Schulung erklären sich auch Unterschiede in der Ausprägung von Einstellungen und Überzeugungen bei SED-Mitgliedern oder Funktionären des Jugendverbandes FDJ auf der einen Seite und SED-Nichtmitgliedern, "einfachen" FDJ-Mitgliedern bzw. Nichtmitgliedern der FDJ auf der anderen Seite. (Zum nötigen Verständnis sei hinzugefügt, daß fast alle Jugendlichen in der DDR Mitglied des Jugendverbandes waren. Für viele war dies jedoch lediglich eine Formsache oder eine taktische Maßnahme, um Benachteiligungen im Alltag und bei der beruflichen Karriere zu entgehen.) Trotz unterschiedlicher Niveaus der Ausprägung von Einstellungen und Überzeugungen bei den verschiedenen Gruppen ist allen jedoch der Negativ-Trend insbesondere der Jahre nach 1985 gemein. Ohne jede Einschränkung identifizierten sich Ende 1988 nur noch weniger als 20 Prozent der berufstätigen Jugend und der Lehrlinge mit der DDR; bei Studenten, Hoch- und Fachschulabsolventen belief sich der diesbezügliche Anteil etwa auf ein Drittel. 1983 zum Beispiel fühlten sich noch die Hälfte der Lehrlinge und jungen Arbeiter sowie mehr als zwei Drittel der Studenten, Hoch- und Fachschulabsolventen dem Honecker-Staat fest verbunden.

Die Identifikation mit der DDR assoziierte immer auch die Identifikation mit der staatstragenden Partei, der SED. Bedauerlicherweise fehlen für diesbezügliche Trendbetrachtung Meßergebnisse aus der Mitte der siebziger Jahre.

Vermutlich erreichte auch die Identifikation mit der SED zu jenem Zeitpunkt ihren Höhepunkt. Bemerkenswert ist bezüglich des Vertrauens in die SED folgendes: Zum einen war die uneingeschränkte Zustimmung zur staatstragenden Partei nie so stark ausgeprägt wie zum Beispiel die Identifikation mit der DDR. Handelte es sich bei der SED um eine politische Identifikation, so stand hinter der DDR-Verbundenheit auch immer ein Stück Heimatverbundenheit, standen Landschaft, Freunde und Verwandte und so weiter. Daß schließlich auch die DDR-Identität stark verfiel, war dann sicher vorrangig politisch akzentuiert. (Im übrigen flackerte die DDR-Identität nach der "Wende" noch einmal stark auf, was von einer SED-Identität nicht zu sagen war.)

Andererseits wurde die SED bis 1986 nur von einer Minderheit der Jugendlichen (etwa ein Fünftel) deutlich abgelehnt, viele akzeptierten sie "mit gewissen Einschränkungen". Immerhin jeder fünfte über 18jährige war Mitglied der SED. Der deutliche Vertrauensverlust gegenüber der SED setzte erst nach dem Parteitag des Jahres 1986 ein, als die Parteispitze erkennen ließ, daß sie nicht in der Lage war, die sich zuspitzende politische und ökonomische Krise des Realsozialismus hinreichend zu begrenzen. Die Ignoranz der Entwicklung in Polen und der Sowjetunion wurde von vielen Jugendlichen nicht verstanden, es setzte sich der Eindruck durch, daß nicht das Wohl des Volkes im Mittelpunkt der SED-Politik stand, sondern das Wohl des SED-Politbüros. Erste gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Polizei wie zu Pfingsten 1987 in Berlin-Ost verstärkten diesen Eindruck: Die SED setzte sich für die Jugend nur so lange ein, wie diese ihre Politik uneingeschränkt akzeptierte. Mit der Ablehnung der Staatspartei ging nun auch eine verstärkte Ablehnung der staatstragenden Ideologie, des Marxismus-Leninismus, einher. Ende 1988 gaben nur noch zehn Prozent der Lehrlinge und der berufstätigen Jugend an, sich vorbehaltlos mit der Lehre von Marx, Engels und Lenin zu identifizieren. Was im übrigen die Mitgliedschaft in der SED bedeutete, macht folgender Fakt auf fatale Weise deutlich: Im April/Mai 1989 identifizierten sich von den Nichtmitgliedern der SED nur noch 8 Prozent, aber selbst von den Parteimitgliedern nur noch 48 Prozent voll mit der SED!

Daß die SED bis 1986 nur von einer Minderheit der DDR-Jugend deutlich abgelehnt wurde, mag heute Verwunderung auslösen. Man muß dabei jedoch berücksichtigen, daß die gesamte Entwicklung der DDR, eingeschlossen alle positiv bewerteten Ereignisse, völlig von der SED vereinnahmt wurde. So hielt man das in den siebziger und zu Anfang der achtziger Jahre positiv Erreichte (zum Beispiel Wohnungs- und Sozialpolitik) ausschließlich der SED zugute. Die Parteispitze konnte von diesem,

wenn auch meistenteils eingeschränkten Vertrauen so lange zehren, wie die Jugend und das gesamte DDR-Volk hoffen durften, daß die SED-Führung einen Kurs im Interesse der DDR-Bürger steuert. Mit dem Jahr 1986 war der Scheidepunkt erreicht.

 
           
 
 
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