Eva Jaeggi
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Ehe auf Zeit - Single auf Zeit?
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Deutschland um 1900

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Eva Jaeggi


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Psychologische Überlegungen

Ich habe dies ausführlich getan und von vielen Singles Auskunft erhalten über ihre Lebenslage, ihre Strategien zur Bewältigung ihres Alltags, ihre dunklen Stunden, aber auch über ihre Glücksmomente. Ich habe mich dafür interessiert, wie sie ihren Alltag organisieren, in welcher Weise sie die "Wunden Punkte" des Single-Lebens - nämlich Ferien, Familienfeste, Wochenenden - gestalten, warum sie alleine sind und vieles mehr.

Natürlich mußte ich mir auch überlegen, wer denn eigentlich ein "Single" ist und ob es einen Unterschied macht, ob einer freiwillig oder unfreiwillig in diesen Status hineingerät. Es gibt keine exakte Definition des Single-Status. Vom juristischen Standpunkt aus war es bis vor kurzem eindeutig: einer (eine), der (die) nicht verheiratet ist. Seit einiger Zeit gibt es mehr und mehr Urteile, die auch die Lebenspartnerschaft als juristisch existent ansehen und damit verschiedene Konsequenzen verknüpfen. Man könnte den Single-Status auch ökonomisch definieren: einer, der allein im Haushalt lebt und daher bestimmte volkswirtschaftlich relevante Güter (Wasser, Strom, Wohnraum etc.) allein verbraucht und daher "teuer" ist, was wiederum mit mehr Steuern abgegolten werden muß.

Man kann aber auch psychologische Kriterien heranziehen bei der Definition dessen, wer ein Single ist - und dies habe ich getan. Es gibt dabei natürlich eine "Grauzone", wie es bei psychologischen Definitionen unvermeidlich ist.

Als Single habe ich bezeichnet einen Menschen, der seinen Alltag allein organisiert und ohne einen permanenten Bezug zu einem Partner lebt, mit dem er (zumindest in seiner Phantasie) auch noch über lange Zeit zusammenleben möchte. Es wurden also ausgeschlossen Menschen, die in einer Partnerschaft leben, aber durch räumliche Trennung ihren Alltag meist allein organisieren (Wochenendehen); ebenso wurden ausgeschlossen die Menschen, die mit einem kleinen Kind allein leben, und auch Personen in Wohngemeinschaften habe ich nicht befragt. Es schien mir, daß die Alltagsprobleme dieser Gruppen doch in vielerlei Hinsicht recht anders gelagert sind als die der "psychologisch echten" Singles. Natürlich gibt es dabei "Übergangserscheinungen" - zum Beispiel jene Frau, die allein lebt, aber einen Freund in einer weit entfernt liegenden Stadt hat, mit dem sie sich alle zwei bis drei Wochen trifft. Oder jener Mann (ich habe ihn schließlich aufgenommen in meine Befragung), der als Schwuler einen Freund hat, mit dem er nicht zusammenlebt und den er ganz explizit nicht als einen "Lebenspartner" ansieht. Ich habe daher als ein weiteres Kriterium das der Selbstdefinition gewählt: Wer sich, nachdem ich ihm (ihr) meine Überlegungen dargelegt hatte, als Single bezeichnete, wurde von mir auch als ein solcher betrachtet.

Mit der "Freiwilligkeit" dieser Lebensform aber bekam ich im Laufe der Zeit ganz große Probleme. In anderen Untersuchungen über Singles, die mit halbstrukturierten Interviews befragt wurden (und nicht mit Tiefeninterviews, wie ich das getan hatte), waren eher die bewußtseinsfähigen Anteile des inneren Erlebens ins Visier gekommen. Dort war das Kriterium "freiwillig" oder "unfreiwillig" wichtig gewesen. Bei mir, die ich mit psychoanalytisch orientierten Tiefeninterviews gearbeitet hatte, verwischte es sich immer mehr, je näher ich an die von mir befragten Personen herankam.

Was heißt schon "freiwillig"? sagte ich mir dann und überlegte mir den Lebensweg einer Frau, die dezidiert als "freiwilliger" Single gelten wollte, sich aber offensichtlich - geprägt durch ein harsches Schicksal - letztlich von der allzu vertrauten Nähe eines anderen Menschen nur Schlimmes versprechen konnte und daher jeden möglichen Partner schon im Vorfeld abblitzen ließ. Tut sie dies wirklich freiwillig? Oder jener Mann, der darüber jammerte, daß er "unfreiwillig" Single sei und auf jeden Fall mit Familie rechne. Er hängt zum Beispiel die Meßlatte in bezug auf Schönheit und Glanz seiner Zukünftigen so hoch, daß man wohl auf den Gedanken kommen kann, daß hier einer unbewußt das Eheglück geradezu vermeidet. Also, so mußte ich mir sagen, ist dieser "Freiwilligenstatus" nicht so ohne weiteres erfragbar, und ich begnügte mich mit dem Ergebnis, daß gerade dieser Punkt in jedem Einzelfall höchst unsicher ist.

Bei keinem der von mir Befragten gab es den leisesten äußeren Grund, warum er (sie) nicht partnerschaftlich leben sollten - viele hatten es ja auch schon vor ihrer Single-Existenz getan. Alle waren noch hinreichend jung (zwischen Anfang dreißig und Anfang fünfzig), beruflich qualifiziert, kultiviert und attraktiv - also Mittelschichtsangehörige im besten Sinn des Wortes. (Das engt übrigens die Reichweite meiner Untersuchung ein, Aussagen über Singles in der Unterschicht würden eine neue Untersuchung bedeuten!)

Was aber waren nun die psychologisch relevanten Merkmale dieser so ungleichen Menschen? Gibt es den "typischen" Single? Was kennzeichnet ihn?

Zentrale Kennzeichen des Single-Lebens

Singles sind so unterschiedlich wie andere Menschen auch. Trotzdem gibt es natürlich wie übrigens für jede Lebensform - einige als "typisch" anzusehende Probleme in den meisten Single-Existenzen.
Ich habe versucht, diese Probleme zu kategorisieren. Es sind dies:
- Das Problem der Bewußtheit
- Das Problem des inneren Dialogs
- Das Problem der Einsamkeit
- Das Problem der Balance zwischen Regression und Progression.

Das Problem der Bewußtheit

Die meisten alleinlebenden Menschen beschreiben ihren Alltag im Vergleich zu Zeiten, wo sie noch partnerschaftlich oder im Familienkreis gelebt haben. In diesem Vergleich wird ihnen klar, daß sie als Singles sehr viel bewußter ihren Alltag planen müssen als bisher. Die Delegationen, die das Leben bisher etwas erleichtert haben, funktionieren nun nicht mehr. Man kann nicht mehr den anderen (Partner, Eltern etc.) für das eigene Leben und seine Alltagsgestaltung verantwortlich machen. Das wird zuerst oft als ein ziemlich unangenehmer Zustand beschrieben, als ein Druck, der dauernd auf dem Leben liegt. Dies kann sehr unterschiedliche Areale des Alltags betreffen: die Wohnungseinrichtung, die Geselligkeit, das Kochen oder die Gestaltung der Ferien. Nichts wird einem abgenommen, alles muß geplant werden. Dieses Planen erzeugt bei vielen zuerst einmal das unangenehme Gefühl, es sei eine gewisse Leichtigkeit verlorengegangen, als sei nun das Leben sehr viel ernster geworden. Erst wenn einige Zeit seit der Trennung vom Partner (oder von der Familie) vergangen ist, wird dieser Zustand anders empfunden: als ein Gewinn an Freiheit, an Autonomie.

Erst jetzt aber wird klar, wieviel man an den Partner delegiert hat und wie wenig man sich darum gekümmert hat, welche Bedürfnisse man wirklich selbst hat und wo man nur den Bedürfnissen des Partners nachgelebt hat. Vor allem Frauen machen oft einen sehr wichtigen Prozeß der Bewußtwerdung mit - sind doch Frauen der Altersklasse ab Mitte dreißig sehr oft noch immer in recht eingeschränkten Rollenklischees erzogen worden und haben daher Anpassungsstrategien entwickelt, die sie nun "verlernen" müssen.

Viele von ihnen berichten, daß sie zuerst einmal gar nicht wußten, was sie eigentlich wollten: Sollte ihre Wohnung wirklich nur aus Stahl-Glas-Konstruktionen bestehen, oder hätten sie nicht immer schon lieber kuschelige Teppiche gehabt? War das ausgedehnte Vier-Sterne-Essen tatsächlich ein Bedürfnis gewesen, oder hatte es ihnen nicht doch leid getan, so viel Geld herauszuwerfen, wo sie doch eigentlich schlichte Koteletts und Salate als sehr viel bekömmlicher empfunden hätten? Und: War man wirklich so versessen gewesen auf große Parties?

All dies sind Fragen, die sich nun neu stellen und oftmals - zur Überraschung der Singles - ganz anders zu beantworten sind, als man das in ehelichen Zeiten vermutet hätte. Das bewußte Leben und Planen setzt natürlich voraus, daß man auch mehr Bewußtsein über seine eigenen Bedürfnisse bekommt. Sehr oft hat man seine eigene Entwicklung gar nicht mitbekommen, oder man war eben so beschäftigt mit Anpassungsstrategien, daß man vergessen hat, sich weiterzuentwickeln. Um seine Bedürfnisse kennenzulernen, ist es nötig, sich selbst Zeit zu lassen, sich immer wieder in Ruhe hinzusetzen und nachzuspüren, was denn eigentlich "gerade dran" ist. Um sich sein eigenes Leben aufzubauen, braucht es dann, wie mir fast alle Singles erklärten, lebendige Phantasie. Nun kann man einfach nicht mehr an den Partner denken, wenn einem nichts Rechtes einfällt. Man muß ein Problem - zum Beispiel den Kauf eines Möbelstückes - sozusagen von innen heraus anpeilen -, und dies braucht mehr "präzise Phantasie" (wie eine meiner Interviewpartnerinnen sagte), als sie vorher gedacht hatten. Die meisten empfanden es, trotz seiner Schwierigkeit, als sehr befriedigend, sich nun in ganz anderer Weise als früher mit sich selbst und den eigenen Bedürfnissen zu befassen und danach zu handeln.

Die Bewußtheit als eine wichtige Dimension des Sich-Wohlfühlens in der Welt ist selbstverständlich nicht nur für Singles ein erstrebenswertes Ziel. Natürlich ist jeder partnerschaftlich Lebende in gleicher Weise aufgefordert, nicht gegen seine eigenen Bedürfnisse zu leben - vermutlich wäre manche Ehe noch heil, wenn beide Partner sich dies gestatten könnten. Es scheint aber, daß man in der Partnerschaft oft für sehr viel längere Zeit gleichsam in seelischer Faulheit dahinleben kann: sich auf den anderen verlassend, nicht bedenkend, ob das Alltagsleben nicht schon längst zur öden Routine erstarrt ist. Viele Ehen zerbrechen bekanntlich daran. Das Leben als Single bringt eine solche seelische Faulheit sehr kraß zutage - und die meisten Singles wissen, daß ihnen hier eine Chance geboten wird. Daß da auch Fallstricke liegen, daß man sich verzweifelt danach sehnen kann, ein anderer möge Entscheidungen abnehmen, das steht auf einem anderen Blatt. Selten bleibt ein Single von solchen Momenten des Kummers verschont. Hat er aber diese Fallstricke erkannt und weiß er, daß man ihnen immer wieder ausweichen kann, dann hat er für sein Leben viel gewonnen. Er hat dann, sofern sich eine solche Möglichkeit wieder bietet, auch für eine künftige Partnerschaft bessere Chancen.

 
           
 
 
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