Die Balance zwischen Regression
und Progression
Was für partnerschaftlich Lebende die
Balance zwischen Nähe und Distanz ist, scheint für Singles
die schwierige Balance zwischen Regression und Progression zu
sein. Beides gehört zum Leben wie das Ein- und Ausatmen,
aber es regelt sich nicht immer von selbst.
Lebt man mit einem anderen Menschen zusammen,
dann wird zwischen den Partnern einiges reguliert: Ist der eine
gerade passiv und nicht bereit, sich auf die Welt einzulassen,
dann kann der andere als Ausgleich dienen. In guten Ehen funktioniert
dies auch: Der Passive wird aufgemuntert, zu irgendeiner Aktivität
gebracht, und so verliert das regressiv-passive Element seinen
Schrecken. Auch umgekehrt kann es klappen: Der Hektiker wird besänftigt,
Ruhe kann einkehren, wenn der Partner dies will. Ideal ist es
natürlich, wenn diese Rollen zwischen den Partnern nicht
starr aufgeteilt sind, sondern auch wechseln können.
Anders bei den Singles. Viele fürchten
das regressive Element im Leben, es steht der Depression allzu
nahe. Also stürzen sie sich in eine nicht endenwollende Hektik.
Telefonanrufe, Treffen, berufliche Veranstaltungen - der Terminkalender
wird ein sehr wichtiges Element des Alltags. Ein Wochenende mit
leeren Seiten darin muß sofort gefüllt werden.
Oder das Gegenteil tritt ein: Plötzlich
hat man zu nichts mehr Lust, man telefoniert mit niemandem mehr,
geht nicht ins Kino oder ins Konzert, verschläft halbe Tage
und kapselt sich ab. Dahinter steckt ein kindisch-trotziges "Wenn
mich da niemand rausholt - na gut, Ihr werdet es noch bereuen
...". Natürlich merkt es kaum jemand, daß man
schon längere Zeit nicht gesehen wurde bei diversen Veranstaltungen;
also kann man diese depressiv-trotzige Haltung auch gleich aufgeben.
All dies ist fast allen Singles sehr bewußt;
sie schildern es in bunten Farben und beklagen trotzdem, wie schwer
es ist, sich hier in einer beruhigenden Balance zu halten. Mit
Gleichmut ertragen, wenn zwei Tage keiner anruft, nicht dauernd
Aktivität forcieren, indem man sich überall einladen
läßt und überall mitmacht, sondern den eigenen
Atemstrom beachten - das ist eine Kunst, die vielen Singles immer
wieder abhanden kommt. Allzu groß ist offensichtlich die
Angst vor dem Verkommen, dem Versinken in Depression; und allzu
oft schlägt die Passivität auch tatsächlich um
in jene vage Langeweile, in der nichts mehr strahlt und alles
fade erscheint. Niemand ist gerade davor gefeit. Und genau dies
ist es, was so viele Außenstehende immer wieder fürchten,
wenn sie an das Single-Leben denken. Deshalb werden oft beziehungslose
Partnerschaften jahrelang fortgesetzt und per Partnertherapie
künstlich immer wieder zusammengeflickt - nur um nicht abstürzen
zu müssen in jenes Chaos aus Ödnis und Einsamkeit, aus
dem - scheinbar nur der übervolle Terminkalender heraushelfen
kann.
Schlußfolgerungen
"Zu welchem Schluß kommt man
denn, wenn man Singles befragt - sind sie glücklich oder
unglücklich?" werde ich oft gefragt.
Natürlich sind sie weder das eine noch
das andere in besonders ausgeprägtem Maß. Es gibt weder
durch Partnerschaft noch durch das Single-Leben einen bevorzugten
Platz im Himmel der Seligen. Es gibt nur "typische"
Probleme in jeder Lebensform - das gilt natürlich auch für
die anderen modernen und relativ neuartigen Existenzen, zum Beispiel
die alleinlebenden und unverheirateten Mütter. Sehr schwierig
erschien manchen Singles das Umgehen mit den Vorurteilen, die
es noch immer in der Gesellschaft gibt. Das Hin-und-Herschwanken
zwischen dem Klischee "Hagestolz, alte Jungfer" und
dem der "charmanten Geschäftsfrau" des "swinging
Single" macht unsicher. Hat jemand nie in einer Partnerschaft
gelebt, dann kann er unter Umständen die negativsten Vorurteile
auf sich selbst beziehen. "Mich hat keine(r) gewollt"
kann dann das resignierte Resümee sein - allerdings ist es
recht selten, vielleicht nur in einigen dunklen Stunden präsent.
Natürlich ist das Ideal einer wunderbaren
Partnerschaft immer wieder einmal die Goldfolie des Single-Lebens,
selbst bei denen, die es besser wissen, weil sie schon in langjährigen
Partnerschaften gelebt haben. Dieses Idealbild kann in Zeiten
der Depression auftauchen und erzeugt dann auch schon mal Tränen
des Selbstmitleids. "Wenn jetzt einer (eine) hier wäre,
um mich zu umsorgen ....!" seufzt man dann und denkt nicht
daran, wie oft es in der Partnerschaft gerade daran gefehlt hat.
Gerade in sorgenvollen Zeiten kam man sich oft vereinsamt vor,
vom Partner innerlich im Stich gelassen. Aber diese Erinnerungen
können zeitweise verschwinden, und wieder einmal gerät
das Bild der idealen Ehe überlebensgroß ins Blickfeld.
Die Partnerschaft der modernen Zeit krankt
ja sehr oft gerade daran, daß allzuviele Bedürfnisse
nach Liebe und Zärtlichkeit, Umsorgtwerden und Behutsamkeit
in diese Institution einfließen. Das aber erzeugt Angst
und damit sehr oft eben gerade diejenige Form der Abweisung und
Kälte, der man durch die Partnerschaft entgehen wollte.
Singles werden oft gefragt, wie sie es denn
"aushalten" könnten ohne jenen warmen Bezug zum
Intimpartner, ohne Möglichkeit, sich fallenzulassen, einem
anderen "alles erzählen" zu können.
Es ist - um Selbstmitleid zu verhindern
- ab und zu ganz gesund, sich zurückzuerinnern, wie das denn
damals war ... Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß
länger verheiratete Paare durchschnittlich pro Tag fünf
bis sechs Minuten miteinander sprechen (vermutlich über den
nötigen Einkauf und die Heizungsreparatur?). Natürlich
sind in diesem "Durchschnitt" auch die statistischen
Ausreißer verborgen, also diejenigen, die sich mehrmals
wöchentlich hinsetzen zum Gedankenaustausch. Aber wie selten
müssen sie sein, wenn der Durchschnitt derart erbärmliche
Ergebnisse erbringt?
Offensichtlich ist die Vorstellung, die
Ehe sei ein warmer Mantel, nicht ganz adäquat. Die vorausgesetzte
"Sehnsucht" des Menschen nach der "einen und einzigen"
Beziehung, die alleine diese Wärme spenden kann, ist es aber
in dieser Verabsolutierung vermutlich auch nicht. Da uns die Ehe-Ideologien
von Kirchen, Parteien und anderen Ideologie-Instanzen immer wieder
so eindrucksvoll vorgeführt werden, vergessen wir darüber,
daß diese Institution erst seit ca. hundertfünfzig
Jahren eine ist, an der alle partizipieren können. Sollen
wir annehmen, daß alle diejenigen, die nicht heiraten konnten,
sich immer nur sehnsüchtig verzehrt haben nach einem Ehegespons?
Natürlich nicht! Es wurde als gottgewollt oder einfach selbstverständlich
hingenommen, daß man in seinem Stand blieb, und die bürgerliche
Vorstellung vom Eheglück im trauten eigenen Heim war für
viele undenkbar und wurde daher auch gar nicht ersehnt.
Es wäre falsch, die Tatsache, daß
der Mensch zweifellos ein Wesen ist, das Verbindung zu anderen
braucht, das sich sprechend definiert, sich von anderen abgrenzen
muß, um die eigene Identität festzustellen, zu verwechseln
mit einer erst historisch hergestellten, ganz speziellen Kommunikationsform:
derjenigen der gefühlshaften Verbindung zum Partner, mit
dem man vorwiegend den Austausch eigener Befindlichkeit teilt.
Und natürlich ist auch die Sehnsucht nach dieser historisch
spezifischen Kommunikationsform nichts Universelles, keine anthropologische
Grundkonstante. Die Verwunderung darüber, daß eine
Reihe von Singles ihre Situation nicht als defizitär empfinden,
daß sie sich nicht im "Wartesaal des Lebens" wähnen,
ist also unnötig. Ganz offensichtlich gibt es Menschen, die
nicht unbedingt dieselbe Erfahrung (meist ist es ja eine gescheiterte
Beziehung) zweimal machen wollen oder sogar solche, die jene spezielle
Sehnsucht nach Dauer-Intimität erst gar nicht haben. Ihnen
zu unterstellen, sie wären "eigentlich" doch unglücklich,
sehnten sich doch nach einem Partner und ähnliches mehr,
ist zwar üblich, aber offensichtlich nicht realitätsadäquat.
Viele unserer Werte, unserer Sehnsüchte
und unserer Definitionen für uns selbst sind in hohem Maß
beeinflußt von der speziellen historischen Situation, in
der wir uns befinden. Einer der Werte, die wir in der modernen
Zeit für uns reklamieren und denen wir nachstreben, ist die
persönliche Autonomie. Dies ist in unserer jetzigen historischen
Situation ein Wert, der im Wirrwarr von Großgesellschaften
nützlich erscheint, um persönliches Wohlergehen zu sichern.
Die Vorstellung, man müsse für sich allein geradestehen,
Verantwortung übernehmen und müsse sich vor allem vor
dem eigenen Gefühl verantworten, schafft Überblick in
einer Gesellschaft, deren allgemeinverbindlichen Werte schwammig
geworden sind.
Dieses Streben nach Autonomie - wenngleich
ebensowenig eine absolute Konstante wie das Streben nach Intimität
- wird von Menschen, die sich für längere Zeit oder
für immer zum Alleinleben entschlossen haben, in besonderer
Weise betont. Sie entwickeln Strategien, um diesen Wert der persönlichen
Autonomie besser zu entwickeln, sich damit einzupassen in eine
Welt, in der vieles unsicher und unübersichtlich geworden
ist.
So wie es Zeiten gab, in denen die Entwicklung
besonderer Begabungen zur Meditation, zum Bezug zur Transzendenz
wichtig erschien, ist heute die Verwirklichung des Autonomiegedankens
vielfach gefragt und wird denn auch von sehr vielen Instanzen
gefordert: Mütter sollen ihre Kinder zur persönlichen
Autonomie erziehen, Partner sollen sich in der Partnerschaft autonom
entwickeln dürfen, und sogar im Betriebsleben gibt es überall
Anstrengungen, persönliches Verantwortungsgefühl zu
stärken.
Singles müssen
diese Autonomie in ganz besonders gekonnter Weise in sich aktivieren.
In gewisser Weise ist es daher berechtigt, sie als die "Pioniere
der Moderne" zu bezeichnen.
© Eva Jaeggi, 1993