Eva Jaeggi
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Ehe auf Zeit - Single auf Zeit?
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Die Balance zwischen Regression und Progression

Was für partnerschaftlich Lebende die Balance zwischen Nähe und Distanz ist, scheint für Singles die schwierige Balance zwischen Regression und Progression zu sein. Beides gehört zum Leben wie das Ein- und Ausatmen, aber es regelt sich nicht immer von selbst.

Lebt man mit einem anderen Menschen zusammen, dann wird zwischen den Partnern einiges reguliert: Ist der eine gerade passiv und nicht bereit, sich auf die Welt einzulassen, dann kann der andere als Ausgleich dienen. In guten Ehen funktioniert dies auch: Der Passive wird aufgemuntert, zu irgendeiner Aktivität gebracht, und so verliert das regressiv-passive Element seinen Schrecken. Auch umgekehrt kann es klappen: Der Hektiker wird besänftigt, Ruhe kann einkehren, wenn der Partner dies will. Ideal ist es natürlich, wenn diese Rollen zwischen den Partnern nicht starr aufgeteilt sind, sondern auch wechseln können.

Anders bei den Singles. Viele fürchten das regressive Element im Leben, es steht der Depression allzu nahe. Also stürzen sie sich in eine nicht endenwollende Hektik. Telefonanrufe, Treffen, berufliche Veranstaltungen - der Terminkalender wird ein sehr wichtiges Element des Alltags. Ein Wochenende mit leeren Seiten darin muß sofort gefüllt werden.

Oder das Gegenteil tritt ein: Plötzlich hat man zu nichts mehr Lust, man telefoniert mit niemandem mehr, geht nicht ins Kino oder ins Konzert, verschläft halbe Tage und kapselt sich ab. Dahinter steckt ein kindisch-trotziges "Wenn mich da niemand rausholt - na gut, Ihr werdet es noch bereuen ...". Natürlich merkt es kaum jemand, daß man schon längere Zeit nicht gesehen wurde bei diversen Veranstaltungen; also kann man diese depressiv-trotzige Haltung auch gleich aufgeben.

All dies ist fast allen Singles sehr bewußt; sie schildern es in bunten Farben und beklagen trotzdem, wie schwer es ist, sich hier in einer beruhigenden Balance zu halten. Mit Gleichmut ertragen, wenn zwei Tage keiner anruft, nicht dauernd Aktivität forcieren, indem man sich überall einladen läßt und überall mitmacht, sondern den eigenen Atemstrom beachten - das ist eine Kunst, die vielen Singles immer wieder abhanden kommt. Allzu groß ist offensichtlich die Angst vor dem Verkommen, dem Versinken in Depression; und allzu oft schlägt die Passivität auch tatsächlich um in jene vage Langeweile, in der nichts mehr strahlt und alles fade erscheint. Niemand ist gerade davor gefeit. Und genau dies ist es, was so viele Außenstehende immer wieder fürchten, wenn sie an das Single-Leben denken. Deshalb werden oft beziehungslose Partnerschaften jahrelang fortgesetzt und per Partnertherapie künstlich immer wieder zusammengeflickt - nur um nicht abstürzen zu müssen in jenes Chaos aus Ödnis und Einsamkeit, aus dem - scheinbar nur der übervolle Terminkalender heraushelfen kann.

Schlußfolgerungen

"Zu welchem Schluß kommt man denn, wenn man Singles befragt - sind sie glücklich oder unglücklich?" werde ich oft gefragt.

Natürlich sind sie weder das eine noch das andere in besonders ausgeprägtem Maß. Es gibt weder durch Partnerschaft noch durch das Single-Leben einen bevorzugten Platz im Himmel der Seligen. Es gibt nur "typische" Probleme in jeder Lebensform - das gilt natürlich auch für die anderen modernen und relativ neuartigen Existenzen, zum Beispiel die alleinlebenden und unverheirateten Mütter. Sehr schwierig erschien manchen Singles das Umgehen mit den Vorurteilen, die es noch immer in der Gesellschaft gibt. Das Hin-und-Herschwanken zwischen dem Klischee "Hagestolz, alte Jungfer" und dem der "charmanten Geschäftsfrau" des "swinging Single" macht unsicher. Hat jemand nie in einer Partnerschaft gelebt, dann kann er unter Umständen die negativsten Vorurteile auf sich selbst beziehen. "Mich hat keine(r) gewollt" kann dann das resignierte Resümee sein - allerdings ist es recht selten, vielleicht nur in einigen dunklen Stunden präsent.

Natürlich ist das Ideal einer wunderbaren Partnerschaft immer wieder einmal die Goldfolie des Single-Lebens, selbst bei denen, die es besser wissen, weil sie schon in langjährigen Partnerschaften gelebt haben. Dieses Idealbild kann in Zeiten der Depression auftauchen und erzeugt dann auch schon mal Tränen des Selbstmitleids. "Wenn jetzt einer (eine) hier wäre, um mich zu umsorgen ....!" seufzt man dann und denkt nicht daran, wie oft es in der Partnerschaft gerade daran gefehlt hat. Gerade in sorgenvollen Zeiten kam man sich oft vereinsamt vor, vom Partner innerlich im Stich gelassen. Aber diese Erinnerungen können zeitweise verschwinden, und wieder einmal gerät das Bild der idealen Ehe überlebensgroß ins Blickfeld.

Die Partnerschaft der modernen Zeit krankt ja sehr oft gerade daran, daß allzuviele Bedürfnisse nach Liebe und Zärtlichkeit, Umsorgtwerden und Behutsamkeit in diese Institution einfließen. Das aber erzeugt Angst und damit sehr oft eben gerade diejenige Form der Abweisung und Kälte, der man durch die Partnerschaft entgehen wollte.

Singles werden oft gefragt, wie sie es denn "aushalten" könnten ohne jenen warmen Bezug zum Intimpartner, ohne Möglichkeit, sich fallenzulassen, einem anderen "alles erzählen" zu können.

Es ist - um Selbstmitleid zu verhindern - ab und zu ganz gesund, sich zurückzuerinnern, wie das denn damals war ... Empirische Untersuchungen haben gezeigt, daß länger verheiratete Paare durchschnittlich pro Tag fünf bis sechs Minuten miteinander sprechen (vermutlich über den nötigen Einkauf und die Heizungsreparatur?). Natürlich sind in diesem "Durchschnitt" auch die statistischen Ausreißer verborgen, also diejenigen, die sich mehrmals wöchentlich hinsetzen zum Gedankenaustausch. Aber wie selten müssen sie sein, wenn der Durchschnitt derart erbärmliche Ergebnisse erbringt?

Offensichtlich ist die Vorstellung, die Ehe sei ein warmer Mantel, nicht ganz adäquat. Die vorausgesetzte "Sehnsucht" des Menschen nach der "einen und einzigen" Beziehung, die alleine diese Wärme spenden kann, ist es aber in dieser Verabsolutierung vermutlich auch nicht. Da uns die Ehe-Ideologien von Kirchen, Parteien und anderen Ideologie-Instanzen immer wieder so eindrucksvoll vorgeführt werden, vergessen wir darüber, daß diese Institution erst seit ca. hundertfünfzig Jahren eine ist, an der alle partizipieren können. Sollen wir annehmen, daß alle diejenigen, die nicht heiraten konnten, sich immer nur sehnsüchtig verzehrt haben nach einem Ehegespons? Natürlich nicht! Es wurde als gottgewollt oder einfach selbstverständlich hingenommen, daß man in seinem Stand blieb, und die bürgerliche Vorstellung vom Eheglück im trauten eigenen Heim war für viele undenkbar und wurde daher auch gar nicht ersehnt.

Es wäre falsch, die Tatsache, daß der Mensch zweifellos ein Wesen ist, das Verbindung zu anderen braucht, das sich sprechend definiert, sich von anderen abgrenzen muß, um die eigene Identität festzustellen, zu verwechseln mit einer erst historisch hergestellten, ganz speziellen Kommunikationsform: derjenigen der gefühlshaften Verbindung zum Partner, mit dem man vorwiegend den Austausch eigener Befindlichkeit teilt. Und natürlich ist auch die Sehnsucht nach dieser historisch spezifischen Kommunikationsform nichts Universelles, keine anthropologische Grundkonstante. Die Verwunderung darüber, daß eine Reihe von Singles ihre Situation nicht als defizitär empfinden, daß sie sich nicht im "Wartesaal des Lebens" wähnen, ist also unnötig. Ganz offensichtlich gibt es Menschen, die nicht unbedingt dieselbe Erfahrung (meist ist es ja eine gescheiterte Beziehung) zweimal machen wollen oder sogar solche, die jene spezielle Sehnsucht nach Dauer-Intimität erst gar nicht haben. Ihnen zu unterstellen, sie wären "eigentlich" doch unglücklich, sehnten sich doch nach einem Partner und ähnliches mehr, ist zwar üblich, aber offensichtlich nicht realitätsadäquat.

Viele unserer Werte, unserer Sehnsüchte und unserer Definitionen für uns selbst sind in hohem Maß beeinflußt von der speziellen historischen Situation, in der wir uns befinden. Einer der Werte, die wir in der modernen Zeit für uns reklamieren und denen wir nachstreben, ist die persönliche Autonomie. Dies ist in unserer jetzigen historischen Situation ein Wert, der im Wirrwarr von Großgesellschaften nützlich erscheint, um persönliches Wohlergehen zu sichern. Die Vorstellung, man müsse für sich allein geradestehen, Verantwortung übernehmen und müsse sich vor allem vor dem eigenen Gefühl verantworten, schafft Überblick in einer Gesellschaft, deren allgemeinverbindlichen Werte schwammig geworden sind.

Dieses Streben nach Autonomie - wenngleich ebensowenig eine absolute Konstante wie das Streben nach Intimität - wird von Menschen, die sich für längere Zeit oder für immer zum Alleinleben entschlossen haben, in besonderer Weise betont. Sie entwickeln Strategien, um diesen Wert der persönlichen Autonomie besser zu entwickeln, sich damit einzupassen in eine Welt, in der vieles unsicher und unübersichtlich geworden ist.

So wie es Zeiten gab, in denen die Entwicklung besonderer Begabungen zur Meditation, zum Bezug zur Transzendenz wichtig erschien, ist heute die Verwirklichung des Autonomiegedankens vielfach gefragt und wird denn auch von sehr vielen Instanzen gefordert: Mütter sollen ihre Kinder zur persönlichen Autonomie erziehen, Partner sollen sich in der Partnerschaft autonom entwickeln dürfen, und sogar im Betriebsleben gibt es überall Anstrengungen, persönliches Verantwortungsgefühl zu stärken.

Singles müssen diese Autonomie in ganz besonders gekonnter Weise in sich aktivieren. In gewisser Weise ist es daher berechtigt, sie als die "Pioniere der Moderne" zu bezeichnen.

© Eva Jaeggi, 1993

 
           
 
 
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