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Als noch nicht
Fünfzigjähriger werde ich mich hüten, den "Hochbetagten"
hier gute Ratschläge zu erteilen, ihnen zu sagen, was für
sie am besten wäre. Wie soll ich mit knapp fünfzig Jahren
wissen, welches die Lebenseinstellungen von Achtzigjährigen
sind? Ganz abgesehen davon, daß es die Achtzigjährigen
als homogene Gruppe gar nicht gibt.
Bezugnehmend auf die Situation bei uns in
Mitteleuropa möchte ich ein Zitat aus dem Munde einer der
Hauptbetroffenen anführen, das mich sehr nachdenklich stimmte
und, so hoffe ich, auch den Leser nachdenklich stimmen wird. Die
Worte von Marie Gattiker, einer hochbetagten Frau aus der Schweiz,
mögen zudem mehr Gewicht haben als meine. Im Sommer 1985
nahm sie in einem offenen Brief unter der Rubrik "Die Sicht
der Hochbetagten" Stellung zu einem Artikel von Dr. Peter
Rinderknecht, dem Informationschef der schweizerischen Stiftung
"Pro Senectute/Für das Alter". Unter dem Titel
"Senioren auf dem Weg zur Selbsthilfe. Von der Betreuung
zur Beteiligung" hatte dieser eine Reihe von Vorschlägen
zur Aktivierung älterer Mitmenschen sowie zur Entfaltung
von größerer Eigeninitiative gemacht. Eine Anzahl bereits
bestehender Gruppen wurde vorgestellt und ihr segenbringendes
Wirken gepriesen. Dabei kamen theaterspielende und musizierende
Alten-Ensembles zur Sprache wie die "Senior mach mit!-Initiative",
die Vereinigungen "Senioren für Senioren" ebenso
wie "Werkgruppen für Betagte". Besonders Rüstigen
wurden auch Aktivitäten wie "Pensionierte Praktiker
beraten Jung- und Kleinunternehmer" oder gar der "Einsatz
in der Entwicklungshilfe" nahegelegt.
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Marie Gattiker meinte dazu schlicht: "P.R.
hat in seinem Artikel wertvolle Vorschläge gemacht, die aber
einer Ergänzung bedürfen. Er berücksichtigt nämlich
nur die Altersgruppe derjenigen, die weniger als achtzig Jahre
alt sind; diese Gruppe hat sich in unserem Jahrhundert <in
der Schweiz> vervierfacht; die Gruppe der Hochbetagten, der
über 80jährigen, die sich in derselben Zeitspanne verzehnfacht
hat, bedenkt er nur mit gelegentlichen Spielnachmittagen, die
kein erfülltes Alter gewährleisten. Im Alterswohnheim,
in dem ich lebe, sind wir 75 Pensionäre, und das Durchschnittsalter
beträgt 85 Jahre. Wir gehören also mit wenigen Ausnahmen
zu den Hochbetagten. Die Aktivitäten, zu denen P.R. ermuntert,
sind uns versagt wegen abnehmender Seh-, Hör- und Körperkraft.
Das, was unserem letzten Lebensabschnitt Sinn und Erfüllung
geben kann, muß von langer Hand vorbereitet werden; wir
können es nicht, wie die Tätigkeiten der Jungsenioren,
von einem Tag auf den anderen übernehmen. Wer Zeit seines
Lebens die Freizeit, die ihm neben der Berufsarbeit verblieb,
mit den dürftigen Zerstreuungen der Massenmedien bestritten
hat, steht im letzten Lebensabschnitt in einer entsetzlichen Leere.
Die Menschen, die noch auf der Höhe des Lebens stehen, brauchten
ebenfalls eine Belehrung fürs Altwerden, denn nicht allen
gelingt es im Alter, durch das Nachdenken über sein Leben,
durch Meditation und wertvolle Lektüre, die so verbreitete
Lethargie und die Depressionen des Altwerdens zu überwinden.
Im letzten Lebensabschnitt zählt nicht mehr das Tun, sondern
vielmehr das Sein. Auch das Überdenken des Todes nimmt ihm
seinen Schrecken; er wird wie beim Üben einer schwierigen
Passage eines Musikstückes mit der Zeit zu etwas Vertrautem".
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So leidenschaftslos, so überzeugend,
so treffend und dabei so einfach und eindringlich hätte ich
mich nie ausdrücken können. Was hier vor uns ausgebreitet
wird, ist die Summe eines Lebens, eines erfüllten langen
Lebens. Es ist Lebenssattheit, nicht Resignation.
Eines allerdings hatte Peter Rinderknecht
in seinem Artikel auch gesehen, nämlich die wachsende Zahl
der Hochbetagten. Er machte seine Aktivierungsvorschläge
- so will mir scheinen - gar nicht in erster Linie deswegen, weil
er die Bevölkerung dazu aufrufen wollte, sich vermehrt um
die Gruppe der Jungsenioren zu kümmern, sondern gerade umgekehrt,
um sich nicht mehr so sehr um sie kümmern zu müssen.
Die in der Schweiz wie anderswo in Europa rasch zunehmende Zahl
sehr alter Menschen führt nach ihm zwangsläufig dazu,
"daß wir das Ideal der allgemeinen Betreuung der Betagten
allmählich aufgeben und uns auf die Gruppe der Hochbetagten
beschränken müssen, während das große Heer
der rüstigen "Jungsenioren" zu vermehrter Selbstaktivierung
und Beteiligung angeregt werden sollte. "Jungsenioren für
Altsenioren" oder das "Dritte Alter für das Vierte
Alter" - so könnte die Parole für die Zukunft lauten.
Diese Tendenz mag zwar von Sozialarbeitern bedauert werden, denn
noch ist die Neigung zur Bevormundung weit verbreitet. Es ist
deshalb zu begrüßen, daß überall Eigeninitiativen
von Senioren entstehen".
Hierin sehe ich jedoch zwei Gefahren im
Hinblick auf die Hochbetagten, die hier im Zentrum stehen. Zum
einen ist zwar richtig, daß sich unter den "sehr Alten"
viele befinden, die auf Fremdhilfe angewiesen sind, so wie dies
früher bei den "Alten" der Fall war. Doch scheint
nun die Bevormundung von den ehemaligen "Alten" auf
die "sehr Alten" abgeschoben zu werden. Ob diese jedoch
nicht dasselbe Bedürfnis nach Mündigkeit haben wie die
"Alten"? - Zum andern trifft auch nach meiner Ansicht
zu, daß "rostet, wer rastet". Ich möchte
somit nicht den Anschein erwecken, als wäre ich gegen die
Entfaltung von Eigeninitiativen oder Aktivitäten unter "Jungsenioren".
Nur sollten wir hierbei mitbedenken, was uns Maria Gattiker nahelegt:
"Im letzten Lebensabschnitt zählt nicht mehr das Tun,
sondern vielmehr das Sein", und: "Was unserem letzten
Lebensabschnitt Sinn und Erfüllung geben kann, muß
von langer Hand vorbereitet werden".
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Ob dazu der angepriesene Aktivismus für
Jungsenioren wirklich die richtige Vorbereitung ist? Läuft
er nicht gerade umgekehrt darauf hinaus, jeden Gedanken an eine
drohende "entsetzliche Leere" im Hochbetagten-Alter
zu verdrängen, solange es nur eben gehen will? Durch eine
lebenslang eingeübte Rastlosigkeit soll auch nach der Pensionierung
noch einmal für solange abgeblockt werden, was anschließend
mit um so größerer Wucht durchbrechen wird: die Leere.
Denn einmal wird die Zeit kommen - obwohl heute später -,
wo nichts mehr verschleiert werden kann, wo es mit dem "Tun"
endgültig vorbei ist und es nur noch das "Sein"
aus sich selbst gibt.
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