Arthur E. Imhof
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Leben wir zu lange?
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Arthur E.Imhof


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Als noch nicht Fünfzigjähriger werde ich mich hüten, den "Hochbetagten" hier gute Ratschläge zu erteilen, ihnen zu sagen, was für sie am besten wäre. Wie soll ich mit knapp fünfzig Jahren wissen, welches die Lebenseinstellungen von Achtzigjährigen sind? Ganz abgesehen davon, daß es die Achtzigjährigen als homogene Gruppe gar nicht gibt.

Bezugnehmend auf die Situation bei uns in Mitteleuropa möchte ich ein Zitat aus dem Munde einer der Hauptbetroffenen anführen, das mich sehr nachdenklich stimmte und, so hoffe ich, auch den Leser nachdenklich stimmen wird. Die Worte von Marie Gattiker, einer hochbetagten Frau aus der Schweiz, mögen zudem mehr Gewicht haben als meine. Im Sommer 1985 nahm sie in einem offenen Brief unter der Rubrik "Die Sicht der Hochbetagten" Stellung zu einem Artikel von Dr. Peter Rinderknecht, dem Informationschef der schweizerischen Stiftung "Pro Senectute/Für das Alter". Unter dem Titel "Senioren auf dem Weg zur Selbsthilfe. Von der Betreuung zur Beteiligung" hatte dieser eine Reihe von Vorschlägen zur Aktivierung älterer Mitmenschen sowie zur Entfaltung von größerer Eigeninitiative gemacht. Eine Anzahl bereits bestehender Gruppen wurde vorgestellt und ihr segenbringendes Wirken gepriesen. Dabei kamen theaterspielende und musizierende Alten-Ensembles zur Sprache wie die "Senior mach mit!-Initiative", die Vereinigungen "Senioren für Senioren" ebenso wie "Werkgruppen für Betagte". Besonders Rüstigen wurden auch Aktivitäten wie "Pensionierte Praktiker beraten Jung- und Kleinunternehmer" oder gar der "Einsatz in der Entwicklungshilfe" nahegelegt.

 

Marie Gattiker meinte dazu schlicht: "P.R. hat in seinem Artikel wertvolle Vorschläge gemacht, die aber einer Ergänzung bedürfen. Er berücksichtigt nämlich nur die Altersgruppe derjenigen, die weniger als achtzig Jahre alt sind; diese Gruppe hat sich in unserem Jahrhundert <in der Schweiz> vervierfacht; die Gruppe der Hochbetagten, der über 80jährigen, die sich in derselben Zeitspanne verzehnfacht hat, bedenkt er nur mit gelegentlichen Spielnachmittagen, die kein erfülltes Alter gewährleisten. Im Alterswohnheim, in dem ich lebe, sind wir 75 Pensionäre, und das Durchschnittsalter beträgt 85 Jahre. Wir gehören also mit wenigen Ausnahmen zu den Hochbetagten. Die Aktivitäten, zu denen P.R. ermuntert, sind uns versagt wegen abnehmender Seh-, Hör- und Körperkraft. Das, was unserem letzten Lebensabschnitt Sinn und Erfüllung geben kann, muß von langer Hand vorbereitet werden; wir können es nicht, wie die Tätigkeiten der Jungsenioren, von einem Tag auf den anderen übernehmen. Wer Zeit seines Lebens die Freizeit, die ihm neben der Berufsarbeit verblieb, mit den dürftigen Zerstreuungen der Massenmedien bestritten hat, steht im letzten Lebensabschnitt in einer entsetzlichen Leere. Die Menschen, die noch auf der Höhe des Lebens stehen, brauchten ebenfalls eine Belehrung fürs Altwerden, denn nicht allen gelingt es im Alter, durch das Nachdenken über sein Leben, durch Meditation und wertvolle Lektüre, die so verbreitete Lethargie und die Depressionen des Altwerdens zu überwinden. Im letzten Lebensabschnitt zählt nicht mehr das Tun, sondern vielmehr das Sein. Auch das Überdenken des Todes nimmt ihm seinen Schrecken; er wird wie beim Üben einer schwierigen Passage eines Musikstückes mit der Zeit zu etwas Vertrautem".

 

So leidenschaftslos, so überzeugend, so treffend und dabei so einfach und eindringlich hätte ich mich nie ausdrücken können. Was hier vor uns ausgebreitet wird, ist die Summe eines Lebens, eines erfüllten langen Lebens. Es ist Lebenssattheit, nicht Resignation.

Eines allerdings hatte Peter Rinderknecht in seinem Artikel auch gesehen, nämlich die wachsende Zahl der Hochbetagten. Er machte seine Aktivierungsvorschläge - so will mir scheinen - gar nicht in erster Linie deswegen, weil er die Bevölkerung dazu aufrufen wollte, sich vermehrt um die Gruppe der Jungsenioren zu kümmern, sondern gerade umgekehrt, um sich nicht mehr so sehr um sie kümmern zu müssen. Die in der Schweiz wie anderswo in Europa rasch zunehmende Zahl sehr alter Menschen führt nach ihm zwangsläufig dazu, "daß wir das Ideal der allgemeinen Betreuung der Betagten allmählich aufgeben und uns auf die Gruppe der Hochbetagten beschränken müssen, während das große Heer der rüstigen "Jungsenioren" zu vermehrter Selbstaktivierung und Beteiligung angeregt werden sollte. "Jungsenioren für Altsenioren" oder das "Dritte Alter für das Vierte Alter" - so könnte die Parole für die Zukunft lauten. Diese Tendenz mag zwar von Sozialarbeitern bedauert werden, denn noch ist die Neigung zur Bevormundung weit verbreitet. Es ist deshalb zu begrüßen, daß überall Eigeninitiativen von Senioren entstehen".

Hierin sehe ich jedoch zwei Gefahren im Hinblick auf die Hochbetagten, die hier im Zentrum stehen. Zum einen ist zwar richtig, daß sich unter den "sehr Alten" viele befinden, die auf Fremdhilfe angewiesen sind, so wie dies früher bei den "Alten" der Fall war. Doch scheint nun die Bevormundung von den ehemaligen "Alten" auf die "sehr Alten" abgeschoben zu werden. Ob diese jedoch nicht dasselbe Bedürfnis nach Mündigkeit haben wie die "Alten"? - Zum andern trifft auch nach meiner Ansicht zu, daß "rostet, wer rastet". Ich möchte somit nicht den Anschein erwecken, als wäre ich gegen die Entfaltung von Eigeninitiativen oder Aktivitäten unter "Jungsenioren". Nur sollten wir hierbei mitbedenken, was uns Maria Gattiker nahelegt: "Im letzten Lebensabschnitt zählt nicht mehr das Tun, sondern vielmehr das Sein", und: "Was unserem letzten Lebensabschnitt Sinn und Erfüllung geben kann, muß von langer Hand vorbereitet werden".

 

Ob dazu der angepriesene Aktivismus für Jungsenioren wirklich die richtige Vorbereitung ist? Läuft er nicht gerade umgekehrt darauf hinaus, jeden Gedanken an eine drohende "entsetzliche Leere" im Hochbetagten-Alter zu verdrängen, solange es nur eben gehen will? Durch eine lebenslang eingeübte Rastlosigkeit soll auch nach der Pensionierung noch einmal für solange abgeblockt werden, was anschließend mit um so größerer Wucht durchbrechen wird: die Leere. Denn einmal wird die Zeit kommen - obwohl heute später -, wo nichts mehr verschleiert werden kann, wo es mit dem "Tun" endgültig vorbei ist und es nur noch das "Sein" aus sich selbst gibt.

 
           
 
 
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