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Durch den handlungssüchtigen
Aktivismus gaukeln wir uns jedoch ein weiteres Mal vor, wie sehr
uns die Welt noch immer braucht. Wir stemmen uns in uneinsichtiger
Weise gegen einen angeblichen Statusverlust, den wir (vor allem
die Männer) mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben oder
(besonders Frauen) durch den Verlust des Ehemannes erleiden würden.
Wieso eigentlich? Da rennen wir nochmals dem Jugendrausch nach
uneingeschränkter Teilnahme am brausenden Leben nach, streben
wichtigtuerisch nach Geltung und gesellschaftlicher Integration,
heischen Partizipation an allen möglichen Aktivitäten
und lechzen weiterhin nach einem täglichen Arbeitspensum.
Wir brüsten uns vor anderen damit, wie sehr der Ruhestand
ein Unruhestand sei und benebeln und betäuben uns dadurch
doch nur.
Ich frage noch
einmal: wieso eigentlich? Selbst einem Fünfzigjährigen
leuchtet heute doch schon ein, daß unser Leben darauf hinausläuft,
mehr und mehr "überflüssig" zu werden. Das
trifft - sofern wir Mütter und Väter sind - im Hinblick
auf das Großziehen von Kindern genauso zu wie bei Berufstätigen
bezüglich ihrer Arbeit. Solange die durchschnittliche Lebenserwartung
erwachsener Menschen, Männer wie Frauen, bis ins 19. Jahrhundert
hinein noch bei etwa sechzig Jahren lag, löste die jüngere
Generation die ältere ab, wenn diese am Ende ihrer "Vita
activa" angelangt war. Sterbealter und altersmäßig
bedingtes Auslaufen des "aktiven Lebens" fielen einigermaßen
zusammen. Die jüngere Generation wurde flügge, wenn
die ältere das Zeitliche segnete. Generationskonflikte waren
damals strukturell nicht vorprogrammiert.
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Heute dagegen sind sie es in vielen Fällen.
Das Sterbealter wurde um ein Dutzend und mehr Jahre angehoben;
das Erwachsenenleben währt beinahe ein Drittel länger.
Doch offenbar noch ganz der Mentalität von gestern verhaftet,
glauben viele unter uns, nun auch diese zusätzlichen Jahre
im gleichen "Vita activa"-Tempo durchstehen zu müssen.
Wieso nutzen wir die erstmalige Chance der verlängerten Lebenszeit
nicht besser? Der ans Berufs- oder Familienleben anschließende
Teil heißt ja nicht "Vita passiv"", sondern
"Vita contemplativa". Das tönt weder resignierend,
noch lebensverneinend.
Auch wirtschaftlich gesehen können
wir es uns leisten, "überflüssig" zu werden.
Wir sind heute bei uns abgesicherter als zu jedem früheren
Zeitpunkt in der Geschichte und als irgend jemand sonst auf der
Welt. Wir brauchen im Ruhestand keine "Vita activa"
zu betreiben, um Wohnung, Kleidung, Nahrung sicherzustellen. Wir
haben, wie die Vorfahren auch, unser Teil geleistet, wenn wir
mit 60, 65 Jahren allmählich gegen das Ende der "Vita
activa" stoßen. Doch sterben wir, im Gegensatz zu ihnen,
dann nicht mehr einfach weg. Vielmehr wird uns jede erdenkliche
Chance eingeräumt, daran anschließend eine "Vita
contemplativa" von zehn, zwanzig, dreißig Jahren zu
führen. Wem daraus Langeweile, Einsamkeit oder gar eine "entsetzliche
Leere" erwächst, ist zu bedauern. Und er ist zum großen
Teil auch selber schuld daran.
Wir müssen
lernen, überflüssig zu werden, uns mehr und mehr auf
uns selbst besinnen und auf uns zurückziehen zu können,
dabei nicht etwa in Eigenbrödelei zu versinken, sondern uns
mehr und mehr selbst zu finden. Überflüssig werden heißt
somit keineswegs, sich von der Welt abzukapseln und mit den anderen
nichts mehr zu tun haben zu wollen. Es heißt jedoch sehr
wohl, sich den anderen nicht länger aufzudrängen, nicht
mehr um jeden Preis um (s)eine Position kämpfen und am Gerangel
beruflicher, gesellschaftlicher oder politischer Posten teilhaben
zu müssen. "Überflüssig werden" ist etwas
Positives, und zwar für sich selbst wie für die anderen.
Wer mich sucht, der findet mich auch weiterhin für ihn bereit.
Aber weder ist er, noch bin ich zu meiner Selbstbestätigung
hierauf angewiesen. - Ich frage mich übrigens oft, ob ein
solcher Zustand des sich nicht Aufdrängens und doch zur Verfügung
Stehens nicht auch eine solide Basis für "Liebe"
sein könnte?
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Aus den Worten der hochbetagten Marie Gattiker
ging indes auch hervor, daß dieses allmähliche Loslassen
offensichtlich gelernt sein will. Wer erst mit achtzig dazu gezwungen
wird, weil sein Körper den benebelnden Aktivismus nicht mehr
länger mitmacht, der dürfte in der Tat in Lethargie
und Depression versinken. Für ihn muß das, was dann
noch folgt, überflüssig wirken. Statt "gewonnene"
sind es für ihn nur noch "zusätzliche" Jahre
- bis der Tod endlich ein Einsehen hat. Von "Vita contemplativa"
kann da keine Rede sein. Vielmehr tut sich nun die "entsetzliche
Leere" auf. Statt auf ein erfülltes langes Leben zurückzublicken
und auch in diesem hohen Alter noch aus sich selbst sinnvoll leben
zu können, kommt ein solcher Mensch dann womöglich zur
späten Einsicht, gerade nicht gelebt zu haben. Doch nun ist
es zu spät. Das Angebot ist vertan, die Chance vorüber
- und er hat sie nicht wahrgenommen. Das Leben - das lange, lange
Leben - geht zu Ende, bevor es sich entfalten konnte. Schade um
die vielen Jahre.
In der Geschichte hörte ich von Kriegen,
von Pestilenzen, von Mißernten. Auf den Reisen lernte ich
Völker und Menschen kennen, denen es sehr unterschiedlich
gut ging. Am einen Ort gab es viele Kinder, aber sie waren schlecht
ernährt und hatten aufgequollene Hungerbäuche. Und manche
unter ihnen starben schon früh wieder weg. Am anderen Ort
fielen mir die zahlreichen älteren und alten Menschen im
Straßenbild sowie in den Parkanlagen auf; und deren Bäuche
waren Wohlstandsbäuche. Wohl begriff ich sehr bald, daß
am ersten Ort eine hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit,
das Vorherrschen von infektiösen und parasitären Krankheiten
sowie Unhygiene und mangelhafte Ernährung genausoviel miteinander
zu tun haben mußten wie am zweiten das augenfällig
höhere Durchschnittsalter dieser Menschen mit ihrem Überfluß.
Und ebenso rasch verstand ich, daß die Situation am ersten
Ort eine Illustration jener Verhältnisse sein mußte,
unter denen unsere eigenen Vorfahren während Jahrhunderten
gelebt und überlebt hatten.
Diese Erkenntnisse
für sich waren indes noch nicht mehr als Impressionen, als
das Registrieren von Eindrücken, die mit einigen Überlegungen
zusammengehalten wurden. Sehr viel mehr Kopfzerbrechen bereitete
es mir, und es dauerte wesentlich länger, bis ich mir einen
Reim darauf machen konnte, weshalb die Menschen am ersten Ort
nicht alle todtraurig dreinschauten und sie am zweiten nicht stets
mit fröhlicher Miene daherkamen, ja daß mir am ersten
einige ganz offen sagten, sie möchten gar nicht mit mir tauschen.
Zuvor war ich immer davon ausgegangen, daß allein ich nicht
mit ihnen und somit auch nicht mit unseren Vorfahren tauschen
möchte. Diese banal anmutenden Fakten waren es, die mich
zum Nachdenken, zum Zimmern eines Gedankengebäudes zwangen:
Was bewirkte - und bewirkt - der bei uns weitgehend vollzogene
und anderswo noch im Gang befindliche Wandel von der unsicheren
zur sicheren Lebenszeit? Offensichtlich nicht nur Gutes.
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