Arthur E. Imhof
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Leben wir zu lange?
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Deutschland um 1900

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Arthur E.Imhof


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Durch den handlungssüchtigen Aktivismus gaukeln wir uns jedoch ein weiteres Mal vor, wie sehr uns die Welt noch immer braucht. Wir stemmen uns in uneinsichtiger Weise gegen einen angeblichen Statusverlust, den wir (vor allem die Männer) mit dem Ausscheiden aus dem Berufsleben oder (besonders Frauen) durch den Verlust des Ehemannes erleiden würden. Wieso eigentlich? Da rennen wir nochmals dem Jugendrausch nach uneingeschränkter Teilnahme am brausenden Leben nach, streben wichtigtuerisch nach Geltung und gesellschaftlicher Integration, heischen Partizipation an allen möglichen Aktivitäten und lechzen weiterhin nach einem täglichen Arbeitspensum. Wir brüsten uns vor anderen damit, wie sehr der Ruhestand ein Unruhestand sei und benebeln und betäuben uns dadurch doch nur.

Ich frage noch einmal: wieso eigentlich? Selbst einem Fünfzigjährigen leuchtet heute doch schon ein, daß unser Leben darauf hinausläuft, mehr und mehr "überflüssig" zu werden. Das trifft - sofern wir Mütter und Väter sind - im Hinblick auf das Großziehen von Kindern genauso zu wie bei Berufstätigen bezüglich ihrer Arbeit. Solange die durchschnittliche Lebenserwartung erwachsener Menschen, Männer wie Frauen, bis ins 19. Jahrhundert hinein noch bei etwa sechzig Jahren lag, löste die jüngere Generation die ältere ab, wenn diese am Ende ihrer "Vita activa" angelangt war. Sterbealter und altersmäßig bedingtes Auslaufen des "aktiven Lebens" fielen einigermaßen zusammen. Die jüngere Generation wurde flügge, wenn die ältere das Zeitliche segnete. Generationskonflikte waren damals strukturell nicht vorprogrammiert.

Heute dagegen sind sie es in vielen Fällen. Das Sterbealter wurde um ein Dutzend und mehr Jahre angehoben; das Erwachsenenleben währt beinahe ein Drittel länger. Doch offenbar noch ganz der Mentalität von gestern verhaftet, glauben viele unter uns, nun auch diese zusätzlichen Jahre im gleichen "Vita activa"-Tempo durchstehen zu müssen. Wieso nutzen wir die erstmalige Chance der verlängerten Lebenszeit nicht besser? Der ans Berufs- oder Familienleben anschließende Teil heißt ja nicht "Vita passiv"", sondern "Vita contemplativa". Das tönt weder resignierend, noch lebensverneinend.

Auch wirtschaftlich gesehen können wir es uns leisten, "überflüssig" zu werden. Wir sind heute bei uns abgesicherter als zu jedem früheren Zeitpunkt in der Geschichte und als irgend jemand sonst auf der Welt. Wir brauchen im Ruhestand keine "Vita activa" zu betreiben, um Wohnung, Kleidung, Nahrung sicherzustellen. Wir haben, wie die Vorfahren auch, unser Teil geleistet, wenn wir mit 60, 65 Jahren allmählich gegen das Ende der "Vita activa" stoßen. Doch sterben wir, im Gegensatz zu ihnen, dann nicht mehr einfach weg. Vielmehr wird uns jede erdenkliche Chance eingeräumt, daran anschließend eine "Vita contemplativa" von zehn, zwanzig, dreißig Jahren zu führen. Wem daraus Langeweile, Einsamkeit oder gar eine "entsetzliche Leere" erwächst, ist zu bedauern. Und er ist zum großen Teil auch selber schuld daran.

Wir müssen lernen, überflüssig zu werden, uns mehr und mehr auf uns selbst besinnen und auf uns zurückziehen zu können, dabei nicht etwa in Eigenbrödelei zu versinken, sondern uns mehr und mehr selbst zu finden. Überflüssig werden heißt somit keineswegs, sich von der Welt abzukapseln und mit den anderen nichts mehr zu tun haben zu wollen. Es heißt jedoch sehr wohl, sich den anderen nicht länger aufzudrängen, nicht mehr um jeden Preis um (s)eine Position kämpfen und am Gerangel beruflicher, gesellschaftlicher oder politischer Posten teilhaben zu müssen. "Überflüssig werden" ist etwas Positives, und zwar für sich selbst wie für die anderen. Wer mich sucht, der findet mich auch weiterhin für ihn bereit. Aber weder ist er, noch bin ich zu meiner Selbstbestätigung hierauf angewiesen. - Ich frage mich übrigens oft, ob ein solcher Zustand des sich nicht Aufdrängens und doch zur Verfügung Stehens nicht auch eine solide Basis für "Liebe" sein könnte?

"Bewohner eines Alten- und Pflegeheims"

Aus den Worten der hochbetagten Marie Gattiker ging indes auch hervor, daß dieses allmähliche Loslassen offensichtlich gelernt sein will. Wer erst mit achtzig dazu gezwungen wird, weil sein Körper den benebelnden Aktivismus nicht mehr länger mitmacht, der dürfte in der Tat in Lethargie und Depression versinken. Für ihn muß das, was dann noch folgt, überflüssig wirken. Statt "gewonnene" sind es für ihn nur noch "zusätzliche" Jahre - bis der Tod endlich ein Einsehen hat. Von "Vita contemplativa" kann da keine Rede sein. Vielmehr tut sich nun die "entsetzliche Leere" auf. Statt auf ein erfülltes langes Leben zurückzublicken und auch in diesem hohen Alter noch aus sich selbst sinnvoll leben zu können, kommt ein solcher Mensch dann womöglich zur späten Einsicht, gerade nicht gelebt zu haben. Doch nun ist es zu spät. Das Angebot ist vertan, die Chance vorüber - und er hat sie nicht wahrgenommen. Das Leben - das lange, lange Leben - geht zu Ende, bevor es sich entfalten konnte. Schade um die vielen Jahre.

In der Geschichte hörte ich von Kriegen, von Pestilenzen, von Mißernten. Auf den Reisen lernte ich Völker und Menschen kennen, denen es sehr unterschiedlich gut ging. Am einen Ort gab es viele Kinder, aber sie waren schlecht ernährt und hatten aufgequollene Hungerbäuche. Und manche unter ihnen starben schon früh wieder weg. Am anderen Ort fielen mir die zahlreichen älteren und alten Menschen im Straßenbild sowie in den Parkanlagen auf; und deren Bäuche waren Wohlstandsbäuche. Wohl begriff ich sehr bald, daß am ersten Ort eine hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit, das Vorherrschen von infektiösen und parasitären Krankheiten sowie Unhygiene und mangelhafte Ernährung genausoviel miteinander zu tun haben mußten wie am zweiten das augenfällig höhere Durchschnittsalter dieser Menschen mit ihrem Überfluß. Und ebenso rasch verstand ich, daß die Situation am ersten Ort eine Illustration jener Verhältnisse sein mußte, unter denen unsere eigenen Vorfahren während Jahrhunderten gelebt und überlebt hatten.

Diese Erkenntnisse für sich waren indes noch nicht mehr als Impressionen, als das Registrieren von Eindrücken, die mit einigen Überlegungen zusammengehalten wurden. Sehr viel mehr Kopfzerbrechen bereitete es mir, und es dauerte wesentlich länger, bis ich mir einen Reim darauf machen konnte, weshalb die Menschen am ersten Ort nicht alle todtraurig dreinschauten und sie am zweiten nicht stets mit fröhlicher Miene daherkamen, ja daß mir am ersten einige ganz offen sagten, sie möchten gar nicht mit mir tauschen. Zuvor war ich immer davon ausgegangen, daß allein ich nicht mit ihnen und somit auch nicht mit unseren Vorfahren tauschen möchte. Diese banal anmutenden Fakten waren es, die mich zum Nachdenken, zum Zimmern eines Gedankengebäudes zwangen: Was bewirkte - und bewirkt - der bei uns weitgehend vollzogene und anderswo noch im Gang befindliche Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit? Offensichtlich nicht nur Gutes.

 
           
 
 
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