Arthur E. Imhof
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Leben wir zu lange?
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Arthur E.Imhof


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Den ausgelösten Denkprozeß habe ich in meinem Buch "Die Lebenszeit" geschildert und die zurückgelegten Etappen anhand einer Vielzahl von Abbildungen illustriert und einzeln beschrieben. Ich erläuterte, wo ich heute stehe und wieso ich dahin gelangt bin. Noch immer möchte ich - selbst nach dem letzten gewaltig nachwirkenden Denkanstoß in Australien und Neuseeland - nicht tauschen, weder mit meinen Vorfahren noch mit irgend jemandem in einem Land der Zweiten, Dritten, Vierten Welt. Überheblich schiene mir diese Haltung jedoch nur dann zu sein, wenn ich ausschließlich ein schamloser Nutznießer unserer sowohl weltweit wie auch historisch einmalig privilegierten Stellung wäre. Indes übersehe ich nicht die vielen Schattenseiten. Ich habe an keiner Stelle behauptet, daß wir nach der Zurückdrängung von "Pest, Hunger und Krieg" bei uns heute im Paradiese lebten. Im Gegenteil wurde immer und immer wieder auf die Glashaus-Atmosphäre unserer Situation aufmerksam gemacht. "Pest, Hunger und Krieg" können jederzeit zurückkehren, wenn wir nicht klug genug sind, sie auch weiterhin unter Kontrolle zu halten.

Im Augenblick aber haben wir die alte Trias - und hatten sie während der letzten drei, vier Jahrzehnte - unter Kontrolle. Und dies zeigt Wirkung. Als eines der Beispiele, auf das immer wieder Bezug genommen wurde, sei nochmals angeführt, wie im Zuge von einerseits wegfallenden jahrhundertealten Bedrohungen und andererseits nie zuvor in gleichem Ausmaß verwirklichten sozialen und wirtschaftlichen Sicherheiten die früher überlebensnotwendigen Gemeinschaftsbande lockerer wurden und sich lösten. Noch nie gingen so viele Menschen als Einzelne durchs Leben wie heute bei uns. Ein anderes Beispiel, das ebensowenig auf paradiesische Zustände schließen läßt, sind unsere heutigen Todesursachen. Nach der weitgehenden Ausmerzung von Infektionskrankheiten, die seinerzeit verhältnismäßig rasch und in allen Altern zuschlugen, stirbt heute bei uns die überwiegende Mehrzahl an chronischen und degenerativen Gesundheitseinbußen in vorgerücktem Alter, und dies oft erst nach langer Leidensphase und vielfältigen damit verbundenen Abhängigkeiten.

Aus all dem gilt es, die Konsequenzen zu ziehen: für uns, hier und heute, für mich persönlich und in Verbindung mit meiner Umwelt, aber auch im Hinblick auf jene, die uns auf der ganzen Erde in größerem oder kleinerem Abstand folgen, manchmal bedenkenlos, manchmal zögernd, manchmal widerwillig. Nur wenige gibt es, die einen anderen Weg vorziehen und nicht nach einer Maximierung von Lebensjahren streben.

Obwohl er noch lange nicht aufgefüllt ist, gibt mir dieser Rahmen mitsamt seinem sich darin allmählich abzeichnenden Gesamtbild bereits heute nicht nur die Möglichkeit, all das, was ich auf der Welt sehe oder aus der Geschichte lerne, sinnvoll einzuordnen, sondern er versetzt mich auch in die Lage, zielstrebig auszuwählen. Niemand kann alles machen, alles in sich aufnehmen und verarbeiten. Das Zeitbudget jedes Menschen ist - selbst bei einem langen Leben - beschränkt. Mit einem Ziel vor Augen läßt sich aber zumindest die in jungen Jahren häufige bloße Betriebsamkeit und die damit verbundene Hektik eindämmen sowie jeder übertriebene Aktivismus, der nur die Zeit totschlägt statt sie zu nutzen, vermeiden. Wie jedem anderen Hochschullehrer, der sich im Verlaufe der Jahre zum Spezialisten in diesem oder jenem Fach entwickelt hat, gehen auch mir laufend Anfragen zu, ob ich nicht für diese Zeitschrift oder jenen Sammelband noch einen Artikel verfassen könnte oder an dieser Konferenz oder vor jener Gesellschaft noch einen Vortrag halten würde. Doch ist die Frage für mich heute längst nicht mehr, wie und wann ich all diese "ehrenvollen Aufgaben" neben den anderen Verpflichtungen auch noch erledigen soll. Meine Entscheidung richtet sich rigoros nach dem Kriterium, wo ich tatsächlich etwas zu sagen habe. Statt einem Dutzend Vorträge, in denen dasselbe immer noch einmal in etwas anderen Worten zum Ausdruck gebracht wird, gibt es dann vielleicht nur zwei. Und statt fünf Artikeln entsteht möglicherweise nur einer - oder auch gar keiner, damit ich mich auf eine weitere Gastdozentur im Schwellenland Brasilien oder in noch weniger entwickelten Gebieten Indiens konzentrieren kann. Denn dort habe ich, wie ich meine, etwas zu sagen und kann vielleicht etwas bewirken, mehr jedenfalls, als durch den fünften oder zehnten Auftritt vor ausgewähltem Fachpublikum im heimischen Elfenbeinturm.

Nun meine ich selbstverständlich keineswegs, daß mein Beispiel der einzig gangbare Weg sei, um ein erfülltes langes Leben zu erreichen. Ein Allgemeinrezept hierfür gibt es meines Erachtens auch gar nicht. Die individuellen Voraussetzungen sind bei jedem Menschen anders, geprägt durch unterschiedliche Interessen, Bildung, ökonomische Verhältnisse, Freundes- oder Familienkreis, Gesundheitszustand, Wohnungssituation, persönliche Neigungen und Wünsche. Was dem einen seine Bildungsreisen sind oder Museums-, Konzert- und Theaterbesuche, sind dem anderen vielleicht Sportveranstaltungen, Hobbygärtnerei, Kaffeekränzchen oder die Bienenzucht. Übereinstimmend ist wohl bloß, daß die Planung für eine <Vita contemplativa> in eine allgemeine Lebensplanung eingegliedert werden muß. Und dazu eignen sich von den eben angeführten Beispielen gewiß nicht alle gleich gut, vor allem dann nicht, wenn wir bedenken, daß dem Dritten Alter noch ein Viertes folgt. Denn dann zählt nur noch das Sein, nicht mehr das Tun.

Drei Gesichtspunkte scheinen mir abschließend allgemeinere Gültigkeit zu haben und im Zusammenhang mit der ganzen Themenstellung wichtig zu sein:

Erstens: Hoch entwickelte Gesellschaften mit großer Lebenssicherheit weisen eine wachsende Zahl von allein durchs Leben gehenden Menschen auf, werden also zunehmend Gesellschaften von Einzelgängern. Wer aber lebenslang ein Einzelgänger gewesen ist, wandelt sich im höheren und hohen Alter weder selbst zu einem "sozialen Wesen", noch kann oder wird er erwarten, daß sich dann unversehens irgendwelche "Gemeinschaften" um ihn kümmern. Einzelgänger sind und bleiben Einzelgänger, auch wenn sie als Hochbetagte mehr und mehr auf Fremdhilfe angewiesen sind.

Es sei hier außerdem nochmals an die unterschiedliche Lebenserwartung von Mann und Frau erinnert. 1981/83 wurden in der Bundesrepublik Deutschland unter 100 Frauen 52 80 und 31 85 Jahre alt, unter 100 Männern jedoch nur 29 und 14. Entsprechend hoch ist der Anteil älterer und alter Witwen. Weiter oben wurde bereits erwähnt, daß sich 1984 unter den in einem Alter von 80 und mehr Jahren Gestorbenen 128.788 Witwen, jedoch nur 40.870 Witwer befanden.

Nostalgieverbrämte, "gute alte" Gemeinschafts- insbesondere Familienbande beschwörende romantisch-rückwärtsgewandte Appelle wollen uns oft weismachen, daß "Einsamkeit im Alter" etwas Schreckliches sei. Abgesehen davon, daß entgegen landläufiger Meinung Alleinsein und Einsamsein zwei verschiedene Dinge sind, entsprechen die Vorstellungen vieler hier wohl nicht ganz den Tatsachen. Die Inhaberin des 1986 an der Universität Heidelberg eingerichteten ersten Lehrstuhls für Gerontologie in der Bundesrepublik Deutschland, die Psychologin Ursula Lehr, spricht unumwunden vom "Mythos der Einsamkeit im Alter".

Als unverfängliche Belege für diesen Mythos möchte ich die übereinstimmenden Ergebnisse zweier außereuropäischer Studien anführen, die das angebliche "Einsamkeits-Problem" nie verheirateter beziehungsweise kinderloser älterer Menschen in einer Wohlstandgesellschaft zum Thema haben. Die eine wurde in Australien, die andere in Kanada durchgeführt.

Die übereinstimmende Quintessenz mag auf viele wie ein Schock wirken: Weder sind allein stehende Menschen einzig aufgrund dieses Umstands "einsamer" als in Gemeinschaft lebende - vor allem auch ältere und alte nicht -, noch geht es ihnen sonstwie schlechter, sofern sie gesund sind. Es scheint mir besser, dieser Tatsache unvoreingenommen ins Auge zu blicken als einer Vergangenheit nachzutrauern, die es nicht mehr gibt, wenn es sie denn jemals gegeben haben sollte.

Zweitens: Auch wer nunmehr bereit ist umzudenken, wird nicht so leicht über den möglicherweise doch alles wieder in Frage stellenden Nebensatz "..., sofern sie gesund sind" hinwegkommen. Gemahnt er nicht an das berüchtigte Bild der Achillesferse? Die statistisch nachweisbare Zunahme unserer durchschnittlichen Lebenserwartung und die Standardisierung der Sterbealter auf hohem Niveau bedeuten ja noch keineswegs dasselbe wie ein gesundes langes Leben bis zum letzten Augenblick. Kennt nicht jeder genügend Beispiele aus seiner Umgebung, wie chronische Leiden älteren Menschen zu schaffen machen und wie sie diese in physische und psychische Abhängigkeit versetzen, und zwar nicht nur während zweier oder dreier Wochen vor den Tod, sondern monate- und jahrelang?

Allerdings scheint unser Blick auch hier getrübt zu sein, zum einen durch die Angst, daß es genau uns dereinst so treffen könnte, zum andern durch die beinahe ständige Diskussion in den Medien um die angeblich nicht mehr bezahlbaren Ausgaben für immer mehr ältere Menschen im Gesundheitswesen. Wie sieht die Realität aus? Die Ergebnisse einer jüngst gemeinsam vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern und der Stiftung für experimentelle Altersforschung in Basel durchgeführten Studie über "Behinderungen und Bedürfnisse Betagter" sind geeignet, zumindest die Relationen zurechtzurücken. Von medizinischer Seite kam man zum Schluß, "daß weitaus die meisten 'Betagten die Möglichkeiten haben, ihren Lebensabend in positivem Sinne zu erleben". Von den untersuchten 66- bis 75jährigen waren ganze 9,3 Prozent auf tägliche Hilfe im Haushalt (z.B. das Bett machen oder Geschirr spülen) oder für die Pflege (beim Aufstehen und Waschen, auf der Toilette) angewiesen. Erst bei den über 85jährigen, also den sehr alten Hochbetagten, stieg der Prozentsatz auf 46,1 Prozent.

Angesichts solcher eher optimistisch stimmenden Tatsachen meinten denn einige amerikanische Forscher in der umstrittenen Diskussion über die "Compression of morbidity", das heißt die Verkürzung der Krankheitsphase vor dem Tode, auch bereits, daß wir uns sehr rasch einer vierten Phase in der epidemiologischen Transition näherten, nämlich dem "Age of Delayed Degenerative Diseases - a stage characterized distinctly by rapid mortality declines in advanced ages that are caused by a postponement of the ages at which degenerative diseases tend to kill".

Wichtiger als diese vielleicht doch fragwürdige Euphorie scheint mir indes der Denkanstoß zu sein, den dieselben Forscher ihren Lesern in der Schlußbemerkung mit auf den Weg geben: "Whether the influence will be positive or negative has yet to be determined. It is suggested in this paper that the age of delayed degenerative diseases represents an unexpected and perhaps welcome era in our epidemiologic history, an era that requires new ways of thinking about aging, disease, morbidity, mortality, and certainly how life will be lived in advanced ages in the very near future". Hier wird keineswegs vorschnell dem Gedanken einer kommenden "schönen neuen Welt" gehuldigt, allein deshalb, weil ökologische und physiologische Lebenserwartung allmählich zur Deckung gelangen könnten.

Drittens: Statistiken und Durchschnittswerte sind die eine Sache. Sie kommen bei uns heute aufgrund von gesammelten Angaben über eine Vielzahl von Menschen zustande. Deshalb darf daraus berechtigterweise auch geschlossen werden, daß heute bei uns immer mehr Menschen immer länger am Leben bleiben. Aber nicht alle. Eine Garantie für den einzelnen gibt es aufgrund statistischer Durchschnittswerte nicht. So ist denn das, was mich selbst, meine eigene Person betrifft, immer noch eine andere Sache. Was nun, wenn gerade ich zu den statistischen Ausnahmen gehöre? Was wenn ausgerechnet mich ein schweres chronisches Leiden "viel zu früh" im Leben packt und schon mit vierzig oder fünfzig statt mit siebzig oder achtzig zu einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem sich abzeichnenden Ende zwingt? Sterben setzt spätestens mit der Gewißheit ein, an einer unheilbaren tödlichen Krankheit zu leiden. Sterben ist dann immer ein Stück Leben und besteht nicht nur aus den letzten Stunden vor dem physischen Tod. Sterben ist ein definitives Abschiednehmen von allem, was einem lieb ist: ein endgültiges Loslassen. "Aufmunterungsversuche" sind hier ebenso fehl am Platz wie jeder billige Trost.

 
           
 
 
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