Den ausgelösten
Denkprozeß habe ich in meinem Buch "Die Lebenszeit"
geschildert und die zurückgelegten Etappen anhand einer Vielzahl
von Abbildungen illustriert und einzeln beschrieben. Ich erläuterte,
wo ich heute stehe und wieso ich dahin gelangt bin. Noch immer
möchte ich - selbst nach dem letzten gewaltig nachwirkenden
Denkanstoß in Australien und Neuseeland - nicht tauschen,
weder mit meinen Vorfahren noch mit irgend jemandem in einem Land
der Zweiten, Dritten, Vierten Welt. Überheblich schiene mir
diese Haltung jedoch nur dann zu sein, wenn ich ausschließlich
ein schamloser Nutznießer unserer sowohl weltweit wie auch
historisch einmalig privilegierten Stellung wäre. Indes übersehe
ich nicht die vielen Schattenseiten. Ich habe an keiner Stelle
behauptet, daß wir nach der Zurückdrängung von
"Pest, Hunger und Krieg" bei uns heute im Paradiese
lebten. Im Gegenteil wurde immer und immer wieder auf die Glashaus-Atmosphäre
unserer Situation aufmerksam gemacht. "Pest, Hunger und Krieg"
können jederzeit zurückkehren, wenn wir nicht klug genug
sind, sie auch weiterhin unter Kontrolle zu halten.
Im Augenblick aber haben wir die alte Trias
- und hatten sie während der letzten drei, vier Jahrzehnte
- unter Kontrolle. Und dies zeigt Wirkung. Als eines der Beispiele,
auf das immer wieder Bezug genommen wurde, sei nochmals angeführt,
wie im Zuge von einerseits wegfallenden jahrhundertealten Bedrohungen
und andererseits nie zuvor in gleichem Ausmaß verwirklichten
sozialen und wirtschaftlichen Sicherheiten die früher überlebensnotwendigen
Gemeinschaftsbande lockerer wurden und sich lösten. Noch
nie gingen so viele Menschen als Einzelne durchs Leben wie heute
bei uns. Ein anderes Beispiel, das ebensowenig auf paradiesische
Zustände schließen läßt, sind unsere heutigen
Todesursachen. Nach der weitgehenden Ausmerzung von Infektionskrankheiten,
die seinerzeit verhältnismäßig rasch und in allen
Altern zuschlugen, stirbt heute bei uns die überwiegende
Mehrzahl an chronischen und degenerativen Gesundheitseinbußen
in vorgerücktem Alter, und dies oft erst nach langer Leidensphase
und vielfältigen damit verbundenen Abhängigkeiten.
Aus all dem gilt es, die Konsequenzen zu
ziehen: für uns, hier und heute, für mich persönlich
und in Verbindung mit meiner Umwelt, aber auch im Hinblick auf
jene, die uns auf der ganzen Erde in größerem oder
kleinerem Abstand folgen, manchmal bedenkenlos, manchmal zögernd,
manchmal widerwillig. Nur wenige gibt es, die einen anderen Weg
vorziehen und nicht nach einer Maximierung von Lebensjahren streben.
Obwohl er noch lange nicht aufgefüllt
ist, gibt mir dieser Rahmen mitsamt seinem sich darin allmählich
abzeichnenden Gesamtbild bereits heute nicht nur die Möglichkeit,
all das, was ich auf der Welt sehe oder aus der Geschichte lerne,
sinnvoll einzuordnen, sondern er versetzt mich auch in die Lage,
zielstrebig auszuwählen. Niemand kann alles machen, alles
in sich aufnehmen und verarbeiten. Das Zeitbudget jedes Menschen
ist - selbst bei einem langen Leben - beschränkt. Mit einem
Ziel vor Augen läßt sich aber zumindest die in jungen
Jahren häufige bloße Betriebsamkeit und die damit verbundene
Hektik eindämmen sowie jeder übertriebene Aktivismus,
der nur die Zeit totschlägt statt sie zu nutzen, vermeiden.
Wie jedem anderen Hochschullehrer, der sich im Verlaufe der Jahre
zum Spezialisten in diesem oder jenem Fach entwickelt hat, gehen
auch mir laufend Anfragen zu, ob ich nicht für diese Zeitschrift
oder jenen Sammelband noch einen Artikel verfassen könnte
oder an dieser Konferenz oder vor jener Gesellschaft noch einen
Vortrag halten würde. Doch ist die Frage für mich heute
längst nicht mehr, wie und wann ich all diese "ehrenvollen
Aufgaben" neben den anderen Verpflichtungen auch noch erledigen
soll. Meine Entscheidung richtet sich rigoros nach dem Kriterium,
wo ich tatsächlich etwas zu sagen habe. Statt einem Dutzend
Vorträge, in denen dasselbe immer noch einmal in etwas anderen
Worten zum Ausdruck gebracht wird, gibt es dann vielleicht nur
zwei. Und statt fünf Artikeln entsteht möglicherweise
nur einer - oder auch gar keiner, damit ich mich auf eine weitere
Gastdozentur im Schwellenland Brasilien oder in noch weniger entwickelten
Gebieten Indiens konzentrieren kann. Denn dort habe ich, wie ich
meine, etwas zu sagen und kann vielleicht etwas bewirken, mehr
jedenfalls, als durch den fünften oder zehnten Auftritt vor
ausgewähltem Fachpublikum im heimischen Elfenbeinturm.
Nun meine ich selbstverständlich keineswegs,
daß mein Beispiel der einzig gangbare Weg sei, um ein erfülltes
langes Leben zu erreichen. Ein Allgemeinrezept hierfür gibt
es meines Erachtens auch gar nicht. Die individuellen Voraussetzungen
sind bei jedem Menschen anders, geprägt durch unterschiedliche
Interessen, Bildung, ökonomische Verhältnisse, Freundes-
oder Familienkreis, Gesundheitszustand, Wohnungssituation, persönliche
Neigungen und Wünsche. Was dem einen seine Bildungsreisen
sind oder Museums-, Konzert- und Theaterbesuche, sind dem anderen
vielleicht Sportveranstaltungen, Hobbygärtnerei, Kaffeekränzchen
oder die Bienenzucht. Übereinstimmend ist wohl bloß,
daß die Planung für eine <Vita contemplativa>
in eine allgemeine Lebensplanung eingegliedert werden muß.
Und dazu eignen sich von den eben angeführten Beispielen
gewiß nicht alle gleich gut, vor allem dann nicht, wenn
wir bedenken, daß dem Dritten Alter noch ein Viertes folgt.
Denn dann zählt nur noch das Sein, nicht mehr das Tun.
Drei Gesichtspunkte scheinen mir abschließend
allgemeinere Gültigkeit zu haben und im Zusammenhang mit
der ganzen Themenstellung wichtig zu sein:
Erstens: Hoch entwickelte Gesellschaften
mit großer Lebenssicherheit weisen eine wachsende Zahl von
allein durchs Leben gehenden Menschen auf, werden also zunehmend
Gesellschaften von Einzelgängern. Wer aber lebenslang ein
Einzelgänger gewesen ist, wandelt sich im höheren und
hohen Alter weder selbst zu einem "sozialen Wesen",
noch kann oder wird er erwarten, daß sich dann unversehens
irgendwelche "Gemeinschaften" um ihn kümmern. Einzelgänger
sind und bleiben Einzelgänger, auch wenn sie als Hochbetagte
mehr und mehr auf Fremdhilfe angewiesen sind.
Es sei hier außerdem nochmals an die
unterschiedliche Lebenserwartung von Mann und Frau erinnert. 1981/83
wurden in der Bundesrepublik Deutschland unter 100 Frauen 52 80
und 31 85 Jahre alt, unter 100 Männern jedoch nur 29 und
14. Entsprechend hoch ist der Anteil älterer und alter Witwen.
Weiter oben wurde bereits erwähnt, daß sich 1984 unter
den in einem Alter von 80 und mehr Jahren Gestorbenen 128.788
Witwen, jedoch nur 40.870 Witwer befanden.
Nostalgieverbrämte, "gute alte"
Gemeinschafts- insbesondere Familienbande beschwörende romantisch-rückwärtsgewandte
Appelle wollen uns oft weismachen, daß "Einsamkeit
im Alter" etwas Schreckliches sei. Abgesehen davon, daß
entgegen landläufiger Meinung Alleinsein und Einsamsein zwei
verschiedene Dinge sind, entsprechen die Vorstellungen vieler
hier wohl nicht ganz den Tatsachen. Die Inhaberin des 1986 an
der Universität Heidelberg eingerichteten ersten Lehrstuhls
für Gerontologie in der Bundesrepublik Deutschland, die Psychologin
Ursula Lehr, spricht unumwunden vom "Mythos der Einsamkeit
im Alter".
Als unverfängliche Belege für
diesen Mythos möchte ich die übereinstimmenden Ergebnisse
zweier außereuropäischer Studien anführen, die
das angebliche "Einsamkeits-Problem" nie verheirateter
beziehungsweise kinderloser älterer Menschen in einer Wohlstandgesellschaft
zum Thema haben. Die eine wurde in Australien, die andere in Kanada
durchgeführt.
Die übereinstimmende Quintessenz mag
auf viele wie ein Schock wirken: Weder sind allein stehende Menschen
einzig aufgrund dieses Umstands "einsamer" als in Gemeinschaft
lebende - vor allem auch ältere und alte nicht -, noch geht
es ihnen sonstwie schlechter, sofern sie gesund sind. Es scheint
mir besser, dieser Tatsache unvoreingenommen ins Auge zu blicken
als einer Vergangenheit nachzutrauern, die es nicht mehr gibt,
wenn es sie denn jemals gegeben haben sollte.
Zweitens: Auch wer nunmehr bereit ist umzudenken,
wird nicht so leicht über den möglicherweise doch alles
wieder in Frage stellenden Nebensatz "..., sofern sie gesund
sind" hinwegkommen. Gemahnt er nicht an das berüchtigte
Bild der Achillesferse? Die statistisch nachweisbare Zunahme unserer
durchschnittlichen Lebenserwartung und die Standardisierung der
Sterbealter auf hohem Niveau bedeuten ja noch keineswegs dasselbe
wie ein gesundes langes Leben bis zum letzten Augenblick. Kennt
nicht jeder genügend Beispiele aus seiner Umgebung, wie chronische
Leiden älteren Menschen zu schaffen machen und wie sie diese
in physische und psychische Abhängigkeit versetzen, und zwar
nicht nur während zweier oder dreier Wochen vor den Tod,
sondern monate- und jahrelang?
Allerdings scheint unser Blick auch hier
getrübt zu sein, zum einen durch die Angst, daß es
genau uns dereinst so treffen könnte, zum andern durch die
beinahe ständige Diskussion in den Medien um die angeblich
nicht mehr bezahlbaren Ausgaben für immer mehr ältere
Menschen im Gesundheitswesen. Wie sieht die Realität aus?
Die Ergebnisse einer jüngst gemeinsam vom Institut für
Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern und
der Stiftung für experimentelle Altersforschung in Basel
durchgeführten Studie über "Behinderungen und Bedürfnisse
Betagter" sind geeignet, zumindest die Relationen zurechtzurücken.
Von medizinischer Seite kam man zum Schluß, "daß
weitaus die meisten 'Betagten die Möglichkeiten haben, ihren
Lebensabend in positivem Sinne zu erleben". Von den untersuchten
66- bis 75jährigen waren ganze 9,3 Prozent auf tägliche
Hilfe im Haushalt (z.B. das Bett machen oder Geschirr spülen)
oder für die Pflege (beim Aufstehen und Waschen, auf der
Toilette) angewiesen. Erst bei den über 85jährigen,
also den sehr alten Hochbetagten, stieg der Prozentsatz auf 46,1
Prozent.
Angesichts solcher eher optimistisch stimmenden
Tatsachen meinten denn einige amerikanische Forscher in der umstrittenen
Diskussion über die "Compression of morbidity",
das heißt die Verkürzung der Krankheitsphase vor dem
Tode, auch bereits, daß wir uns sehr rasch einer vierten
Phase in der epidemiologischen Transition näherten, nämlich
dem "Age of Delayed Degenerative Diseases - a stage characterized
distinctly by rapid mortality declines in advanced ages that are
caused by a postponement of the ages at which degenerative diseases
tend to kill".
Wichtiger als diese vielleicht doch fragwürdige
Euphorie scheint mir indes der Denkanstoß zu sein, den dieselben
Forscher ihren Lesern in der Schlußbemerkung mit auf den
Weg geben: "Whether the influence will be positive or negative
has yet to be determined. It is suggested in this paper that the
age of delayed degenerative diseases represents an unexpected
and perhaps welcome era in our epidemiologic history, an era that
requires new ways of thinking about aging, disease, morbidity,
mortality, and certainly how life will be lived in advanced ages
in the very near future". Hier wird keineswegs vorschnell
dem Gedanken einer kommenden "schönen neuen Welt"
gehuldigt, allein deshalb, weil ökologische und physiologische
Lebenserwartung allmählich zur Deckung gelangen könnten.
Drittens: Statistiken und Durchschnittswerte
sind die eine Sache. Sie kommen bei uns heute aufgrund von gesammelten
Angaben über eine Vielzahl von Menschen zustande. Deshalb
darf daraus berechtigterweise auch geschlossen werden, daß
heute bei uns immer mehr Menschen immer länger am Leben bleiben.
Aber nicht alle. Eine Garantie für den einzelnen gibt es
aufgrund statistischer Durchschnittswerte nicht. So ist denn das,
was mich selbst, meine eigene Person betrifft, immer noch eine
andere Sache. Was nun, wenn gerade ich zu den statistischen Ausnahmen
gehöre? Was wenn ausgerechnet mich ein schweres chronisches
Leiden "viel zu früh" im Leben packt und schon
mit vierzig oder fünfzig statt mit siebzig oder achtzig zu
einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem sich abzeichnenden
Ende zwingt? Sterben setzt spätestens mit der Gewißheit
ein, an einer unheilbaren tödlichen Krankheit zu leiden.
Sterben ist dann immer ein Stück Leben und besteht nicht
nur aus den letzten Stunden vor dem physischen Tod. Sterben ist
ein definitives Abschiednehmen von allem, was einem lieb ist:
ein endgültiges Loslassen. "Aufmunterungsversuche"
sind hier ebenso fehl am Platz wie jeder billige Trost.