Wieder einmal
scheint der Historiker im Vorteil zu sein, doch bin ich gern bereit,
mit dem Leser zu teilen. Zum einen brauchen wir uns nur nochmals
daran erinnern, daß das "durchschnittliche Sterbealter"
unserer Vorfahren bis vor wenigen Generationen bei etwa dreißig
Jahren lag. Da ich als Autor schon bald das fünfte Lebensjahrzehnt
vollende, könnte ich mich vor diesem Hintergrund somit selbst
dann nicht beklagen, wenn's mich bereits morgen treffen sollte.
Ich habe Jahre, Jahrzehnte mehr zu meiner Verfügung gehabt
als der Durchschnitt unserer Vorfahren, und zwar Jahre und Jahrzehnte;
die - ganz im Gegensatz zu den ihren - keineswegs durch "Pest,
Hunger und Krieg" bedroht wurden. Jedes wehleidige Klagen
über "Warum so früh?" oder "Warum gerade
ich?" käme mir völlig deplaziert vor.
In größere Tiefen führt
der zweite Aspekt, auch er eine Frucht, die mir aufgrund meines
Nachdenkens als Historiker zugefallen ist. Was ich im Verlaufe
der Ausführungen immer wieder etwa als "Lebensplan"
oder "Lebensziel" umschrieben habe oder in der Überschrift
zu diesem Kapitel als "Reife des Lebens" bezeichnete,
möchte ich hier einmal "Selbstfindung" nennen,
und zwar im Gegensatz zu "Selbstverwirklichung". Bei
der Selbstverwirklichung geht es um die möglichst breite
Entfaltung von Anlagen, die in uns schlummern, um das Wuchern
mit dem Pfunde, das uns gegeben ist. Dies betrifft die berufliche
Ebene genauso wie die zwischenmenschliche, die gesellschaftliche
ebenso wie die sportliche oder kulturelle. Man kann sich in einer
Liebesbeziehung ebenso "verwirklichen" wie in seiner
Freizeit beim Bergsteigen oder in einer künstlerischen Betätigung.
Mit Selbstfindung dagegen meine ich, seiner
selbst mehr und mehr bewußt zu werden. Andere mögen
es mit Hören auf die innere Stimme umschreiben oder als Wachwerden
bezeichnen. Hierbei geht es nicht länger darum, seine Begabungen
fruchtbar zu machen und sich beruflich oder familiär oder
sportlich zu verwirklichen, sondern sich selber kennenzulernen.
Hier geht es nicht um eine Rolle, die ich da oder dort spiele,
nicht darum, wie ich mich nach außen zeige oder zeigen muß,
oder wie ich von meiner Umgebung gesehen werden möchte, sondern
darum, wie ich wirklich bin. "In den Maße, da ich mich
so zu akzeptieren beginne, wie ich wirklich bin, werde ich lebendig,
was viel mehr ist als leben".
Lebendigwerden im eben zitierten Sinn ist
somit mehr, als seine - nunmehr meist vielen - Lebensjahre bloß
abzusitzen. Im Unterschied zu unseren Vorfahren haben wir heute
zwei große Möglichkeiten, zur Selbstfindung zu gelangen
und lebendig zu werden. Einer Mehrheit unter uns wird erstmals
in der Geschichte die Chance eingeräumt, das Dritte Alter
zu erreichen und in wachsendem Ausmaß bei relativ guter
Gesundheit bis ins Vierte vorzustoßen. Einer kleineren Zahl
ist das nicht vergönnt. "Mitten im Leben" werden
sie von heimtückischen Krankheiten überfallen, gegen
die auch die heutige Medizin noch machtlos ist. Ihr chronisches
Leiden führt zu einem "verfrühten" Tod, und
zwar am Ende eines langwierigen Sterbeprozesses. Bekommen jedoch
nicht auch diese Menschen - wieder im Gegensatz zu den Vorfahren
- genauso ihre Chance zur Selbstfindung? Unsere Vorfahren starben
mehrheitlich an verhältnismäßig rasch tötenden
Infektionskrankheiten. Ein langer Sterbeprozeß blieb ihnen
so zwar erspart. Doch erhielten sie dadurch auch nicht die Möglichkeit,
während einer chronischen Leidenszeit zur Selbstfindung zu
gelangen oder von ihr dazu gezwungen zu werden.
Sowohl für die Mehrzahl wie die Minderheit
gibt es heute somit eine bessere Möglichkeit denn je, zu
sich selbst zu finden. Im einen wie im andern Fall wäre es
schade, wenn diese Chance nicht genutzt würde. Im ersten
Fall läßt sich am ehesten realisieren, wenn ein Lebensplan
in möglichst jungen Jahren angelegt und zielstrebig verfolgt
wird, und zwar ein Plan, der nicht nur der Selbstverwirklichung,
sondern darüber hinaus auch der Selbstfindung dient. Im zweiten
Fall ist diese doppelte Planlegung - zur Selbstverwirklichung
wie zur Selbstfindung - am Anfang und während vieler Jahre
im Prinzip dieselbe, doch muß die Selbstverwirklichung zugunsten
der Selbstfindung beim Einsetzen des "verfrühten"
Sterbeprozesses in den Hintergrund treten. Chronische Leiden erhalten
in diesem Zusammenhang, wann auch immer im Leben sie auftreten
mögen, ihren Sinn.
Genau betrachtet haben die meisten von uns
heute eine doppelte Chance. Zum einen reicht die verlängerte
Lebenszeit aus, um sich zuerst selbst zu verwirklichen, sich zum
Beispiel im Beruf voll zu entfalten und / oder die Elternrolle
bis zum Ende zu spielen. Im Anschluß an das Berufsleben
oder die Elternschaft - gegebenenfalls erzwungen durch das "verfrühte"
Eintreffen eines chronischen tödlichen Leidens bleibt noch
genügend Zeit, um auch zur Selbstfindung zu gelangen. Voraussetzung
ist allerdings, daß wir nicht die Selbstverwirklichung zum
alleinigen Lebensinhalt und Lebensziel machen, sondern eben auch
die zweite Chance nutzen.
Viele, wenn nicht die meisten unserer Vorfahren
hatten weder die eine noch die andere Chance. Allerdings hätten
sie auch kaum verstanden, was wir hiermit meinen. Selbstverwirklichung
in unserem Sinn war nicht ihr Lebensziel. Im Gegenteil kamen ihre
generationenüberdauernden Stabilitäten trotz "Pest,
Hunger und Krieg" gerade - wie wir sahen - dadurch zustande,
daß sie sich überindividuellen Werten unterordneten
und nicht ihr EGO und dessen Verwirklichung ins Zentrum stellten.
Diese Unterordnung und das Einfügen in eine Gemeinschaft
aber führte nicht nur zu größerer Sicherheit für
den einzelnen, sondern sie gab seinem mehr oder weniger kurzen
Dasein auch auf Erden einen Sinn.
Inzwischen sind
die Verhältnisse jedoch nicht mehr so, wie sie es für
unsere Vorfahren waren. Wir erreichen das Dritte und das Vierte
Alter in großer Zahl oder / und werden von chronischen Leiden
heimgesucht. Versuchen auch wir - wie unsere Vorfahren -, uns
mit den Gegebenheiten zu arrangieren und die uns erstmals eingeräumten
neuen Möglichkeiten zu nutzen. Sonst ist es schade um die
zusätzlichen Jahre, schade um die vertanen Chancen, schade
um die Anstrengungen, die von vielen Seiten laufend erbracht werden
müssen, um den meisten von uns diese Chancen heute zu bieten
und zu gewährleisten.
© Arthur E. Imhof, 1993