Arthur E. Imhof
Zeughaus Berlin, 26. März - 15. Juni 1993
Leben wir zu lange?
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Wieder einmal scheint der Historiker im Vorteil zu sein, doch bin ich gern bereit, mit dem Leser zu teilen. Zum einen brauchen wir uns nur nochmals daran erinnern, daß das "durchschnittliche Sterbealter" unserer Vorfahren bis vor wenigen Generationen bei etwa dreißig Jahren lag. Da ich als Autor schon bald das fünfte Lebensjahrzehnt vollende, könnte ich mich vor diesem Hintergrund somit selbst dann nicht beklagen, wenn's mich bereits morgen treffen sollte. Ich habe Jahre, Jahrzehnte mehr zu meiner Verfügung gehabt als der Durchschnitt unserer Vorfahren, und zwar Jahre und Jahrzehnte; die - ganz im Gegensatz zu den ihren - keineswegs durch "Pest, Hunger und Krieg" bedroht wurden. Jedes wehleidige Klagen über "Warum so früh?" oder "Warum gerade ich?" käme mir völlig deplaziert vor.

In größere Tiefen führt der zweite Aspekt, auch er eine Frucht, die mir aufgrund meines Nachdenkens als Historiker zugefallen ist. Was ich im Verlaufe der Ausführungen immer wieder etwa als "Lebensplan" oder "Lebensziel" umschrieben habe oder in der Überschrift zu diesem Kapitel als "Reife des Lebens" bezeichnete, möchte ich hier einmal "Selbstfindung" nennen, und zwar im Gegensatz zu "Selbstverwirklichung". Bei der Selbstverwirklichung geht es um die möglichst breite Entfaltung von Anlagen, die in uns schlummern, um das Wuchern mit dem Pfunde, das uns gegeben ist. Dies betrifft die berufliche Ebene genauso wie die zwischenmenschliche, die gesellschaftliche ebenso wie die sportliche oder kulturelle. Man kann sich in einer Liebesbeziehung ebenso "verwirklichen" wie in seiner Freizeit beim Bergsteigen oder in einer künstlerischen Betätigung.

Mit Selbstfindung dagegen meine ich, seiner selbst mehr und mehr bewußt zu werden. Andere mögen es mit Hören auf die innere Stimme umschreiben oder als Wachwerden bezeichnen. Hierbei geht es nicht länger darum, seine Begabungen fruchtbar zu machen und sich beruflich oder familiär oder sportlich zu verwirklichen, sondern sich selber kennenzulernen. Hier geht es nicht um eine Rolle, die ich da oder dort spiele, nicht darum, wie ich mich nach außen zeige oder zeigen muß, oder wie ich von meiner Umgebung gesehen werden möchte, sondern darum, wie ich wirklich bin. "In den Maße, da ich mich so zu akzeptieren beginne, wie ich wirklich bin, werde ich lebendig, was viel mehr ist als leben".

Lebendigwerden im eben zitierten Sinn ist somit mehr, als seine - nunmehr meist vielen - Lebensjahre bloß abzusitzen. Im Unterschied zu unseren Vorfahren haben wir heute zwei große Möglichkeiten, zur Selbstfindung zu gelangen und lebendig zu werden. Einer Mehrheit unter uns wird erstmals in der Geschichte die Chance eingeräumt, das Dritte Alter zu erreichen und in wachsendem Ausmaß bei relativ guter Gesundheit bis ins Vierte vorzustoßen. Einer kleineren Zahl ist das nicht vergönnt. "Mitten im Leben" werden sie von heimtückischen Krankheiten überfallen, gegen die auch die heutige Medizin noch machtlos ist. Ihr chronisches Leiden führt zu einem "verfrühten" Tod, und zwar am Ende eines langwierigen Sterbeprozesses. Bekommen jedoch nicht auch diese Menschen - wieder im Gegensatz zu den Vorfahren - genauso ihre Chance zur Selbstfindung? Unsere Vorfahren starben mehrheitlich an verhältnismäßig rasch tötenden Infektionskrankheiten. Ein langer Sterbeprozeß blieb ihnen so zwar erspart. Doch erhielten sie dadurch auch nicht die Möglichkeit, während einer chronischen Leidenszeit zur Selbstfindung zu gelangen oder von ihr dazu gezwungen zu werden.

Sowohl für die Mehrzahl wie die Minderheit gibt es heute somit eine bessere Möglichkeit denn je, zu sich selbst zu finden. Im einen wie im andern Fall wäre es schade, wenn diese Chance nicht genutzt würde. Im ersten Fall läßt sich am ehesten realisieren, wenn ein Lebensplan in möglichst jungen Jahren angelegt und zielstrebig verfolgt wird, und zwar ein Plan, der nicht nur der Selbstverwirklichung, sondern darüber hinaus auch der Selbstfindung dient. Im zweiten Fall ist diese doppelte Planlegung - zur Selbstverwirklichung wie zur Selbstfindung - am Anfang und während vieler Jahre im Prinzip dieselbe, doch muß die Selbstverwirklichung zugunsten der Selbstfindung beim Einsetzen des "verfrühten" Sterbeprozesses in den Hintergrund treten. Chronische Leiden erhalten in diesem Zusammenhang, wann auch immer im Leben sie auftreten mögen, ihren Sinn.

Genau betrachtet haben die meisten von uns heute eine doppelte Chance. Zum einen reicht die verlängerte Lebenszeit aus, um sich zuerst selbst zu verwirklichen, sich zum Beispiel im Beruf voll zu entfalten und / oder die Elternrolle bis zum Ende zu spielen. Im Anschluß an das Berufsleben oder die Elternschaft - gegebenenfalls erzwungen durch das "verfrühte" Eintreffen eines chronischen tödlichen Leidens bleibt noch genügend Zeit, um auch zur Selbstfindung zu gelangen. Voraussetzung ist allerdings, daß wir nicht die Selbstverwirklichung zum alleinigen Lebensinhalt und Lebensziel machen, sondern eben auch die zweite Chance nutzen.

Viele, wenn nicht die meisten unserer Vorfahren hatten weder die eine noch die andere Chance. Allerdings hätten sie auch kaum verstanden, was wir hiermit meinen. Selbstverwirklichung in unserem Sinn war nicht ihr Lebensziel. Im Gegenteil kamen ihre generationenüberdauernden Stabilitäten trotz "Pest, Hunger und Krieg" gerade - wie wir sahen - dadurch zustande, daß sie sich überindividuellen Werten unterordneten und nicht ihr EGO und dessen Verwirklichung ins Zentrum stellten. Diese Unterordnung und das Einfügen in eine Gemeinschaft aber führte nicht nur zu größerer Sicherheit für den einzelnen, sondern sie gab seinem mehr oder weniger kurzen Dasein auch auf Erden einen Sinn.

Inzwischen sind die Verhältnisse jedoch nicht mehr so, wie sie es für unsere Vorfahren waren. Wir erreichen das Dritte und das Vierte Alter in großer Zahl oder / und werden von chronischen Leiden heimgesucht. Versuchen auch wir - wie unsere Vorfahren -, uns mit den Gegebenheiten zu arrangieren und die uns erstmals eingeräumten neuen Möglichkeiten zu nutzen. Sonst ist es schade um die zusätzlichen Jahre, schade um die vertanen Chancen, schade um die Anstrengungen, die von vielen Seiten laufend erbracht werden müssen, um den meisten von uns diese Chancen heute zu bieten und zu gewährleisten.

© Arthur E. Imhof, 1993

 
           
 
 
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