„O du fröhliche“ (1815), „O Tannenbaum“ (1820) und „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ (1835), alle drei Klassiker, die auch heute noch Bestandteil des weihnachtlichen Liedgutes sind, haben wie auch weitere wesentliche Bestandteile und Requisiten des heutigen Weihnachtsfestes ihren Ursprung im 19. Jahrhundert. Zunächst als christliches Fest, das ausschließlich in der Kirche gefeiert wurde, zog das Weihnachtsfest erst mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in die heimischen Wohnstuben ein. Mit den reformatorischen Ideen Martin Luthers zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte sich bereits ein Wandel der Gottesdienste und auch weiterer Weihnachtsbräuche der Gemeindemitglieder vollzogen.
Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und schließlich im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Weihnachtsfest erst zu dem Ritual bürgerlicher Festkultur, das sich vermehrt in der privaten Intimität der Familie abspielte. Doch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Weihnachtsfest eines unter vielen kirchlichen Festen. Industrialisierung und Urbanisierung führten zu einer zunehmenden Trennung des Alltags in öffentliches und privates Leben. Erst das Bürgertum sollte Weihnachten schließlich zu dem besinnlichen Familienfest machen, das es in breiten Gesellschaftskreisen noch heute ist: Die aufstrebende neue soziale Schicht hatte zwar noch keinen beträchtlichen politischen Einfluss, kulturelle Praktiken hingegen prägte das Bürgertum im 19. Jahrhundert bereits wesentlich, darunter auch, Weihnachten mit festen Ritualen im Kreise der Familie zu feiern.
Weihnachten als bürgerliches Bescherfest
Das ideale bürgerliche Familienleben des 19. Jahrhunderts – auch als Kontrapunkt zur Sphäre des Erwerbslebens – bestand aus einem gefühlsbetonten Miteinander, einem ausgeprägten Interesse an kulturellen Hervorbringungen wie Musik oder Dichtkunst sowie der Beschäftigung mit Fragen der Bildung und Erziehung. All diese Werte ließen sich mit dem Weihnachtsfest verknüpfen und verliehen dem Fest eine neue, deutlich säkularere Sinngebung, bei der die Harmonie in der Familie im Vordergrund stand. An Heiligabend, dem 24. Dezember, versammelte sich die Familie zuhause in der Regel um einen geschmückten Weihnachtsbaum. Zu den weihnachtlichen Pflichten der Kinder gehörte es, Gedichte zu rezitieren oder zur festlichen Hausmusik beizutragen. Stets verknüpft mit den elterlich beziehungsweise gesellschaftlich erwünschten Erziehungsprinzipien gehörte zum Heiligen Abend auch die Erfüllung von Wünschen der Kinder. Die Bescherung, insbesondere der Kinder, stellte dabei in der Regel den Höhepunkt der weihnachtlichen Rituale dar.
Beginn der Kommerzialisierung
Mit Äpfeln, Nüssen oder Gebäck geschmückte Tannen sind vereinzelt zwar auch schon bei gesellschaftlichen Anlässen seit dem späten 16. Jahrhundert überliefert, doch zog der Weihnachtsbaum erst im 19. Jahrhundert in die privaten Wohnstuben ein – und wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil der zunehmend ritualisierten Weihnachtsfeier. Dies hatte auch Auswirkungen auf den Schmuck selbst: Bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts interessierten sich bereits breite gesellschaftliche Kreise für Christbaumschmuck. Diese neuartigen (Konsum-)Wünsche an den Weihnachtsbaum ließen einen neuen Industriezweig sowie regelrechte Baumschmuck-Moden entstehen. Eine Kommerzialisierung des Festes hatte begonnen.
Und je stärker sich eine deutsche Feiertradition entwickelte, in der das Zusammenkommen der Familie im Vordergrund stand und je weniger der christlich-theologische Gehalt des Festes, desto attraktiver wurde das Weihnachtsfest in Deutschland auch für den Teil der jüdischen Glaubensgemeinschaft, der weitgehend säkular lebte und sich den deutschen kulturellen Praktiken auch patriotisch verbunden fühlte. So feierten jüdische Familien etwa sowohl Weihnachten als auch das ebenfalls in der dunklen Jahreszeit im November/Dezember/Januar liegende Lichterfest Chanukka – das Fest der Einweihung des Jerusalemer Tempels – oder aber ließen in das Chanukka-Fest Bestandteile des Weihnachtsfestes wie einen geschmückten Baum einfließen.
Politische Vereinnahmung
Mit seiner allmählichen Entfernung von den streng theologisch-spirituellen Ursprüngen verselbstständigte sich das Weihnachtsfest im 19. Jahrhundert also zu einem Fest in der Familie. Und es wurde gleichsam zum Symbol bürgerlicher Werteorientierungen: Der christliche Glaube (protestantisch wie katholisch), Familie, Nächstenliebe und Mildtätigkeit, Freude, Tradition und Nation – mit all diesen Werten ließ sich das Weihnachtsfest verbinden. Der Volkskundler Friedrich August Reimann schrieb Weihnachten in einem Eintrag zum „Christfest“ auch eine dezidierte politische Implikation zu. Das Fest habe das Potential, zu einer Erziehung der Staatsbürgerinnen und -bürger beizutragen. Er stellte 1839 in seinem Buch „Deutsche Volksfeste im 19. Jahrhundert“ fest, dass das Weihnachtsfest „in einer zeitgemäßen Form hergestellt und eingeführt, eines der sichersten und wirksamsten Mittel seyn dürften, den Gemeingeist der Staatsbürger zu wecken, zu beleben und anzufeuern.“ Diese Erkenntnis Reimanns zeigt, dass eine Verknüpfung des Weihnachtsfestes mit politischen Zielen schon vor der Revolution von 1848/49 als politisch dienlich betrachtet wurde, einer Zeit, in der bürgerlicher Reformwille, der Nationalstaatsgedanke und ebenso gesellschaftliche Gegensätze für Konflikte sorgten. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 ist so auch der Beginn einer politischen Vereinnahmung des Weihnachtsfestes. Hier kam wohl erstmals die weihnachtliche Friedensbotschaft mit dezidiert kriegerischen Parolen zusammen. Propagandistische Drucksachen zeichneten Bilder soldatischer Weihnachtsfeiern mit geschmückten Bäumen an der Front und beschworen Heimat- und Familienverbundenheit wie die angebliche deutsche Gemütstiefe. Das Weihnachtsfest eignete sich somit als Instrument patriotischer Durchhalterhetorik während des Krieges und damit psychologischer Kriegsführung.
Aufgrund seiner besonderen sentimental-emotionalen Dimension wurde das „Fest der Liebe“ im 19. und ebenso im 20. Jahrhundert immer wieder für unterschiedliche staatliche beziehungsweise ideologische Ziele benutzt und in den Dienst hetzerischer (Kriegs-)Propaganda gestellt. Die relativ breite Akzeptanz für das Feiern des Weihnachtsfestes war eine Basis für die Anschlussfähigkeit an unterschiedliche politische Strömungen und Ideologien und zugleich Garant dafür, breite Gesellschaftskreise zu erreichen.
Doch nicht nur Militär und die jeweilige Staatsführung setzten die Weihnachtsbotschaft für ihre Ziele ein, auch Akteurinnen und Akteure der Arbeiterbewegung nutzten Weihnachtslieder und dichteten diese für ihre Zwecke um. So wurde um 1900 aus dem 1818 während der Koalitionskriege entstandenen Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ die sozialkritische Parodie „Stille Nacht, traurige Nacht, hast Du Brot mitgebracht?“
Im 19. Jahrhundert wurden Bilder von erwartungsfrohen Kinderaugen, Besinnlich- und Wohltätigkeit sowie allgemeiner familiärer Weihnachtsseligkeit geschaffen, die das Weihnachtsfest bis heute begleiten. Trotz politischer Vereinnahmung und Sozialkritik und dem Ende des patriarchalischen bürgerlichen Familienideals ist das Weihnachtsfest ein christliches Fest, das die deutsche Kulturgeschichte nachhaltig inspiriert und geprägt hat.