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Karl Marx – Werk und Wirken

Karl Marx war Journalist, Wissenschaftler und politischer Organisator. Sein Schaffen beeinflusste einige Sozialreformer seiner Zeit und erreichte nach seinem Tod 1883 weltweite Wirkung. Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert verstanden sich viele der in Europa erstarkenden Arbeiterbewegungen als „marxistisch“. Sie nahmen Marxʼ Thesen von einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft, einem gegen die Menschen verselbstständigten kapitalistischen Verwertungsprozess und dem Proletariat als revolutionärem Subjekt zum Ausgangspunkt ihrer politischen und gewerkschaftlichen Aktivität. Marxistische Parteien regierten ab den 1920er Jahren in vielen Ländern, manche von ihnen bis heute. Ihre Ziele und Vorgehensweisen unterscheiden sich allerdings deutlich. Das liegt zum einen an der Geschichte ihres jeweiligen Landes und den dort bestehenden ideologischen Konflikten. So fand etwa die russische Oktoberrevolution von 1917 unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges statt, der Gründung der Volksrepublik China 1949 ging ein langer Bürgerkrieg voraus und die kubanische Revolution begann 1953 als Bewegung gegen einen diktatorischen Präsidenten. Zum anderen differenziert sich der Marxismus aber auch deshalb aus, weil die Anhänger von Karl Marx und Friedrich Engels deren Ideen selektiv aufgriffen und weiterentwickelten.

 

Schon in der Entstehungszeit des Marxismus um 1900 ist das zu beobachten: Frühe Marxistinnen und Marxisten wie Wladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg oder der Philosoph Georg Lukács (1885–1971) gewannen zwar gleichermaßen aus Marxʼ Werk ihre Überzeugung, dass statt Reformen eine Revolution notwendig sei, um eine völlig neue Gesellschaftsordnung einzurichten. Ihre Vorschläge jedoch, wie revolutionäre Politik im 20. Jahrhundert aussehen sollte, waren unterschiedlich. Eine eindeutige Anleitung hatte Marx dafür nämlich nicht hinterlassen. So meinte Lenin, es müsse eine Partei geben, die den Marxismus öffentlich vertritt, die Weltanschauung der Arbeiterinnen und Arbeiter beeinflusst und deren Aktionen lenkt. Die revolutionäre Bewegung brauche ein ideologisches und organisatorisches Zentrum, um zunächst die Macht im Staat zu erobern und dann die ganze Gesellschaft sozialistisch umzugestalten. Dagegen stellte sich Luxemburg die Revolution als Entwicklung vor, die von der kapitalistischen Ökonomie selbst vorangetrieben werde. Die materielle Ungleichheit provoziere Streiks und Demonstrationen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Solche Aktionen müssten von Marxistinnen und Marxisten unterstützt werden, um gesellschaftsumwälzende Wirkung zu entfalten. Für Lukács wiederum stand das Klassenbewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter selbst infrage. Ihre Lage erlebten sie als alternativlos, weil es so scheine, als sei das kapitalistische System natürlich und seine Prozesse kalkulierbar. Um über dieses ideologische Problem aufzuklären, bedürfe es einer marxistischen Partei.

So unterschiedlich diese drei Positionen sind, knüpft doch jede an ein zentrales Thema bei Marx an. Lukács etwa greift Marxʼ Kritik an den ideologischen Fehlschlüssen auf, die der Kapitalismus hervorbringe. In den 1840er Jahren hatte Marx mit einer solchen Verbindung von Kritik des Bewusstseins und Kritik der Ökonomie theoretisches Neuland betreten. Bis dahin war die Frage, wie sich die Menschen ihre Welt denkend erschließen, eine Sache der Philosophie gewesen. Als Student orientierte sich Marx an der philosophischen Schule der Junghegelianer, zum Beispiel Ludwig Feuerbach (1804–1872), die sich gegen die Religion richteten, weil sie in ihr die Stütze des autoritären preußischen Staates sahen. Bald aber verwarf er ihre Überzeugung, dass man jenen Mächten allein mit einer Veränderung des Denkens entgegentreten könne. Stattdessen legte er den Fokus auf die gesellschaftliche Praxis. In der Art und Weise, wie die Menschen bei der Produktion von Lebensmitteln zusammenarbeiten, sah er eine Bedingung für geistige und politische Herrschaft. Wenn sich die Produktionsweise allmählich verändere, tue dies auch die Gesellschaftsform. Etwas Besonderes sei nun die kapitalistische Produktionsweise, denn sie schaffe erstmals in der Geschichte die technischen Möglichkeiten, dass jeder Mensch seine Fähigkeiten entwickeln könne. Aus der Möglichkeit soll Wirklichkeit werden – auf dieser Hoffnung baute Marxʼ Gesellschaftstheorie auf.

Damit hatte er sich auf das Gebiet derjenigen Wissenschaft begeben, die von einem universellen gesellschaftlichen Zusammenhang der Menschen ausging: der politischen Ökonomie. Ihn faszinierte die Vorstellung, dass die Menschen durch Teilung der Arbeit wechselseitig ihre Bedürfnisse befriedigen. Dass die Ökonomen allerdings jeden Menschen als Eigentümer begriffen, hielt Marx für falsch. Denn in Wirklichkeit hätten allein die Kapitalisten das Eigentum an den für alle Menschen notwendigen Produktionsmitteln. Sie kauften fremde Arbeitskraft ein, um zu ihrem privaten Profit zu produzieren. Das sei der Grund, warum die modernen Produktionsmöglichkeiten bisher nicht zum Wohl aller genutzt würden. Marx wollte gemeinsam mit Friedrich Engels nachweisen, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung vor allem den Interessen der bürgerlichen Klasse dient. Dabei gingen sie nicht von einer persönlichen Beherrschung der Arbeiterinnen und Arbeiter durch rücksichtslose Kapitalisten aus. Vielmehr würden Arbeiter wie Kapitalisten der zwingenden Dynamik des Kapitals folgen, das sie alle gewissermaßen „benutze“, um sich ständig zu vermehren. In seinem Buch „Das Kapital“ argumentierte Marx, die Menschen bemerkten in ihren alltäglichen ökonomischen Handlungen gar nicht ihre eigene Unfreiheit. Beispielsweise sehe es so aus, als ob eine Ware automatisch Wert besitzen würde. Dabei drücke der Wert eigentlich aus, welcher Anteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitszeit in eine Ware eingeflossen ist. Hinter scheinbar selbstverständlichen ökonomischen Phänomenen verbergen sich also Produktionsverhältnisse der Menschen. Laut Marx ist es gerade unsere Erfahrung eines Lebens im Kapitalismus, die uns behindert, dessen Funktionsweise zu begreifen und zu kritisieren.

Trotzdem erwartete er – und hier knüpft Luxemburg an –, dass das Proletariat gegen diese verkehrte Gesellschaftsform kämpfen werde. Wie Marx im „Manifest der Kommunistischen Partei“ erklärte, könne sich aus dem Kapitalismus eine kommunistische Gesellschaft entwickeln. Denn obwohl die einseitige Funktion eines Arbeiters in einer Fabrik seiner Veranlagung zu vielseitiger Entfaltung widerspreche, erlebe er sich hier als Glied eines kooperativen Produktionszusammenhangs. Deshalb könne bei den Arbeitern das Bewusstsein entstehen, zu einer vernünftig eingerichteten Wirtschaftsweise in der Lage zu sein. In einer revolutionären Aktion müssten sie ihre produktiven Fähigkeiten der Kontrolle der Kapitalisten entziehen, um sie stattdessen gemeinsam zu gebrauchen. Marxʼ Annahme, dass das Proletariat sich als revolutionäre Klasse organisieren und den Kapitalismus abschaffen werde, entsprach allerdings nur teilweise den Zielen und Strategien der Arbeiterorganisationen seiner Zeit. Sie forderten politische Partizipation oder auch eine radikale Veränderung der Gesellschaft, doch Begriffe wie Proletariat, Kommunismus oder Revolution waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht eindeutig definiert.

Dass wir diese Begriffe heute mit Marx assoziieren, liegt auch daran, dass er sich zusammen mit Engels als politischer Organisator und Journalist engagierte. Sie wollten innerhalb der Arbeiterbewegung die Vorstellung etablieren, dass der Kommunismus eine Bewegung sei, die den Klassenkonflikt zwischen Proletariat und Bourgeoisie ausspreche, zuspitze und revolutionär austrage. Im Laufe ihres Lebens unterstützten und gründeten die beiden deshalb verschiedene Arbeiterorganisationen, darunter den „Bund der Kommunisten“, den „Kommunistischen Arbeiterbildungsverein“ und die „Internationale Arbeiterassoziation“ (IAA). Sie bemühten sich um eine internationale Vernetzung dieser Organisationen, riefen deren Mitglieder zu Solidarität mit politisch verfolgten Demokraten und Sozialisten auf und knüpften Kontakte zur soeben entstehenden Industriearbeiterschaft. Die Arbeiterbewegung sollte darauf eingestimmt werden, dass ihre Kämpfe Teil eines gesamtgesellschaftlichen Interessengegensatzes seien und sie ihre Forderungen dementsprechend radikalisieren müsse. Zu Marxʼ und Engelsʼ politischer Tätigkeit gehörte auch, regelmäßig das aktuelle politische Geschehen zu kommentieren. In Briefen und Reden, vor allem aber in vielen Zeitungsartikeln, nahmen sie Stellung zu bedeutenden Ereignissen ihrer Zeit: den europäischen Revolutionen von 1848/49 und deren Nachwirkungen, der Weltwirtschaftskrise von 1857 bis 1859, der Pariser Commune von 1871 und dem Amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Mal hatten sie dafür mit der „Neuen Rheinischen Zeitung“ ein eigenes Blatt, mal schrieben sie für sozialistische („The Peopleʼs Paper“) oder liberale („New York Daily Tribune“) Zeitungen. Immer versuchten sie dabei, den Klassenkonflikt sichtbar zu machen und die Chancen für eine kommunistische Revolution abzuschätzen.

Marx war es wichtig, Differenzen zu anderen sozialistischen Strömungen zur Sprache zu bringen. Oft waren die Adressaten seiner Einwände zunächst bedeutende Stichwortgeber für ihn gewesen, bis er sich dann von ihnen abgrenzte – so etwa bei den Junghegelianern und den utopischen Sozialisten (zum Beispiel Robert Owen (1771–1858). Ähnliches gilt für Anarchisten wie Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) oder Michail Bakunin (1814–1876), deren Kritik des Eigentums ihn beeinflusste, aber deren Theorien des Geldes und der Arbeit er bald als zu individualistisch ablehnte. Innerhalb der IAA versuchte Marx, den Einfluss anarchistischer Fraktionen zurückzudrängen, weil er ihre Aktionsformen für unpolitisch hielt. Obwohl alle Organisationen, für die er sich engagierte, keine Gehorsam fordernden „Kader-Parteien“ waren, sondern eher politische Dachorganisationen für eine heterogene Bewegung, hat es Lenin sicherlich angesprochen, dass Marx in ihnen oft einen ordnenden Anspruch erhob: Was Kommunismus bedeutet, sollte keine Geschmackssache sein, sondern der Einsicht in seine Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung folgen. Auch mit seinem Vorwurf gegen sogenannte „bürgerliche Demokraten“, sie seien mit der Ausbeutung der Arbeiterklasse einverstanden, bezweckte er, dass sich die Positionen innerhalb der Reformbewegungen polarisierten. Schließlich zählten zu Marxʼ Gegnern auch die monarchistischen und restaurativen Regierungen Europas, darunter die sogenannte „Heilige Allianz“ unter Führung Russlands, Österreichs und Preußens, sowie der französische Kaiser Louis-Napoléon Bonaparte, der nach der Revolution von 1848/49 mit einem Staatsstreich die Macht eroberte. Marx identifizierte sie nicht nur als größte Hindernisse einer kommunistischen Revolution, sie legten auch seinem eigenen Engagement durch Zensur und Vertreibung ins Exil immer wieder Steine in den Weg.

Anna-Sophie Schönfelder
16. Februar 2022

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