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Reisen im 19. Jahrhundert

Mitte des 19. Jahrhunderts gewann in ganz Europa das Reisen an Bedeutung. Die Verbesserung der Chausseen, Dampfschifffahrts- und Eisenbahnbau ermöglichten einen preiswerteren, schnelleren und komfortableren Transport für eine größere Zahl von Reisenden als die herkömmliche Postkutsche. Je nach sozialem Milieu bildeten sich unterschiedliche Reisetypen heraus. Kranke und Erholungsbedürftige brachen zu Bäderreisen in Heil- und Kurbäder oder ins Gebirge auf, das gehobene Bildungsbürgertum unternahm Studienreisen. Daneben traten neue Formen wie die Messe-, Ausstellungs- oder Kongressreisen in den Mittelpunkt. Das erste von dem deutschen Verleger Karl Baedecker (1801-1859) herausgegebene "Handbuch für Reisende" erschien bereits 1842.

 

Die Baedecker-Reiseführer gaben Reiserouten vor und boten wichtige Informationen über beliebte Reiseziele. In Breslau eröffnete 1863 das erste Reisebüro Deutschlands. Zur touristischen Erschließung der Alpen durch den Bau von Hütten und Wanderwegen gründete sich 1869 der Deutsche Alpenverein. Auch die durch den englischen Verleger Thomas Cook (1808-1892) initiierten Reiseagenturen trugen maßgeblich zur Entwicklung einer standardisierten Reisepraxis bei.

Der englische Begriff "Tourist" tauchte im deutschen Sprachraum erstmals in den 1830er Jahren auf. Darunter verstand man einen vornehmen Reisenden, der zum persönlichen Vergnügen und ohne festes Ziel unterwegs war. Solche Urlaubsreisen blieben jedoch bis ins 20. Jahrhundert hinein nahezu ausschließlich dem Adel, den Angehörigen des wohlhabenden Industrie- und Bildungsbürgertums sowie Vertretern freier Berufe vorbehalten. Für die Bevölkerungsmehrheit war Reisen unerschwinglicher Luxus. Nur vergleichsweise wenige Menschen verfügten über Urlaubstage und konnten zusätzlich die für eine Reise notwendigen Finanzmittel aufbringen.

Für Handwerksgesellen war die zumeist dreijährige Wanderzeit obligatorisch, bei der sie nicht nur Berufserfahrung sammelten, sondern oft auch Deutschland und weite Teile Europas kennenlernten. Reisen für Arbeiter oder Bauern hingegen vollzogen sich, wenn überhaupt, lediglich in Form eines Tagesausflugs oder als Verwandtenbesuch. Bis zum Ersten Weltkrieg verfügten nur zehn Prozent der Arbeiter über eine gewisse Anzahl freier Tage im Jahr. Die Gewährung von Urlaub betrachteten Unternehmer als freiwillige soziale Wohltat, sie war an Bedingungen wie das Lebensalter und die Beschäftigungsdauer geknüpft. Die gemeinsame "Fahrt ins Grüne" oder der klassische Sonntagsausflug mit Picknick waren daher für die Familien von unteren Beamten, Handlungsgehilfen, Gesellen und Facharbeitern oft die einzige Alternative zur Urlaubsreise des gehobenen Bürgertums.

Miriam Schriefers
14. September 2014

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