Ein Mann, der
um 1900 die Ehe einging, war im Durchschnitt 29 Jahre alt; bei
den Frauen lag das durchschnittliche Heiratsalter bei etwas
mehr als 26 Jahren. Das ist zwar niedriger als das Heiratsalter
zu Beginn des 19. Jahrhunderts, gleichwohl aber immer noch erstaunlich
hoch, mißt man es an unserem Bild von der Auflösung
traditioneller Bindungen im Zuge der Industrialisierung.
Mit dem Fortfall juristischer und wirtschaftlicher
Hemmnisse wurde um die Jahrhundertwende soviel geheiratet wie
bis dahin noch nie in der deutschen Gesellschaft. Gerade in
den unteren Schichten, wo traditionell ein großer Teil
von der Ehe ausgeschlossen gewesen war, wurde die Erfahrung
der Ehe- und Familiengründung für immer mehr Menschen
bedeutsam.
In der vorindustriellen Gesellschaft war
die Familiengründung zwingend an den erfolgreichen Aufbau
einer selbständigen Existenz gekoppelt gewesen. Dieses
alteuropäische Muster des Heiratsverhaltens bestand im
Deutschland der Kaiserzeit jedoch nur noch auf dem Land und
im Handwerk fort: Hier wurde weiterhin dann geheiratet, wenn
der erbende Bauernsohn den väterlichen Hof übernahm
oder der Handwerksgeselle in einen Meisterhaushalt einheiratete
bzw. mit Hilfe einer Mitgift einen Betrieb übernahm oder
gründete.
Eine Ehe, die im Jahre 1900 geschlossen
wurde, hatte im Durchschnitt vier Kinder. Nur in jeder sechsten
Ehe gab es zwei oder drei Kinder und sogar nur in jeder zehnten
ein einziges Kind. (Zum Vergleich: 1971 lag die durchschnittliche
Kinderzahl in der Bundesrepublik bei 1,5). Das heißt,
fast alle Ehepaare lebten um die Jahrhundertwende als Eltern,
fast alle Kinder wuchsen mit Geschwistern heran.
Die Ehe hatte eine hohe Verbindlichkeit.
Sie war auf Dauer angelegt, und ein Auseinandergehen der Eheleute
war gesellschaftlich nicht akzeptiert. Auch das bürgerliche
Recht bestätigte diese Eheauffassung.