> Vormärz und Revolution

Alltagsleben

Für die Mehrheit der im Deutschen Bund lebenden Menschen war der Alltag von harter Arbeit auf dem Felde, in Handwerksbetrieben und im Heimgewerbe geprägt. Ihre Sorgen galten möglichem Hungerleiden und dem täglichen Überleben der zumeist vielköpfigen Kinderschar. Gleichzeitig fanden immer mehr Männer und Frauen ein geringes Einkommen in der sich entwickelnden Industriearbeit. Ihnen allen standen der Adel und das Großbürgertum gegenüber, die von der Industrialisierung häufig wirtschaftlich profitierten. Die ökonomische und soziale Ungleichheit wuchs, es entstand ein neues Gliederungsprinzip: die Aufteilung der Gesellschaft in Klassen. Durch den Bevölkerungsanstieg wuchs das Arbeitskräftepotenzial weitaus stärker als das Arbeitsplatzangebot. Die Fürsorge für die unaufhaltsam wachsende Zahl der Armen, Almosenempfänger und Bettler war völlig unzureichend.

Bevölkerungszunahme

Nach den Befreiungskriegen gewann der Bevölkerungsanstieg an Dynamik: Zwischen 1816 und 1849 nahm die Bevölkerung in den Grenzen des späteren Deutschen Kaiserreiches von rund 25 auf 35 Millionen Menschen zu. Besonders stark war das Bevölkerungswachstum mit einer Zunahme um 12,5 Prozent in der Periode des „Nachholbedarfs“ nach Krieg und Krisenzeiten bis 1825. Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit änderte sich zwischen 1816 und 1849 die durchschnittliche Lebenserwartung von rund 31 Jahren kaum. Wer jedoch das 20. Lebensjahr erreichte, konnte mit etwa 35 weiteren Jahren rechnen. Rund ein Viertel der Bevölkerung waren Stadtbewohner. Allerdings hatten mit Wien, Berlin, Hamburg, Prag und Breslau bis 1849 nur fünf Städte im Deutschen Bund mehr als 100.000 Einwohner und rund 80 Städte mehr als 10.000 Einwohner. Die übrigen Städte waren landwirtschaftlich geprägte und wenig repräsentative Ackerbürgerstädte, die kaum über befestigte Wege verfügten. Die Mehrheit der kleinstädtischen und ländlichen Bevölkerung setzte sich aus besitzarmen und landlosen Familien zusammen. Sie lebten häufig in „wilder Ehe“, denn für den Zugang zum Heiratsmarkt war der Besitzstand entscheidend: Wer sich ehelich niederlassen wollte, musste zumeist ein gewisses Vermögen oder ein schuldenfreies Haus vorweisen können. Allein wegen natürlicher Bedürfnisse waren ledige Grundbesitzlose aber Familiengründungen nicht abgeneigt. Zwischen 1815 und 1848 resultierte daraus in fast allen deutschen Staaten eine überproportionale Zunahme unehelicher Kinder.

Adel und Besitzbürgertum waren solche Probleme fremd. Ihnen war die standesgemäße Verheiratung der Kinder ein Gebot gesellschaftlicher Konvention. Die uneheliche Schwangerschaft einer Tochter aus „gutem Haus“ kam einer nicht wiedergutzumachenden sozialen Katastrophe gleich. In solch „höheren Häusern“ deckte das Personal den Tisch, und die Anzahl der Bediensteten bestimmte den gesellschaftlichen Status des Hausherrn. Hier kümmerte sich in der Regel eine Amme um das Stillen des Neugeborenen, doch der Kindererziehung widmeten die Eltern mehr persönliche Aufmerksamkeit als die Generationen in den Jahrzehnten zuvor. Das Ideal eines idyllischen Privat- und Familienlebens wurde kennzeichnend für die neue Kultur des „Biedermeier“ als Bezeichnung für die bürgerliche Lebensführung einer ganzen Epoche. Im biedermeierlichen Familienbild prägte der versorgende Vater als Oberhaupt die Regeln des Zusammenlebens. Die Mutter sorgte in häuslicher Atmosphäre für das emotionale Wohl der Gemeinschaft. Das familiäre Zusammenleben, auf gegenseitigen Respekt und patriarchalischer Regelung gegründet, wurde zum Ideal gesellschaftlicher Ordnung.

Soziale Not

Doch schien diese Ordnung durch das anwachsende Elend breiter Bevölkerungsschichten immer mehr in Frage gestellt zu werden. Vielen erschienen die sozialen Missstände als Ausdruck einer tiefen politischen Krise und eines radikalen gesellschaftlichen Umbruchs. Obwohl die deutsche Wirtschaftsleistung nach 1815 langsam stieg, nahm die Verarmung in großen Teilen der Bevölkerung zu. Wichtigste Ursache dafür war das starke Bevölkerungswachstum bei gleichzeitig fehlenden Arbeitsmöglichkeiten. Die sogenannte Bauernbefreiung, die Mechanisierung der Arbeit und die Aufhebung der Zunftverfassung durch Gewerbefreiheit setzten überdies in Landwirtschaft und Handwerk ein großes Arbeitskräftepotenzial frei. In den meisten Bereichen trug das Überangebot an Arbeitskräften zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit und Verminderung der Einkommen bei. Der für die grassierende Armut aufkommende Begriff „Pauperismus“ war mit Beginn der 1830er-Jahre ein Angst einflößendes Schlagwort, denn das Bürgertum sah in dem verlumpten Armenheer meist nicht viel mehr als die Brutstätte revolutionären Umsturzwillens.  

Auf dem Land war die Lage vielerorts durch arme Kleinbauern gekennzeichnet, die landwirtschaftliche Betriebe von zwei bis fünf Hektar Besitz bewirtschafteten. Zumeist genügte das Arbeitspotenzial der Familie, die kleinen Parzellen zu bestellen. Oft bedurfte es aber des gleichzeitigen Verdiensts in anderen Wirtschaftsbereichen, um den Unterhalt der Familie zu sichern. So stieg die Zahl der armen Wanderarbeiter und Tagelöhner ohne regelmäßige Arbeit. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellten die ländlichen Unterschichten die größte Zuwanderungsgruppe in den nun wachsenden deutschen Städten. Auf den größeren Bauernhöfen befanden sich Knechte und Mägde in starker Abhängigkeit vom Gutsherrn, dessen Wort für sie praktisch Gesetzeskraft besaß. Extrem lange Arbeitszeiten, geringer Lohn und erzwungene Ehelosigkeit steigerten die Unzufriedenheit, die oft genug in Alkohol ertränkt wurde.  

Der vergleichsweise preisgünstige Branntwein stellte neben dem Brot das Lebensbedürfnis vor allem der unteren Bevölkerungsschichten dar – nicht zuletzt auch zum Stillen von Hunger. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts galt der Alkoholismus mitsamt seinen negativen sozialen Begleiterscheinungen vielerorts als „Pest der Zeit“. Oftmals bekamen schon Kleinkinder Branntwein verabreicht, damit sie in der Nacht ruhiger schliefen oder damit das mit ihm beträufelte trockene Brot zumindest ein wenig Geschmack aufwies. Die ohnehin hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit nahm noch einmal dramatisch zu, als Missernten 1846/47 zu schwerer Hungersnot führten. In Zeiten ohne psychologische Hilfe fanden Eltern und Geschwister in der Regel einzig in der Kirche als Ort institutionalisierter Trauerarbeit und Todesbewältigung Trost und Zuversicht. Gläubigkeit nährte die Hoffnung, dass der frühe Tod von oft mehr als der Hälfte der Kinder einen Sinn habe und dass der Himmel ihnen ein besseres Dasein bereithalte als das harte Leben auf Erden.

Arnulf Scriba
15. September 2014

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