In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Armut und Hunger in Deutschland weit verbreitet. Das enorme Bevölkerungswachstum nach 1815 konnte durch einen nur sehr geringen Produktivitätsanstieg in der Landwirtschaft und der aufkommenden Industrie noch nicht aufgefangen werden. Wiederkehrende Missernten, Hungersnöte und der Niedergang des Heimgewerbes förderten das Aufkommen von Massenarmut. Die Zeitgenossen beschrieben diese Zustände mit dem Begriff „Pauperismus“, abgeleitet vom lateinischen Begriff pauper,  (dt.: „arm“).

Über die Ursachen des Pauperismus waren sich die Zeitgenossen nicht einig. Ganze Schriften wurden über die möglichen Gründe der Massenarmut verfasst und bildeten den Zweig der „Pauperismusliteratur“. Konservativ-bürgerliche Publizisten sahen die Schuld bei den Armen selbst: Ein Verfall der Sitten, Faulheit und Spielsucht führten aus bürgerlicher Sicht in die Bedürftigkeit. Andere – wie Friedrich Engels -  sahen die Gründe in der aufkommenden Industrialisierung, die die Arbeit mechanisierte und den Arbeitern ihre Beschäftigung und damit ihre Lebensgrundlage entzog. Im Bürgertum war die Angst vor einem sich unkontrolliert ausbreitenden Armenheer sehr ausgeprägt.  Die Bürgerlichen fürchteten die Verbreitung revolutionärer Ideen unter den Mittellosen, die somit  zu einem Träger eines gesellschaftlichen Umsturzes werden könnten.

Die größte Not herrschte in den Gebieten, in denen der Industrialisierungsprozess noch nicht eingesetzt hatte. Südwestdeutschland, Teile Nordwestdeutschlands, Hessen, Preußen und Schlesien waren besonders betroffen und Zentren des Pauperismus. In den zumeist ländlichen Gebieten arbeitete die Bevölkerung nicht in der Fabrik, sondern als Tagelöhner in der Landwirtschaft oder in Heimarbeit. Die Arbeitsbedingungen waren denkbar schlecht: Die Heimarbeiter, auch Frauen und Kinder, produzierten in feuchten, stickigen Kellern mit schlechter Lichtversorgung und unter schlimmsten Hygienebedingungen. Beispielhaft für den Verfall des Heimgewerbes stand der Aufstand der schlesischen Weber, der am 5. Juni 1844 blutig niedergeschlagen wurde.

Missernten und die daraus resultierenden Hungersnöte konnten die Situation der Armen noch erheblich verschärfen. Ein Mangel an Grundnahrungsmitteln trieb deren Preis in die Höhe. Tagelöhner mussten mehr arbeiten um sich zu ernähren, wodurch es zu einem Mehrangebot an Arbeit kam, das wiederum zu einem Verfall der Löhne führte. Viele waren so trotz schwerster körperlicher Arbeit nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen. Auch Krankheit, Unfälle und das Alter konnten die Arbeitsfähigkeit gefährden und die Betroffenen so in die Bedürftigkeit stürzen. In England sprach man von den „labouring poor“, den arbeitenden Armen. Einen Höhepunkt der Armut bildeten die Krisenjahre 1846/1847.

Aus Verzweiflung flüchteten sich viele Arme in die „Notkriminalität“. Durch den Diebstahl von Feldfrüchten und Holz, Wilderei und Schmuggel versuchten die Bedürftigen ihre Situation zu verbessern. Um sich zu betäuben und die Not einen Augenblick zu vergessen, griff die Unterschicht zum Alkohol. In den Zeitungen fanden sich Berichte über die sich ausbreitende „Branntweinwuth“, zur Bekämpfung der Armut forderten die Publizisten eine Beschränkung des Branntweinbrennens. Auch die Zahl der Bettler und sogenannten Landstreicher stieg vor 1850 rasant an.

Waren die letzten Ersparnisse verbraucht, sah man sich gezwungen, den spärlichen Besitz zu verkaufen oder zum Pfandleiher zu bringen, da staatliche Unterstützung nicht ausreichend vorhanden war.  Die in bitterster Armut lebenden Tagelöhner und Landarbeiter verpfändeten Kleidung, Hausrat und Werkzeug, wobei letzteres gegen hohe Gebühren vom Pfandleiher zurückgeliehen werden musste, um der Arbeit weiterhin nachgehen zu können. Wer Geld brauchte, bekam dieses nur zu Wucherzinsen geliehen.

Die deutschen Staaten versuchten der Armut mit Bettlerverordnungen oder Eherechtsbeschränkungen, die das Bevölkerungswachstum kontrollieren sollten, entgegenzuwirken. Vermeintlich arbeitsscheue Individuen sollten per Gesetz zur Arbeitsaufnahme gezwungen werden. Zudem wurde auch die Abwanderung in außerdeutsche Gebiete nach anfänglichem Zögern aktiv unterstützt.

Getrieben durch Armut und Hunger suchten viele Menschen ihr Glück in den Städten, um dort von der voranschreitenden Industrialisierung zu profitieren. Die Städte verzeichneten ein enormes Wachstum: Hatte Berlin 1816 noch 200.000 Einwohner, waren es 1849 bereits 450.000. Die Wohnverhältnisse in den Armenvierteln waren dramatisch: Große, kinderreiche Familien lebten zusammen auf engstem Raum. Schmutz und Gestank waren allgegenwärtig. Die mangelnde Hygiene – viele besaßen keine Wechselkleidung - begünstigte die Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten wie Ruhr und Typhus.

Die Städte waren mit der wachsenden Armut überfordert. Während der Hungersnot im Krisenwinter von 1816/1817 lebten in der Stadt Köln 18.000 Almosenempfänger bei etwa 49.000 Einwohnern. Ein Drittel der Bevölkerung war also auf Zuwendungen aus der Armenkasse angewiesen. In den 1840er-Jahren war die Einwohnerschaft vieler deutscher Regionen nicht in der Lage, durch eigene Arbeit für ihren Lebensunterhalt aufzukommen.

Viele suchten ihr Heil außerhalb der deutschen Grenzen. In den 1840er Jahren, dem Höhepunkt der Pauperismuskrise, hatten bereits 418.000 Menschen das Land verlassen. Allein im Jahr 1847 zählte man 80.000 Auswanderer.

Christopher Jütte
30. März 2015

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