Am Wahltag suchten die Preußen das Weite und dachten sich merkwürdige Entschuldigungen aus, sie organisierten Geschäftstermine außerhalb der Stadt oder waren plötzlich nicht mehr auffindbar. "Von den stimmfähigen Bürgern des Bezirks", klagte ein Berliner Stadtverordneter, erscheine "kaum die Hälfte und diese kleine Zahl zeigt sich noch so erschlafft und so lässig". Dabei drängte die Obrigkeit, seit die Wahlen 1809 zum ersten Mal stattgefunden hatten, zur Teilnahme: Alle drei Jahre fanden diese Magistratswahlen statt, und alle drei Jahre warben die Regierenden in Zeitungen und mit Plakaten auf den Hausmauern für die Wahlbeteiligung. Und obwohl sogar offiziell eine Wahlpflicht galt, fehlte in aller Regel ein Drittel bis die Hälfte der Stimmberechtigten. Auch die liberalen Zeitungsredakteure zeigten wenig Verständnis für die Trägheit der Bürger, und die Vossische Zeitung empörte sich, dass "so Vielen es ein unerhörtes Opfer dünkt, im Laufe von drei Jahren für die Kommune einige Stunden ihre Bequemlichkeit zu entbehren!"
Dabei beruhten die Wahlen der Preußischen Städteordnung von 1808 auf einem bemerkenswert modernen Wahlrecht, das im Zuge der Preußischen Reformen installiert worden war. Gebildete Reformeliten aus Bürgertum und Adel, die sich nun um das Engagement der Bürger sorgten, hatten sich dafür eingesetzt. Die Besitzanforderungen für das Wahlrecht lagen für die damalige Zeit recht niedrig, so dass in ganz Preußen rund zehn Prozent der Stadtbevölkerung das Wahlrecht besaß, was knapp drei Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Die Städteordnung beruhte auf den aufklärerischen Idealen und definierte alle Bürger vor dem Staat als gleich. Gegen das "nach Klassen und Zünften sich theilende Interesse", wie es in der Präambel hieß, setzten die reformerischen Eliten den Gemeinsinn der Nation. Entscheidend waren nicht länger Religion (auch Juden durften wählen), nicht Geburt (Adel zählte nicht) und nicht die Zünfte, sondern das Individuum. Wobei es als völlig selbstverständlich galt, dass Frauen nicht gleichberechtigt waren und kein Wahlrecht besaßen. Der Historiker Thomas Nipperdey sieht hier "die Wurzeln von so etwas wie Demokratie". Doch selbst die weitreichenden Kompetenzen der Gewählten wie das Budgetrecht des Magistrats, motivierten die Bürger nicht.
In zahlreichen Ländern Europas und in Nordamerika und teilweise darüber hinaus wurden um 1800 Wahlen mit dem Anspruch auf Allgemeinheit eingeführt, um Männer für politische Ämter zu bestimmen und Magistrate und Parlamente zu bestücken. Auch wenn die Ursachen für die Ausweitung von Mitbestimmungsrechten vielfältig sind, so zeigen sich in diesen Demokratisierungsprozessen deutlich die Ideen der Aufklärung und der Revolutionen in den USA und Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts. Erstens stand zunehmend mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit die Gleichheitsforderung im Raum und damit eng zusammenhängend zweitens die Notwendigkeit, Herrschaft neu und rational zu legitimieren. Immanuel Kant erklärte 1797: "Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen", und: "Nur die Fähigkeit zur Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus". Wilhelm von Humboldt hatte schon 1792 in seinen "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" die Despotie verdammt und die Freiheit der Menschen gefordert. Die Germanophilie der Spätaufklärung verband ihre nostalgische Liebe zu den vermeintlichen Vorfahren mit aktuellen Ideen von Gleichheit und Menschlichkeit und Patriotismus, demokratische Herrschaft galt vielen als urdeutsches Phänomen.
Geschichte der Demokratie als internationales Phänomen
Doch auch wenn gerade die Geschichte der Demokratie innerhalb von Nationen ablief und gerne als rein nationale Geschichte geschrieben wird, so erweist sie sich bei näherer Betrachtung als ein erstaunlich internationales Phänomen. Die Demokratie-Definition von Claude Fauchet (1742-1793) wurde geradezu globales Allgemeingut: "Tout pour le peuple, tout par le peuple, tout au peuple", erklärte er 1791. Ernst Moritz Arndt (1769-1860), der zu den vielen Intellektuellen gehörte, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Zukunft in der "Demokratie" sahen, griff das Diktum trotz seines ausgeprägten Hasses auf die französische Nation und trotz seines Rassismus auf und erklärte 1814: "Die besten Kaiser und Könige und alle edlen Menschen haben ja auch immer nur bekannt, daß sie für das Volk da sind und für das Volk und mit dem Volke regieren". Abraham Lincolns (1809-1865) berühmte Demokratiedefinition von 1863 ist also nicht von ihm, sondern europäisches Gedankengut, wenn er vom "government of the people, by the people, and for the people" sprach.
Wahlen mit einem gleichen Stimmrecht hatte es seit der Antike und europaweit in den Städten gegeben. Das Neue an den Wahlregulierungen, die um 1800 eingerichtet wurden, war der prinzipielle Anspruch auf Gleichheit, auch wenn Gleichheit vorerst nur Männern mit Besitz zukam. Die Logik war einleuchtend: Besitzende Bürger zahlten Steuern, sie zählten, sie sollten sich mit ihrer Potenz und ihrer Kompetenz für das Staatsgeschehen engagieren.
Allerdings reichten die demokratischen und partizipativen Ideen nicht weit über den Bannkreis der Gebildeten hinaus. Sie waren in dieser Anfangsphase überwiegend ein Elitenprojekt, das wenig Attraktivität für die Bürger besaß. Das hing womöglich auch damit zusammen, dass sich die Wahl furchtbar in die Länge zog. Die Wahlversammlungen fanden in Preußen in den Kirchen statt, manchmal auch in Synagogen, denn die Gotteshäuser boten am meisten Platz. Gerahmt wurde die Wahl von einem feierlichen Gottesdienst. Nach einer Predigt, frommen Liedern, dem Verlesen der Stimmberechtigten und der Aufstellung der Bewerber für das Amt konnte die Abstimmung beginnen: für jeden einzelnen Kandidaten durchlief eine Urne die Reihen; stimmte der Wähler für einen Kandidaten, warf er eine weiße Kugel hinein, lehnte er ab, eine schwarze. Mit dieser aufwendigen Ballotage, wie das Verfahren hieß, gehört das preußische Städtewahlrecht zu den wenigen bekannten Wahlordnungen im frühen 19. Jahrhundert, die eine geheime Abstimmung nicht nur rechtlich vorschrieben, sondern auch ermöglichten. Die Bürger aber mochten die Veranstaltung nicht, sie forderten kürzere Predigten und neutralere Lieder, so dass Juden und Andersdenkende nicht verprellt wurden; ganz allgemein war ihnen schlicht die Zeit zu schade - sie hatten Besseres zu tun.
Wahlunlust
Nicht nur in Preußen bemühte sich die Obrigkeit, die Bürgerschaft zum Wahlgang zu bewegen. In Baden besaßen mit der Verfassung von 1818 beachtliche 17 Prozent aller Einwohner das Wahlrecht, in Württemberg seit der Verfassungsgebung von 1819 etwa 14 Prozent – und auch hier regte sich wenig Sinn für bürgerliche Mitbestimmung. Oft ging nicht einmal jeder zweite Bürger zur Abstimmung. "Ach! schon wieder wählen", spottete eine Stuttgarter Zeitung 1844 über die Wahl-Unlust der Schwaben: "Sich für nichts und aber nichts, / nur für Andere quälen! / Einen ganzen Tag sich ab / An der Arbeit stehlen! / Wär's entleidet doch den Herrn, / Stimmen abzuzählen!"
Die Wahlunlust war keine deutsche Sonderlichkeit. In Frankreich nahmen schon zur Revolution 1789 nur 30 Prozent der Wahlberechtigten teil, 1791 gingen noch rund 15 Prozent zur Abstimmung. Im Jahr 1813 klagten die Behörden nach einer Wahlbeteiligung von fünf Prozent, dass es der Bevölkerung wahrscheinlich gleichgültig wäre, wenn man ihr das Wahlrecht entzöge. Dänemark führte 1837 aufgrund der geringen Beteiligung die Wahlpflicht ein.
Auch in den USA waren Wahlen eine Angelegenheit, die vor allem progressiven Bürgern am Herzen lag. Und dabei galt für die amerikanischen Eliten ebenso wie in Europa die Gleichheitsidee zunächst den besitzenden, selbstständigen Bürgern, nicht den Armen. Zwar fanden sich beträchtliche Unterschiede in den amerikanischen Einzelstaaten, doch herrschte meistens ein Zensus oder die Anforderung des Landbesitzes, Voraussetzungen, die teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert bestehen blieben. In den USA besaßen bei den Präsidentschaftswahlen von 1800 3,5 Prozent der Gesamtbevölkerung das Wahlrecht; weniger als ein Drittel von ihnen ging wählen, was etwa 62.000 Männern entsprach. Bis 1830 stieg der Anteil der Wahlberechtigten auf 8 Prozent. Bei den Kommunal- und Parlamentswahlen allerdings lag die Wahlberechtigung höher, überschritt aber auch erst in den kommenden Jahrzehnten eine zweistellige und schließlich die 20-Prozent-Marke.
Der Prozentsatz an Wahlberechtigten lag nicht nur wegen der Eigentumsqualifikationen so tief, sondern auch, weil Frauen, Minderjährige und in den USA Minderheiten wie Sklaven oder Native Americans kein Wahlrecht besaßen, aber auch weil die ländliche Bevölkerung (die abgeschottet lebte und an die politischen Diskurse kaum Anschluss haben konnte) in der Regel nicht zu den politischen Akteuren zählte.
Vom Umstand des geringen Prozentsatzes an Wahlberechtigten ist die Frage zu unterscheiden, warum die Wahlbeteiligung unter den Stimmberechtigten so niedrig lag. Oft wurden Wahlämter wie in Neuengland oder in Frankreich innerhalb der Familien "vererbt" - warum also sollten mehr als eine symbolische Anzahl an Männern an diesen Wahlen teilnehmen? Auch als sich das Wahlrecht auszubreiten begann - in der Regel in den 1840er Jahren - fühlten sich abhängige Menschen oft verpflichtet, ihre Herren zu wählen. Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erklärte ein korsischer Adliger über seine Gefolgsleute: "Früher sind sie mit uns in die Schlacht gezogen; heute folgen sie uns in den Wahlen". Viele hielten es für ganz "natürlich", dass aufgrund der Wahlrechtsausbreitung, die nun auch armen Männern ein Stimmrecht gab, die Abhängigkeiten stiegen. Am Ende des Jahrhunderts erklärte der renommierte amerikanische Journalist Edwin L. Godkin, es gebe keine Demokratie auf dieser Welt, in der ein "unwissender Wähler" an der Wahlurne nicht "betrogen" und "in irgendeiner Weise dazu gebracht wird, seine Stimme nach den Vorgaben anderer Menschen abzugeben".
Integration und Disziplinierung
Offensichtlich bedeutete das Wahlrecht für einen Großteil der Menschen nicht ein mit Leidenschaft erkämpftes Recht. Vielmehr erweisen sich Wahlen in der ersten Jahrhunderthälfte häufig als ein hoheitliches Projekt, dem sich die Bürger mit wenig Elan fügten - oder auch zu entziehen trachteten.
Wenn jedoch der Impuls für Wahlen und Mitbestimmung von Seiten der Regierenden kam: Welches Interesse hegten sie damit? Zugespitzt lautet die Antwort: Wahlen leisteten nicht nur durch ihre Legitimierungsfunktion einen wichtigen Beitrag zur Bildung des modernen Staates, sondern auch durch die Integration des Individuums, die den Zugriff des Staates auf jeden einzelnen erleichterte. Insbesondere in ihrer Initiationsphase im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts dienten Wahlen der Obrigkeit auch als Disziplinierungsinstrument. Demokratie oder vielmehr diese frühe Form der Partizipation erweist sich also nicht nur als ein Eliten-, sondern auch als ein Erziehungsprojekt.
In der Präambel zur preußischen Städteordnung hieß es, sie habe den Zweck, "Gemeinsinn zu erregen". Thomas Jefferson kommentiere die bürgerliche Mitbestimmung ähnlich: "Ich glaube, sie ist die einzige [Regierungsform], in der jedermann, dem Aufruf des Gesetzes folgend, sich auf das Niveau des Gesetzes hinaufschwingen und Übergriffe gegen die öffentliche Ordnung als seine persönliche Angelegenheit ansehen dürfte". Moderne Staaten waren zu groß und zu komplex, um von einer kleinen Führungsschicht gelenkt zu werden, sie bedurften der Mitarbeit von unten.
Gerade die für Demokratisierungsprozesse so entscheidenden liberalen Bürger betonten, wie wichtig es sei, die Menschen zu erziehen und zu bilden. Und wie auch immer die komplizierten Kausalitäten in der Geschichte hier liegen: In aller Regel breitete sich das Wahlrecht parallel mit der Alphabetisierung aus.
Fast überall begannen die Massen, Politik und die Möglichkeiten des Wahlrechts erst gegen Ende des Jahrhunderts für sich zu erkennen und Partizipation und Demokratie zu ihrem eigenen Anliegen zu machen. Arbeiterparteien und Gewerkschaften und zunehmend auch die Frauen spielten dabei in vielen Ländern eine entscheidende Rolle.