Leopold Zunz (1794-1886) war gerade einmal 24 Jahre alt, als er 1818 seine Abhandlung „Etwas über die rabbinische Literatur“ veröffentlichte. Hinter dem unscheinbaren Titel verbarg sich ein geradezu revolutionärer Gedanke. Auf 50 Seiten hielt der Student der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität ein flammendes Plädoyer für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Judentum und die universitäre Einbindung dieses Forschungsgegenstandes. Analog zu den bereits existierenden Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaften oder der Erforschung verschiedener antiker und gegenwärtiger Kulturen sollte die „Wissenschaft des Judentums“ eine anerkannte Studienrichtung werden.

Zunz‘ langfristiges Ziel ging über die reine akademische Beschäftigung mit dem Judentum hinaus. Durch die Eingliederung an die Universitäten sollten jüdische Stimmen im Wissenschaftsdiskurs Gehör finden. Mehr noch, durch die Einrichtung einer Wissenschaft des Judentums sollte nicht nur die Auseinandersetzung mit der eigenen jüdischen Identität angestrebt, sondern die gesellschaftliche Akzeptanz für das Judentum gefördert und dem zunehmenden Judenhass entgegengewirkt werden.

Die in „Etwas über die rabbinische Literatur“ formulierten Ideen stießen vor allem bei jungen akkulturierten Juden auf Zuspruch. Viele von ihnen waren durch eigene Erfahrungen desillusioniert worden. Binnen weniger Jahre hatten sie die ersten Anzeichen für eine Anerkennung von jüdischem Leben miterlebt, die sich im Rahmen staatlicher Zugeständnisse und gesellschaftlicher Öffnungen mit den Möglichkeiten eines privaten und beruflichen Aufstiegs äußerten, nur um zu erfahren, wie diese aufkeimenden Hoffnungen auf Akzeptanz immer wieder enttäuscht wurden. So vor allem 1819 im Zuge der als „Hep-Hep-Unruhen“ bekanntgewordenen judenfeindlichen Pogrome, die ihren Ausgang in Würzburg genommen hatten.

Überschattet von den gewalttätigen Ausschreitungen entschied sich eine Gruppe junger jüdischer Akademiker im Jahr 1819 dazu, den „Verein zur Verbesserung des Zustandes der Juden im deutschen Bundesstaate“ in Berlin zu gründen. Leopold Zunz gehörte zu den Gründungsmitgliedern. Bereits 1821 erfolgte die Umbenennung in „Verein für Cultur und Wissenschaft des Judenthums“.  Die Vereinsmitglieder hofften, durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum eine Stärkung jüdischer Identität voranzutreiben, die sich gegen judenfeindliche Anfeindungen von außen behaupten konnte. Zugleich wollten sie zeigen, dass das Judentum selbst „der wissenschaftlichen Behandlung fähig und bedürftig“ sei, wie es der Pädagoge Immanuel Wolf (1799-1847) in seinem Aufsatz „Über den Begriff einer Wissenschaft des Judenthums“ 1822 formulierte.

Trotz des ambitionierten Einsatzes aller Beteiligten konnte der Verein die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. 1823 wurde er aufgelöst und die Mitglieder gingen getrennte Wege. Einige von ihnen sahen die Idee als gescheitert an und entschieden sich zugunsten ihrer Karriere zur Taufe. Andere verfolgten jedoch selbst nach der Auflösung weiterhin das Ziel, eine „Wissenschaft des Judentums“ an den Universitäten zu etablieren.

Moderne jüdische Geschichtsschreibung

Leopold Zunz verfasste in den nachfolgenden Jahren zahlreiche wissenschaftliche Studien zur Geschichte, Literatur und Religion des Judentums und gab 1838 eine Übersetzung des Tanach heraus, die in den nachfolgenden Jahrzehnten als Zunz’sche „Rabbinerbibel“ bekannt werden sollte. Ebenso wenig wie Zunz wollte der Historiker Isaak Marcus Jost (1793-1860) die Idee des von ihm mit gegründeten „Vereins für Cultur und Wissenschaft des Judenthums“ aufgeben. Zwischen 1820 bis 1829 veröffentlichte er in neun Bänden die „Geschichte der Israeliten von der Zeit der Maccabäer bis auf unsere Tage, nach den Quellen bearbeitet“ und begründete damit die moderne jüdische Geschichtsschreibung.

Obwohl die Arbeiten von Zunz und Jost Beachtung fanden, konnten sie ihr Vorhaben einer akademischen Etablierung der „Wissenschaft des Judentums“ nicht gegen die Vorbehalte deutscher Universitäten und Ministerien durchsetzen. An die Einrichtung entsprechender Lehrstühle war ebenso wenig zu denken wie an eine Eingliederung jüdischer Geschichte in das Narrativ der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Stattdessen wurden weiterhin klare Grenzziehungen vorgenommen, die sich zum Beispiel darin zeigten, dass auf Hebräisch verfasste Handschriften kategorisch den Orientabteilungen staatlicher Bibliotheken zugeordnet wurden, selbst wenn sie in Nordeuropa entstanden waren.

Bestrebungen zur universitären Anerkennung

Somit blieb die „Wissenschaft des Judentums“ vorerst eine innerjüdische Angelegenheit, die fern der Universitäten betrieben und weiterentwickelt wurde. Zu den bekanntesten Bildungseinrichtungen gehörten das seit 1854 bestehende „Jüdisch-Theologische Seminar“ in Breslau und die 1872 gegründete „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin, an der unter anderem der Rabbiner Leo Baeck lehrte und Regina Jonas (1902-1944), die weltweit erste Rabbinerin, lernte. In beiden Fällen war der 1810 in Frankfurt am Main geborene Rabbiner Abraham Geiger (1810-1874) an der Gründung beteiligt. Wie Zunz und Jost hatte sich Geiger der Idee verschrieben, die Wissenschaft des Judentums als universitäre Fachrichtung zu etablieren. Geigers Forschungsdrang zeigte sich schon während seines Studiums der Geschichte, Archäologie, Philosophie, Philologie und Arabistik in Heidelberg und Bonn, wodurch er schon vor seiner Promotion Ansehen erlangt hatte.

Die Bestrebungen zur universitären Anerkennung der „Wissenschaft des Judentums“ dauerten fort. 100 Jahre nach Errichtung des „Vereins für Cultur und Wissenschaft des Judenthums“ riefen jüdische Gelehrte verschiedener Fachrichtungen 1919 in Berlin die „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ ins Leben. Sie bestand bis 1934 und förderte junge Forschende. 1921 schuf die Goethe-Universität in Frankfurt am Main eine Dozentur für Jüdische Religion und Ethik, die der Religionsphilosoph Martin Buber ab 1924 innehatte. Als Buber 1930 die Honorarprofessur verliehen wurde, geschah dies jedoch in den allgemeinen Religionswissenschaften und nicht im Rahmen einer eigenen Fachrichtung der jüdischen Studien

Doch all diesen Bemühungen und wegweisenden Arbeiten zum Trotz gelang es nicht, die „Wissenschaft des Judentums“ fest an deutschen Universitäten zu verankern. Ganz im Gegensatz zum Ausland: 1925 wurde an der Harvard University in den USA ein Lehrstuhl für Hebräische Literatur und Philosophie eingerichtet. Im selben Jahr entstanden außerdem die Hebräische Universität in Jerusalem und das „YIVO – Yidisher Visnshaftlekher Institut“, das zwar auf einer Konferenz in Berlin gegründet wurde, seinen Sitz aber in Wilna (heute: Vilnius) hatte.

Die tatsächliche Aufnahme der Wissenschaft des Judentums in den deutschen Universitätsbetrieb erfolgte erst in der Nachkriegszeit. Seit den 1960er Jahren lässt sich die schrittweise akademische Etablierung der Judaistik und Jüdischen Studien beobachten. Es bedurfte fast 200 Jahre und unermüdlicher Anstrengungen, doch heute wird die einst als „Wissenschaft des Judentums“ initiierte Fachrichtung weltweit an mehreren Hundert Universitäten, Hochschulen und Rabbinerseminaren unterrichtet.

Miriam Bistrovic, Leo Baeck Institute - New York | Berlin
13. August 2024

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