Kaum ein anderes Buch der neueren Geschichte ist ebenso berühmt wie berüchtigt wie Hitlers „Mein Kampf“. Und um kein anderes Buch rankten sich bisher so viele Legenden. Dennoch – oder gerade deswegen – hat sich die Forschung seit den 1970er Jahren darauf beschränkt, beständig das zu reproduzieren, was sich bis dahin als Common Sense herausgebildet hatte. Dass manches davon auf die Zeit vor 1945 zurückging und damit Produkt der nationalsozialistischen Propaganda war, wurde ebenso wenig in Rechnung gestellt wie der Umstand, dass anderes aus der unmittelbaren Nachkriegszeit stammte und damit ebenfalls nur bedingt taugte für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Symbol der nationalsozialistischen Herrschaft. Das seit 1945 verbreitete Bild vom unlesbaren Werk ließ es zu einer Art Steinbruch werden, aus dem sich die Wissenschaft je nach Bedarf die gerade benötigten Zitate schlug, ohne je näher auf Zusammenhänge und Hintergründe einzugehen.
In Vergessenheit geriet dabei, dass „Mein Kampf“ mit all seinem Pathos, mit seinem „prätentiöse[n] Stil“, mit seinen „gedrechselten, wurmartigen Perioden“, wie Joachim Fest schrieb, in seiner Zeit nicht alleine stand, sondern Teil einer völkisch-nationalistischen Literatur war, in der ein solcher Stil gang und gäbe war, ja dass selbst ein entschiedener Gegner wie Konrad Heiden anmerkte: „Über seine Kriegserlebnisse ist Hitler wieder wortkarg. Die ersten Sturmtage in Flandern beschreibt er dichterisch; es sind schöne Zeilen.“
Gerne vergessen wurde auch, dass vor 1945 zahlreiche Autoren und Autorinnen ganz selbstverständlich von einer breiten Rezeption des Buches ausgingen. Stattdessen übernahm man gerne die Behauptung vom „ungelesenen Beststeller“, die bereits in den 1930er Jahren aus politischen Motiven von Otto Strasser und seinem Kreis in Umlauf gebracht worden war und vor allem durch amerikanische Publikationen wie die einflussreiche Biografie von Allan Bullock popularisiert wurde.
Kaum weniger problematisch waren die Darstellungen zur Entstehungsgeschichte des Buches. Auch hier setzte sich trotz etlicher anderslautender Quellen die Darstellung durch, der spätere Diktator wäre nicht in der Lage gewesen, sein Buch selbst zu schreiben und hätte es diktieren müssen. Davon ließ man sich auch nicht abbringen, als 1987 die Briefe von Rudolf Heß veröffentlicht wurden, aus denen klar das Gegenteil hervorging. Erst die vor kurzem aufgefundenen und veröffentlichten Entwürfe und Manuskriptblätter Hitlers rücken nun dieses lang gepflegte Bild zurecht.
So ist denn die Geschichte von Hitlers Buch in vielerlei Hinsicht nicht nur ein Spiegelbild der Geschichte des Nationalsozialismus, sondern auch des Umgangs damit nach 1945. Und diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Daher kann der hier versuchte Abriss nur eine Zwischenbilanz ziehen, denn die geplante kritische Ausgabe des Buches wird noch manches ergänzen, erweitern und präzisieren.
Entstehung einer „Abrechnung“
Erste Versuche Hitlers zu einem Buchprojekt dürfte es bereits 1922 oder 1923 gegeben haben. Es handelt sich dabei um Teile des späteren Kapitels „Volk und Rasse“, worauf etwas später noch einzugehen sein wird. Nach dem gescheiterten Putschversuch war Hitler zunächst getrieben von dem Bedürfnis nach einer Abrechnung mit seinen Gegnern vom November 1923, die er nicht nur vor Gericht, sondern auch publizistisch halten wollte. Intensiv arbeitete er spätestens seit Beginn des Jahres 1924 an diesem Vorhaben, konnte er doch dem Gericht bei Prozessbeginn bereits eine mehr als 70-seitige Denkschrift überreichen, die sich leider nicht erhalten hat, aber wohl als Nukleus verschiedener Teile seines geplanten Buches anzusehen ist. Dementsprechend beschäftigte er sich in dieser Zeit vor allem mit der Frühgeschichte der Partei und ihrem Aufstieg zu einer bayerischen Regionalgröße. Nach den wenigen Berichten aus dieser Zeit wähnte er sich Anfang Mai 1924 gar bereits der Fertigstellung nahe.
Es kam bekanntlich anders. Dies hatte mit Hitlers notorischer Unterschätzung des zeitlichen Aufwands eines Buchprojekts zu tun, vor allem jedoch mit einer tief greifenden persönlichen und politischen Neuorientierung während seiner Haft in Landsberg. Er gab im Juni 1924 seine hartnäckigen Versuche auf, auch aus dem Gefängnis heraus noch Einfluss auf die politische Entwicklung zu nehmen. Damit zusammen fiel auch eine neue Ausrichtung seiner geplanten Schrift. Hitler nahm nun mehr und mehr Abstand von einer „Abrechnung“ mit seinen Gegnern vom Herbst 1923 und entwickelte aus der ursprünglichen tagespolitischen Streitschrift eine ideologisch überhöhte Autobiografie, in der er die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen aus seiner Perspektive kritisierte. (…)
„Mein Kampf“ 1925–1932
Doch nicht nur eine grundlegende Neuorientierung Hitlers im Sommer 1924 hatte für die Entstehung und Publikation seines Buches erhebliche Konsequenzen. Trotz mehrfacher Anläufe erschien der erste Band erst ein Jahr später, nachdem im Frühjahr 1925 aus Rücksicht auf seine schwierige politische Lage zwischen Redeverbot und drohender Ausweisung die Aufspaltung des Buches in zwei Teile beschlossen worden war. Ihr verdankte das Buch zu einem erheblichen Teil seinen endgültigen Titel. Der zu keiner Zeit als sperrig empfundene ursprüngliche Titel von den „Viereinhalb Jahren Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit“ musste geändert werden, da er mit dem Inhalt des schließlich erschienenen ersten Bandes nichts mehr zu tun hatte. Darüber hinaus erfuhr das Buch damit auch einige inhaltliche und sprachliche Entschärfungen in seinen Angriffen gegen das nachrevolutionäre Deutschland, zumal Hitler weitere Einschränkungen seiner politischen Möglichkeiten durch eine Provokation staatlicher Behörden vermeiden wollte.
Ähnlich wie der erste Band erschien auch der zweite wesentlich später, als Hitler zunächst geplant hatte. Erst nach einer intensiven Arbeitsphase im Herbst 1926 konnte er am Ende dieses Jahres erscheinen. Das Interesse an einer Schrift des inzwischen in der Öffentlichkeit beinahe vergessenen Parteiführers und ehemaligen Putschisten war Ende 1926 allerdings gering. Resonanz fand der zweite Band bei seinem Erscheinen kaum, er blieb – und das sollte auch künftig so bleiben – im Interesse der Leserschaft weit hinter dem ersten Band zurück. Dieser hatte bei seiner Veröffentlichung noch zu heftigen Reaktionen in sehr unterschiedlichen Bereichen geführt. (…)
Heftige Ablehnung erfuhr Hitlers Buch schon 1925/26 von ideologisch durchaus nahestehenden Gegnern aus dem völkischen Lager. Die Auseinandersetzung um „Mein Kampf“ war dabei Teil der nach dem Putschversuch 1923 entbrannten Grabenkämpfe, die sich bis zum Ende der 1920er Jahre fortsetzten. So veröffentlichte Bernhard Rudolf Stempfle, der später völlig zu Unrecht in den Verdacht geriet, an der Entstehung des Buches beteiligt gewesen zu sein, im „Miesbacher Anzeiger“ eine herbe Kritik. Ähnlich harsche Besprechungen brachten auch die „Deutsche Zeitung“ des Alldeutschen Verbandes oder die Berliner „Neue Preußische Zeitung (Kreuz-Zeitung)“.
Die größte Zustimmung fand das Buch erwartungsgemäß unter den Nationalsozialisten. Die Belege dafür sind zahlreich. Rudolf Heß zeigte sich bereits 1924 während seiner gemeinsamen Haft mit Hitler in Landsberg davon überzeugt, es mit einer kommenden Sensation zu tun zu haben. Ähnlich reagierte Gottfried Feder, als er im Frühjahr 1925 erstmals die Druckfahnen zu dem Buch einsehen konnte. Ernst Hanfstaengl und Josef Stolzing-Cerny waren sich für Korrekturarbeiten nicht zu schade, Rudolf Buttmann verteidigte das Buch im Spätsommer 1925 vehement gegen völkische Kritiker, und der Hitler gegenüber noch schwankende Joseph Goebbels las im Herbst 1925 den ersten Band mit „reißender Spannung“, wie er seinem Tagebuch anvertraute.
Wie intensiv das Buch dabei von Anhängern studiert wurde, kann seit kurzer Zeit anhand der im New Yorker Museum of Jewish Heritage aufbewahrten Exemplare aus dem Besitz Heinrich Himmlers studiert werden. Beide Bände wurden von ihm aufmerksam durchgearbeitet, analysiert und mit Markierungen und Anmerkungen versehen, wobei er, anders als der impulsive Goebbels, durchaus differenziert urteilte, wie seine ergänzenden Bemerkungen in seinem Lesetagebuch unterstreichen. Himmler meinte dort zum ersten Band: „Es stehen unheimlich viel Wahrheiten darin. Die ersten Kapitel über die eigene Jugend enthalten manche Schwäche.“
Doch die beiden Exemplare aus Himmlers Besitz sind noch aus einem weiteren Grunde bemerkenswert, denn sie wurden nicht nur von Heinrich, sondern auch von seinem Vater Gebhard gelesen, seines Zeichens Prinzenerzieher der Wittelsbacher und Gymnasialdirektor in München und damit ein zu hohen Ehren aufgestiegener Vertreter des national-konservativen Bürgertums. Auch er hat das Buch keineswegs als unlesbar zur Seite gelegt, sondern ähnlich seinem Sohn aufmerksam studiert und durchgearbeitet, wie seine gelegentlich durchaus kritischen Anmerkungen belegen. Sein Schlusskommentar lässt freilich keinen Zweifel an seiner Einschätzung von Hitlers Buch zu. Im Juni 1932 hielt Gebhard Himmler auf der letzten Seite fest: „Mit heißem Interesse und aufrichtiger Bewunderung dieses Mannes zu Ende gelesen.“
„Mein Kampf“ 1933–1945
Es ist daher anzunehmen, dass der wenige Monate später mit Hitlers Machtübernahme einsetzende Boom des Buches durchaus eine Basis wenn nicht in der Zustimmung, so doch im politischen Interesse erheblicher Teile der deutschen Gesellschaft gehabt hat. Dies unterstreicht ein zweiter rezeptionsgeschichtlicher Glücksfall. Im Juni 1933 hat sich mit Gerhart Hauptmann ein weiterer Vertreter der Bildungsschicht und zugleich ein weltweit geachteter Literat mit „Mein Kampf“ beschäftigt. Auch er hat das Buch nicht als unlesbar abgetan, sondern bis zum Ende durchgearbeitet, wie sich anhand seines Exemplars nachvollziehen lässt, das in der Staatsbibliothek zu Berlin verwahrt wird. Hauptmann folgte dabei offenbar einem 1930 einsetzenden Trend, der auf eine zunehmende Verbreitung des Buches verweist, wie die Verkaufszahlen bis 1932 belegen. Bereits im Frühjahr 1930 und damit deutlich vor dem Wahlerfolg im September desselben Jahres stiegen die Verkaufszahlen erheblich an, worauf der Eher-Verlag im Mai 1930 mit der Herausgabe der heute bekannten „Volksausgabe“ reagierte.
Erreichte man 1932 mit einer Jahresverkaufszahl von über 90.000 Stück bereits ungeahnte Höhen, so sprengte das Jahr 1933 alles bisher Gekannte: In diesem Jahr wurden etwa 900.000 Exemplare des Buches verkauft. Selbst wenn man die großzügige Ausstattung der Bibliotheken in Deutschland ab März/April 1933 in Rechnung stellt, bleibt ein erheblicher Anteil für den privaten Kauf. Mit der einsetzenden Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaft war man in der Bevölkerung offenbar durchaus daran interessiert, sich mit den Ausführungen des neuen Kanzlers zu beschäftigen. Die aus dieser Zeit leider nur in beschränktem Ausmaß erhalten gebliebenen Entleihdaten aus Bibliotheken deuten in dieselbe Richtung, denn das Buch wurde in dieser Zeit durchaus nachgefragt und entliehen.
Gleichzeitig war jedoch damit eine Dimension erreicht, die in den nächsten Jahren nicht zu halten war. Der drastische Rückgang der Verkaufszahlen nach 1933 brachte den Eher-Verlag in erhebliche Schwierigkeiten, was letztlich zu jenem Projekt führte, das das öffentliche Bild von „Mein Kampf“ bis heute prägt, wenngleich es alles andere als eine Erfolgsgeschichte war: die Vergabe als Hochzeitsgeschenk. Die enorme Nachfrage des Jahres 1933 verleitete den Eher-Verlag zu einer deutlichen Überproduktion, die sich in der Folgezeit nicht mehr abbauen ließ. So wurde 1935 vom Verlag die Idee geboren, den Städten und Gemeinden in Deutschland Hitlers Buch als Geschenk für Neuvermählte anzupreisen. Doch da diese Empfehlung kaum Widerhall fand, ja selbst München als „Hauptstadt der Bewegung“ sich nicht anschließen wollte und bereits anders disponiert hatte, ging der Verlag noch im selben Jahr einen Schritt weiter und versuchte über den Deutschen Gemeindetag seinen Einfluss in diese Richtung geltend zu machen. Auch wenn sich der Gemeindetag schließlich vor den Karren des Verlags spannen ließ, so konnte doch selbst auf diesem Weg kaum etwas in Bewegung gebracht werden, zumal der Verlag nicht bereit war, finanzielle Abstriche hinzunehmen.
Um einen völligen Fehlschlag doch noch abzuwenden, gelang es dem Verlag im April 1936, jenen bekannten Erlass des Innenministeriums zu erwirken, der die Städte und Gemeinden veranlassen sollte, Hitlers Buch allen Neuvermählten zum Geschenk zu machen.
Gerne wurde nach dem Krieg dieser Erlass als Beleg dafür herangezogen, dass „Mein Kampf“ ein ungelesenes, weil zwangsverordnetes Buch gewesen wäre. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass es nie zu einer vollständigen Umsetzung dieses Erlasses gekommen ist, denn er enthielt die Klausel, dass die finanziellen Mittel der Gemeinden zu berücksichtigen wären, was vor allem von den größeren Städten genutzt wurde, um weiterhin die Verschenkung des Buches zu unterlaufen. Im Jahr 1938 setzte noch nicht einmal die Hälfte aller Gemeinden in Deutschland den Erlass um, und der Prozentsatz stieg nur langsam. Im Jahr 1939 verweigerten sich Großstädte wie Berlin, Hamburg oder Dresden trotz intensivster Bemühungen des Verlags noch immer.
Mit Beginn des Krieges änderte sich hier nur noch in Einzelfällen etwas, denn der Eher-Verlag entdeckte mit der Wehrmacht einen neuen riesigen Absatzmarkt und verlor zusehends sein Interesse an der so mühsam vorangetriebenen Hochzeitsaktion. Mit den außenpolitischen Krisen und schließlich mit Kriegsbeginn setzte die Zeit der ganz großen Umsätze ein, denn etwa zwei Drittel aller Exemplare des Buches wurden in den Jahren ab 1939 produziert, wie die Auflagenzahlen bis 1944 zeigen. Damit ist jedoch auch eines der verbliebenen Desiderate in der Forschung zu „Mein Kampf“ angesprochen: Dass sich verschiedene führende Militärs, allen voran Werner von Blomberg, mit „Mein Kampf“ beschäftigt haben, ist bekannt, doch ist die Rolle, die Hitlers Buch in der Wehrmacht insgesamt gespielt hat, bisher weitgehend unerforscht. (…)
Gekürzte Fassung des Beitrags aus dem Katalog „Hitler und die Deutschen – Volksgemeinschaft und Verbrechen“. Hrsg. von Hans-Ulrich Thamer und Simone Erpel. Berlin 2010, S. 50–56