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Die Kriegszieldebatte

In der Kriegszieldebatte versuchten die Befürworter eines "Siegfriedens" Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg durch Petitionen zu einer Festlegung der deutschen Kriegsziele zu drängen. Anfang September 1914 veröffentlichten Matthias Erzberger und Heinrich Claß eigene Denkschriften, welche die grundlegenden Forderungen der Annexionisten zusammenfassten. Das Hauptziel lag dabei in der Schaffung einer politischen und wirtschaftlichen Hegemonialstellung des Deutschen Reichs auf dem Kontinent. Im Westen sollten nach einem Sieg über Frankreich neben Gebietserweiterungen an der gemeinsamen Grenze vor allem das Erzbecken von Longwy-Briey annektiert werden, Belgien insgesamt unter deutsche Vorherrschaft kommen. Ziel war, die wirtschaftliche und militärische Unterlegenheit Frankreichs auf einen langen Zeitraum zu sichern. Im Osten sollten Annexionen das Gebiet des Reiches vergrößern, vorrangig Teile Polens und das Baltikum. Diese Forderungen fanden in der Bevölkerung weithin Verbreitung.

Eine radikale Annexionsposition formulierte Claß, der in seiner Denkschrift große Gebiete im Osten forderte, in denen die ansässige Bevölkerung vertrieben werden sollte, um eine deutsche Hegemonie in Osteuropa zu schaffen. Die Kosten dafür hätten die besiegten Kriegsgegner gezahlt. Claß ließ seine Schrift in einer Auflage von 2.000 Exemplaren drucken und verteilen.

Unterstützt wurden die Annexionisten von fast allen Wirtschaftsverbänden, insbesondere von der Schwerindustrie. Starke Zustimmung fanden sie auch bei Professoren und Intellektuellen, welche die Notwendigkeit von Annexionen zu begründen versuchten. Mit Ausnahme der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) plädierten auch die Parteien mehrheitlich für Annexionsforderungen.

Im weiteren Kriegsverlauf steigerten sich die Forderungen und Ziele der Annexionisten eher noch, obwohl die Aussichten auf einen Sieg der Mittelmächte nach dem Rückzug in der Schlacht an der Marne gering waren. Die militärischen Erfolge 1915 an der Ostfront nährten weitere Expansionswünsche, dem Vormarsch im Zuge der Durchbruchsschlacht von Gorlice-Tarnów folgten zahlreiche Forderungen nach einer Ausdehnung des deutschen Machtbereichs bis auf den Balkan. Dabei wurde das verbündete Österreich-Ungarn von den Annexionisten infolge der militärischen Schwierigkeiten der Vielvölkerarmee meist als zu schwach für eine Ordnungsmacht angesehen, womit die geforderte Rolle Deutschlands als Vormacht auch auf dem Balkan gerechtfertigt wurde. Der erfolgreiche Feldzug gegen Rumänien 1916 und der Rückzug der russischen Truppen 1917 waren Grundlage für immer weiter gehende Gebietsforderungen von seiten der Annexionisten.

Die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk spiegelten diese Haltung wider, die großen Gebietsforderungen der Deutschen fanden breite Zustimmung in der Öffentlichkeit und wurden von den Parteien unterstützt. Auch die SPD akzeptierte stillschweigend diese Ansprüche, die den eigenen Forderungen nach einem Verständigungsfrieden völlig entgegenliefen. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit seinen umfangreichen Territorialansprüchen wurde 1918 im Reichstag ratifiziert und war damit ein Erfolg für die Position der Annexionisten.

Manfred Wichmann
15. September 2000

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