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Die "Judenzählung" von 1916

Die in Deutschland bei Kriegsbeginn 1914 weit verbreitete Erwartung eines schnellen und sicheren Siegs über die Entente-Staaten schwand, als der deutsche Vormarsch im Westen zum Stellungskrieg erstarrte und die Einfuhr kriegswichtiger Rohstoffe aus den neutralen Ländern unter der britischen Seeblockade immer stärker litt. Vor diesem Hintergrund und angesichts der sich katastrophal verschlechternden Lebensmittelversorgung fanden Agitatoren antisemitischer Verbände und Parteien mit ihren Botschaften einen fruchtbaren Nährboden.

Um dem angeblich in weiten Kreisen der Bevölkerung erhobenen Vorwurf nachzugehen, dass eine unverhältnismäßig große Anzahl Wehrpflichtiger jüdischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei, sich unter allen nur denkbaren Vorwänden davor zu drücken versuche und alles tue, um nicht an der Front eingesetzt zu werden, ordnete der preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn (1860-1925) am 11. Oktober 1916 eine statistische Erhebung über die Dienstverhältnisse aller deutschen Juden an. Nach Bekanntgabe des Erlasses zur "Judenzählung" entwickelte sich im Reichstag eine heftige Debatte: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und die Fortschrittliche Volkspartei werteten den Vorstoß des Kriegsministeriums als "Bruch des Burgfriedens", der alle Deutschen gleich welcher politischen Überzeugung und Konfession hinter dem Kaiser vereinen sollte. Der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gustav Stresemann warnte im Januar 1917 vor einer "antisemitischen Bewegung [...], wie sie noch nie dagewesen ist."

Die offenkundige Diffamierung und Ausgrenzung durch ein Ministerium wurde von den deutschen Juden als scharfer Bruch der bisherigen Assimilations- und Emanzipationspolitik des Kaiserreichs empfunden. Nach Protesten des "Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", des "Vereins zur Abwehr des Antisemitismus", des "Verbands der deutschen Juden" unter Federführung des Reichstagsabgeordneten Oscar Cassel (1849-1923) sowie nach Eingaben des Hamburger Bankiers und gedienten kaiserlichen Offiziers Max Warburg (1867-1946) sah sich das Kriegsministerium zwar zu der Feststellung veranlasst, dass das Verhalten der jüdischen Soldaten während der Kämpfe weder Ursache noch Veranlassung zu der Anordnung gegeben habe, doch mit der Erklärung war der einmal entstandene Schaden nicht mehr zu beheben. Da das Ergebnis dieser mit statistisch unhaltbaren Methoden durchgeführten "Judenzählung" nie veröffentlicht wurde, erhielten antisemitische Gerüchte und Spekulationen neue Nahrung.

Tatsächlich kämpften insgesamt etwa 100.000 jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg für Deutschland, wovon 78.000 ihren Militärdienst an der Front leisteten. 12.000 Juden bezahlten ihren Einsatz mit dem Leben, 30.000 wurden mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet, 19.000 befördert, davon 2.000 in den Offiziersrang erhoben. Diese Zahlen entsprachen denen einer vergleichbaren sozialen Gruppe.

Enttäuscht und ernüchtert reagierten die meisten Juden - vor allem an der Front - auf die statistische Erhebung. In zahlreichen Tagebüchern und Frontbriefen kamen die Gefühle der jüdischen Soldaten über die Zurückweisung, Degradierung und Stigmatisierung deutlich zum Ausdruck. Die "Judenzählung" trug häufig zur Entfremdung zwischen Juden und ihren Kameraden bei und brachte bei vielen Juden die tiefe Ernüchterung, dass auch der Patriotismus und die hohen "Blutopfer" der jüdischen Bevölkerung keine gesellschaftliche Anerkennung gefunden hatten. Im kurz nach Kriegsende gegründeten "Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten" blieb jüdischen Frontkämpfern die Mitgliedschaft verwehrt. Sie gründeten den "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten".

Burkhard Asmuss / Johannes Leicht
14. September 2014

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