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Der Weg in den Krieg

Für die wenigsten Zeitgenossen kam der 1914 beginnende Krieg überraschend: Zu angespannt und konfliktreich war die internationale Politik in den vorausgegangenen Jahren in Europa, wo das Mächtesystem den deutschen Nationalstaat gerade so lange ertragen hatte, wie er bereit war, sich strikte Beschränkungen aufzuerlegen. Allerdings versechsfachte Deutschland zwischen 1871 und 1914 seine industrielle Produktion und überflügelte damit Großbritannien. Als vor Kraft strotzende Wirtschaftsmacht hatte Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts innerhalb und außerhalb Europas auch politisch eine aktiv gestaltende Rolle angestrebt. Dies musste zwangsläufig auf Widerstand stoßen und zu Konflikten mit den anderen europäischen Mächten führen, denn sie empfanden das weltpolitisch ambitionierte Deutsche Reich als bedrohlichen Störenfried ihrer eigenen imperialen Ziele. Deutschland sei eingekreist von neiderfüllten Mächten, die ihm den Aufstieg missgönnten – das war das Grundempfinden eines fast jeden Deutschen.

Zunehmender Nationalismus und allgemeines Machtstreben begannen, das über Jahrzehnte fein gesponnene Netz diplomatischer Übereinkünfte zur Verhinderung von Kriegen zu zerreißen. Konnte die Marokkokrise zwischen Deutschland und Frankreich 1911 noch friedlich gelöst werden, so war der Angriff des auf Vergrößerung seines Einflussgebietes bedachten Italien auf das Osmanische Reich im heutigen Libyen Ende September 1911 die erste direkte Konfrontation zwischen zwei in Europa einflussreichen Mächten seit 40 Jahren. Dem italienischen Beispiel folgend, entrissen 1912 Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland dem schwächelnden Osmanischen Reich im ersten Balkankrieg gewaltsam Gebiete. Bis weit über 1918 hinaus, sollte Europa nun nicht mehr zu Ruhe kommen. Zwar hielten sich die europäischen Großmächte aus den Konflikten auf dem Balkan militärisch heraus, angesichts wiederkehrender außenpolitischer Krisen um Einflusssphären und Absatzmärkte forcierten sie aber alle ihre Anstrengungen im sich nun verschärfenden Rüstungswettlauf. In Deutschland bewilligte der Reichstag 1913 die Erhöhung der Heeresstärke um 136.000 auf über 800.000 Mann. Gleichzeitig wurden dem Heer großzügigere finanzielle Mittel zu seiner Modernisierung bereitgestellt. In Kreisen hoher deutscher Militärs zeigte man sich bereits ab Ende 1912 von der Unabwendbarkeit eines gesamteuropäischen Krieges überzeugt – und in den anderen Staaten war dies nicht sehr viel anders.  

Der unmittelbare Weg in den Krieg wurde in Folge der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 beschritten. Das Attentat löste zunächst diplomatische, dann militärische Aktivitäten aus, die zunehmend auf die bewaffnete Konfrontation hochgerüsteter Staaten zusteuerten. In der Juli-Krise versagten alle diplomatischen Bemühungen um eine Konfliktlösung. Kein Monarch oder hochrangiger Politiker in Europa hatte einen großen Krieg langfristig geplant, im Juli 1914 schloss ihn aber auch niemand mehr kategorisch aus. Zu groß war mittlerweile das gegenseitige Misstrauen der sich in zwei Blöcken gegenüberstehenden Großmächte; zu ausgeprägt war das Verlangen, die eigene Stärke zu demonstrieren und die konfliktreiche Situation zum eigenen Vorteil zu nutzen; zu gering war die Bereitschaft, einen Prestigeverlust hinzunehmen und so den Frieden möglicherweise zu bewahren.

Im Deutschen Reich beeinflusste die militärische Handlungslogik maßgeblich die politischen Entscheidungen. Die Reichsregierung wollte den Konflikt zwischen dem Bündnispartner Österreich-Ungarn und Serbien als Krieg zwischen diesen beiden Staaten lokal begrenzt halten. Zugleich war sie bestrebt, die Kriegswilligkeit Russlands als Verbündeten Serbiens zu testen. In Berlin hielt man den Zeitpunkt für einen Krieg gegen Russland für den „am wenigsten ungeeigneten", da das stark aufrüstende Zarenreich in absehbarer Zeit Deutschland allein durch die Zahl seiner Soldaten zu erdrücken drohe, so die Befürchtungen. Beunruhigt über die Rüstungsanstrengungen Russlands und dessen möglichen Expansionsdrang nach Westen wollte Deutschland einen Krieg lieber 1914 als wenige Jahre später führen, wenn die Aussichten für einen Sieg dramatisch gesunken sein würden. Dies bestärkte die Entschlossenheit der deutschen Reichsregierung, die „Flucht nach vorn“ anzutreten und Österreich-Ungarn unter allen Umständen beizustehen. Andernfalls, so die Befürchtungen im weitgehend isolierten Deutschen Reich, würde man mit der Donaumonarchie auch den letzten treu ergebenen Bündnispartner verlieren. Nach der österreichischen Kriegserklärung an Serbien vom 28. Juli 1914 griffen innerhalb weniger Tage alle Bündnisvereinbarungen. In düsterer Vorahnung der unabsehbaren Folgen des nun über weite Teile Europas und darüber hinaus hereinbrechenden Krieges sprach der Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg von einem ungewissen „Sprung ins Dunkle“.

Arnulf Scriba
8. September 2014

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