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    Vilnius, Einmarsch motorisierter deutscher Truppen, Propagandakompanie-Aufnahme, Juni 1941

> Der Zweite Weltkrieg > Völkermord

Die ersten Chronisten des Holocaust in Vilnius

Mit dem deutschen Überfall auf Polen im Morgengrauen des 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Während die deutsche und sowjetische Besatzung dafür sorgte, dass Polen als Staat das vierte Mal seit dem Ende des 18. Jahrhunderts von der Landkarte getilgt wurde, entwurzelten die Kriegswirren Hunderttausende von Menschen, die im Unwissen um den sowjetischen Einmarsch am 17. September vor allem in Richtung Osten versuchten, der Wehrmacht zu entfliehen. „Alle rennen, rennen als würden sie verfolgt”, kritzelte Herman Kruk (1897–1944) am 7. September auf der Flucht in sein Tagebuch, „tausende Fußgänger – Juden und Christen, Männer und Frauen, Alte und Junge, ein Meer von Limousinen, Militärfahrzeugen.” Kruk gehörte zu tausenden polnisch-jüdischen Geflüchteten, die zusammen mit nichtjüdischen Polinnen und Polen zwischen September 1939 und Mai 1940 in Vilnius strandeten.

Vilnius, bis Oktober 1939 Teil Polens, wandelte sich dank eines sowjetisch-litauischen Paktes über Nacht zur alten-neuen Hauptstadt Litauens, des zu diesem Zeitpunkt einzigen neutralen, wenn auch autoritären, Staates Osteuropas, und wurde somit zu einem bevorzugten unter den ohnehin raren Rettungswegen aus dem besetzten Polen. Anfang Dezember 1939 waren so schon 18.000 (darunter 6860 jüdische Polinnen und Polen) und im Februar 1940 insgesamt circa 27.000 polnische Geflüchtete (darunter 11.000 jüdische Polinnen und Polen) offiziell registriert. Die Gesamtzahl polnisch-jüdischer Geflüchteter wird jedoch auf insgesamt 14.000 geschätzt und setzte sich demographisch aus allen Schichten des polnischen Judentums zusammen, besonders aber aus seiner politischen und intellektuellen Elite. Für die in der Vorkriegszeit circa 210.000 (Stand: 1938) Einwohnerinnen und Einwohner starke Stadt bedeutete dieser Zustrom einen plötzlichen Einwohneranstieg von ungefähr 15 Prozent, der nicht einfach absorbiert werden konnte und in eine humanitäre Krise mit den üblichen diskriminierenden Abschottungsambitionen führte.

Doch Vilnius‘ urbanes Geflecht bot trotz der humanitären Ausnahmesituation und des restriktiven litauischen Migrationsregimes für eine gewisse Zeit ungeahntes Potential für migrantisches jüdisches Leben in Zeiten des Krieges. Vilnius beheimatete zu diesem Zeitpunkt eine beispiellose Konzentration kreativer Kräfte der kulturellen und politischen Intelligenz wie auch der religiösen Elite des polnischen Judentums. Und diese Stadt ist in der jüdischen Welt nicht irgendeine. Sie trägt den Ehrentitel „Yerusholaim de Lite” (Jerusalem Litauens). Über Jahrhunderte gewachsene kulturelle, soziale und philanthropische Infrastrukturen erleichterten den jüdischen Geflüchteten den Neustart, so dass man hier anfänglich sogar die vage Hoffnung auf eine wenn auch bescheidene Kontinuität der bisherigen Kulturarbeit hatte.

Eines der bedeutendsten Projekte, das innerhalb des Geflüchtetenmilieus von Vilnius und mit Hilfe eines internationalen Unterstützungsnetzwerks im frühen November 1939 auf die Beine gestellt wurde, ist ohne Zweifel das Komitet tsu zamlen materialn vegn yidishn khurbn in Poyln (Komitee zum Sammeln von Material über die Zerstörung jüdischer Gemeinden in Polen 1939). Eine Gruppe von 60 polnisch-jüdischen Literaten und Journalisten (ausschließlich männliche Mitglieder) schlossen sich kurz nach Ankunft in Vilnius zu der wohl frühesten jüdischen historischen Kommission in Osteuropa zusammen, die sich der geheimen Dokumentation der deutschen Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung im besetzten Polen widmete. „Das Büro hat eine gewaltige Menge an Material über die deutschen Verbrechen in einer Reihe von Städten und shtetlekh (Städtchen) in Polen in den ersten Monaten ihrer [der deutschen] Herrschaft gesammelt”, erinnerte sich der Mitarbeiter Mendel Balberyszski (1894-1966), „Neuigkeiten von der anderen Seite kamen die ganze Zeit durch Geflüchtete an. In der geheimen Kommission hatten sich Zeugenaussagen, Dokumente, gelbe Abzeichen mit Davidsternen in verschiedenen Formen, deutsche Repressionen, Verordnungen etc. angesammelt.” Täglich wurden Interviews mit Geflüchteten geführt, die über deutsche Verbrechen, Flucht und Vertreibung berichteten und die Basis für zusammenfassende Berichte des Komitees lieferten. Insgesamt besteht das überlieferte Archiv des Komitees aus rund 1000 maschinengeschriebenen Seiten, die circa 300 Interviews umfassen und heute im Bestand der Wiener Holocaust Library in London zugänglich sind.

Die Spuren der Dokumentationstätigkeit verlaufen sich, als die Rote Armee im Juni 1940 in Litauen einmarschierte und wenige Monate später von der nun eingesetzten prosowjetischen Regierung der Beitritt zur Sowjetunion erklärt wurde. Viele Geflüchtete versuchten nun noch verzweifelter, auch aus Vilnius zu fliehen, während andere, so unter anderem Noyekh Prilutski (1882–1941), Gründungsmitglied und Leiter des Komitees, den politischen Umschwung begrüßten. Der Einmarsch der Wehrmacht in Litauen löste dagegen unter Jüdinnen und Juden uneingeschränkt große Panik aus. Am Tag des Einmarsches, am 22. Juni 1941, verbrannte Prilutski eine Kopie des Archivs, bevor er am 18. August 1941 von der Gestapo getötet wurde. Zu diesem Zeitpunkt lebten noch etwa 220.000 Jüdinnen und Juden in Litauen, von denen während der dreijährigen deutschen Besatzung mehr als 95 Prozent getötet werden würden. Zur Zeit der Befreiung Litauens durch die Rote Armee im Sommer 1944 hatten lediglich 10.000 von ihnen die von deutschen Besatzern und Besatzerinnen und litauischen Helfern und Helferinnen betriebene Vernichtung überlebt. Dazu kommen noch etwa 22.000 sogenannte litauisch-jüdische Fluchtüberlebende, die bei Kriegsbeginn in die Sowjetunion geflohen waren. In keinem anderen Land war die Zerstörung jüdischen Lebens so allumfassend.

Was bleibt, sind unter anderem die berühmten Ghettochroniken des eingangs zitierten Herman Kruk sowie zahlreiche Stimmen Geflüchteter, die zusammen das Untergrundarchiv des Komitet ausmachen und ein Testament für jüdische Selbstbehauptung und jüdischen Widerstand im von Deutschland zerstörten „Jerusalem Litauens“ bilden.

Miriam Schulz
23. August 2022

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