• zd026393

    Sonderdruck aus Frankreich zum Gedenken an das Massaker der Waffen-SS in Oradour am 10. Juni 1944

> Der Zweite Weltkrieg > Kriegsverlauf

Das Massaker in Oradour-sur-Glane

Im französischen Dorf Oradour-sur-Glane verübte eine Einheit der Waffen-SS am 10. Juni 1944 das „zahlenmäßig größte deutsche Massaker in Westeuropa“, so der Historiker Peter Lieb, während des Zweiten Weltkriegs. In wenigen Stunden töteten die Soldaten 643 Menschen, plünderten den Ort und brannten ihn nieder. Sie zerstörten 328 Gebäude und ließen ein Ruinenfeld auf 15 Hektar Land zurück. In Frankreich wurde das Massaker zum nationalen Symbol des Leidens unter der deutschen Besatzung. Die Ruinen gingen in Staatsbesitz über, wurden unter Denkmalschutz gestellt und werden bis heute mit enormen finanziellen Mitteln erhalten. Auf Wunsch der französischen Regierung entstand neben dem Ruinendorf ein neues Oradour.

Oradour-sur-Glane liegt an den nordwestlichen Ausläufern des Zentralmassivs, etwa 20 Kilometer von Limoges entfernt. Im Jahr 1936 zählte die Gemeinde 1.574 Einwohner. Nur ein relativ kleiner Teil davon (330) lebte in Oradour selbst, knapp vier Mal so viele Bewohner in den zahlreichen Dörfern und Weilern rund um den Marktflecken. Auch während des Krieges blieb Oradour ein lebendiger und bei Besuchern beliebter Ort. Doch die Auswirkungen des Krieges machten sich auch dort bemerkbar. So zählte die Gemeinde zahlreiche Flüchtlinge: Spanier suchten Schutz vor dem Franco-Regime, Juden Zuflucht angesichts ihrer Verfolgung, 1940 aus ihrer Heimat vertriebene Bewohner des Departements Moselle ließen sich mit eigenem Lehrer und Pfarrer in Oradour nieder, besorgte Eltern schickten ihre Kinder aus der Stadt in die scheinbare Sicherheit des Dorfes. Als die Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie landeten, glaubte man auch in Oradour das Kriegsende nah.

Etwa 250 Kilometer südlich von Oradour-sur-Glane lag zu diesem Zeitpunkt die 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“. Im Frühjahr 1944 wurde sie zur Auffrischung nach Südfrankreich verlegt. Sie hatte an der Ostfront gekämpft und dort hohe Verluste erlitten. In Frankreich sollte sie mit Blick auf eine mögliche Invasion der Alliierten den Sollbestand wieder erreichen und einsatzfähig werden. Als die Invasion am 6. Juni 1944 schließlich begann, kam es zu einem sprunghaften Anstieg des bewaffneten französischen Widerstands. In kürzester Zeit befanden sich etwa große Bereiche des Zentralmassivs de facto in dessen Händen. Die Division wurde noch am 6. Juni 1944 in Marschbereitschaft versetzt, jedoch nicht sofort in die Normandie verlegt. Um den erstarkenden Widerstand zu bekämpfen, sollte sie zunächst in den Raum Tulle/Limoges aufbrechen. Auf dem Weg Richtung Norden hinterließ die Einheit ab dem 8. Juni 1944 eine Spur der Gewalt.

Tathergang und Beteiligte

Die meisten Historiker und Historikerinnen sehen in dem Massaker heute eine gezielte Terrorisierung der Zivilbevölkerung, um sie gegen den Widerstand aufzubringen und ihm die Unterstützung zu entziehen. Wer den Befehl zur Auslöschung Oradours gab, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Sicher ist: An der Spitze der Division stand mit Heinrich Lammerding (1905-1971) ein ausgemachter Experte der Partisanenbekämpfung in Osteuropa, vertraut mit dem dortigen extremen und blutigen Vorgehen gegen den Widerstand. Diese Methoden wollte er an die Westfront übertragen sehen. Sicher ist ebenso: Das Massaker war bereits geplant, als die tatausführende Einheit am 10. Juni 1944 nach Oradour aufbrach. Es war die 3. Kompanie des I. Bataillons des SS-Panzer-Grenadier-Regiments 4 „Der Führer“ der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ unter Kompaniechef Otto Kahn (1907-1977). Verstärkt wurde die Kompanie durch Männer des Bataillonsstabs und Bataillonskommandeur Adolf Diekmann (1914-1944), der das Massaker vor Ort leitete. Insgesamt brachen etwa 150 Soldaten nach Oradour auf.

Vor Ort angekommen, trieben die Soldaten die Dorfbewohner und alle Menschen, die sich in den durchkämmten Weilern, Feldern und Wiesen befanden, auf dem Marktplatz Oradours zusammen und trennten sodann die Männer von den Frauen und Kindern. Während die Frauen und Kinder in die Kirche geführt wurden, brachte man die Männer in vier weitere Gebäude. Auf ein Signal von Kompaniechef Kahn hin wurde das Feuer auf die Männer eröffnet, anschließend tötete man Überlebende und setzte die Gebäude samt der Opfer in Brand. Es folgte das Massaker an den Frauen und Kindern. Zunächst trugen Soldaten eine Kiste, die sie zum Explodieren brachten, in die Kirche. Giftiger Rauch trat aus, sodass die Frauen und Kinder in Panik gerieten und zu den Ausgängen drängten. Die Soldaten warfen Granaten, schossen mit Maschinengewehren in die Menge und legten Feuer.

Das Töten in Oradour begann jedoch bereits vor der Massenexekution der Männer. Die Täter erschossen Alte, Kranke und Gehbehinderte an Ort und Stelle und eröffneten auf Flüchtende das Feuer. Nach dem Massaker in der Kirche währte das Morden bis in die späten Nachtstunden: Soldaten erschossen Menschen, die sich dem Ort näherten, sofort oder brachten sie in das Dorf, um sie dort zu töten. Darunter waren Mütter und Väter auf der Suche nach ihren Kindern, zu einem Ausflug aufgebrochene Radfahrer, Frauen auf dem Weg, um ihre Einkäufe zu erledigen.

Noch am Abend des 10. Juni 1944 und am Ort des Massakers begann die gezielte Vertuschungs- und Desinformationspolitik mit einem Schweigegebot und der Ausgabe einer Sprachregelung: Schuld an dem Geschehen, so die Kernbotschaft, sei die Widerstandsbewegung.

Strafverfolgung in Frankreich und Deutschland

Die Nachgeschichte des Massakers, die „zweite Geschichte“ Oradours, ist wesentlich von der unzureichenden strafrechtlichen Ahndung des Verbrechens geprägt. Im Jahr 1953 eröffnete das Militärgericht Bordeaux den „Oradour-Prozess“. Nur 21 Männer saßen auf der Anklagebank, darunter kein Offizier. Bereits die Urteile enttäuschten die Überlebenden und Hinterbliebenen, sie waren in ihren Augen viel zu milde. Zum „deuxième martyr“, zum zweiten Trauma wurde der Prozess durch die wenige Tage später folgende Amnestie von 13 Verurteilten. Der Grund: Es waren Franzosen, konkreter: in die Waffen-SS zwangsrekrutierte Elsässer und somit selbst Opfer eines Kriegsverbrechens. Die vehementen elsässischen Proteste gegen ihre Verurteilung veranlassten das französische Parlament, die Männer im Namen der nationalen Einheit zu amnestieren. Das daraus resultierende Zerwürfnis zwischen Oradour und Paris bestand über Jahrzehnte fort.

Auch die strafrechtliche Ahndung des Verbrechens in Deutschland führte in Oradour zu Enttäuschung und Verbitterung. Nur ein einziger an dem Massaker Beteiligter wurde in Deutschland verurteilt: 1983 verhängte in der DDR das Stadtgericht Ost-Berlin eine lebenslange Haftstrafe gegen den als Zugführer in Oradour eingesetzten Heinz Barth (1920-2007). Der Genugtuung über das Urteil wich Ernüchterung, als in Oradour bekannt wurde, dass Barth eine Kriegsopferrente bezog, vorzeitig entlassen wurde und noch zehn Jahre in Freiheit lebte. Noch bitterer empfanden die Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers den deutschen Umgang mit dem früheren Divisionskommandeur Heinrich Lammerding. Der in Düsseldorf als Bauunternehmer tätige Lammerding genoss in den 1950er Jahren den Schutz politischer Kreise, kam in der Bundesrepublik auch später nie vor Gericht und konnte aufgrund des Grundgesetzes nicht nach Frankreich ausgeliefert werden. Im Jahr 2011 eröffnete die Staatsanwaltschaft Dortmund noch einmal ein Ermittlungsverfahren zu Oradour. Erstmals reisten Staatsanwalt und Ermittler nach Oradour, untersuchten den Tatort und waren bei den Zeugenvernehmungen anwesend. In der Folge kam es zur ersten Anklage in der Bundesrepublik im Fall Oradour. In einen Prozess mündete sie indes nicht. Das zuständige Gericht sah die Beweislage als nicht ausreichend an, um ein Gerichtsverfahren zu eröffnen.

Andrea Erkenbrecher
30. Mai 2024

lo