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Alltagsleben

Das 1871 gegründete Deutsche Kaiserreich war ein Land voller Widersprüche: Den Prachtbauten erfolgreicher Unternehmer standen die dunklen Mietskasernen mit ihren vielen Hinterhöfen gegenüber. Infolge des Bevölkerungswachstums und der wirtschaftlichen Entwicklungen entstanden neue Eliten, Unternehmer und Bildungsbürger gewannen an Ansehen und Bedeutung. Während Staat und Gesellschaft von Aristokratie und Großbürgertum geprägt wurden, formierte sich die Arbeiterklasse zum Kampf um soziale und politische Emanzipation. Zugleich veränderten technisch-industrielle Errungenschaften die gewohnten Lebenswelten grundlegend. Elektrizität und die ersten Automobile gaben der entstehenden Massengesellschaft ihr Gesicht und waren Vorläufer einer neuen Zeit. Von den sich immer schneller beschleunigenden Veränderungen waren vor allem die Städte der industriellen Zentren betroffen. Hier entstanden im Dienstleistungsbereich neue Berufsfelder, neben den Arbeiter trat nun der Angestellte.

Urbanisierung und gesellschaftlicher Wandel

Von der 1895 einsetzenden und bis 1913 andauernden Hochkonjunktur profitierten nahezu alle Kreise der Bevölkerung, wenngleich in durchaus unterschiedlichem Maß. Hatten 1890 rund 30 Prozent der Bevölkerung das steuerpflichtige Mindesteinkommen erreicht, so verdoppelte sich diese Quote bis 1913 auf 60 Prozent. Der jährliche Zuwachs des Reallohns von einem Prozent lag allerdings deutlich unter dem Reallohnzuwachs anderer Industrieländer. Die ungleiche Verteilung des Einkommenszuwachses sowie der schwache Anstieg der Reallöhne veranlassten immer mehr Frauen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, um den Lebensunterhalt ihrer Familien durch ein zusätzliches Einkommen zu sichern. Allein zwischen 1900 und 1913 stiegen die Lebensmittelkosten um ein Drittel an. Verantwortlich dafür waren vor allem die erhöhten Schutzzölle für agrarische Importe, mit denen die ostelbische Machtelite den Absatz ihrer landwirtschaftlichen Produkte sicherte.  

Trotz der Lebensmittelverteuerung kam es nicht mehr zu den aus der vorindustriellen Zeit bekannten Ernährungs- und Hungerkrisen. Der Seuchentod war nahezu gebannt, und die Fortschritte in der Medizin ließen die Säuglingssterblichkeit kontinuierlich sinken. Hygiene und Gesundheit wurden zu öffentlichen Themen, Aufklärungskampagnen popularisierten neue Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Unsauberkeit und gefährlichen Krankheitserregern. Die Sterbekurve sank aufgrund der erheblich verbesserten medizinischen Versorgung und zahlreicher sozialhygienischer Neuerungen deutlich ab. Darüber hinaus führten der Ausbau der Kanalisation und des Trinkwassernetzes, neue chemische Arzneimittel, die langfristige Verbesserung der Ernährungsgewohnheiten sowie die Auswirkungen des Arbeiterschutzes und der Sozialgesetzgebung zu einem bemerkenswerten Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung von 37 Jahren (1871) auf 47 Jahre (1910). In den Großstädten vervierfachte sich die Bevölkerung zwischen 1871 und 1910 auch durch den Zuzug aus den agrarischen Gebieten Ostdeutschlands, wo die Löhne seit der Agrarkrise der 1870er Jahre weit hinter denen der Industrie zurückgeblieben waren. Mit ihrem attraktiven Lohnniveau absorbierten die Städte den Strom von Auswanderern, der bisher vor allem nach Nordamerika gerichtet war. Die Abwanderung der ihren Herrschaften weitgehend rechtlos ausgelieferten Landarbeiter, Knechte und Mägde aus den östlichen Agrargebieten in die industriellen Zentren führte zu einer deutlichen Verschiebung des wirtschaftlichen und sozialen Schwergewichts vom Osten zum Westen, vom adligen Grundbesitzer zum Unternehmer.

Die fortschreitende Industrialisierung in Deutschland mit hohen Wachstumsraten und der damit einhergehenden Vollbeschäftigung sicherte die Versorgung mit neuem Wohnraum und neuen Arbeitsplätzen. Die Folgen der rasanten Urbanisierung waren unübersehbar: Eisenbahnen transportierten in großer Menge Tiere und Getreide in die Städte, in denen die traditionellen Märkte dem Massenbedarf eines urbanen Zentrums nicht mehr gewachsen waren. Großmärkte, neue Schlachthöfe, Markthallen und Kaufhäuser entstanden, um die Versorgung mit frischen Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs zu sichern. In den schnell wachsenden Metropolen versorgten Kraftwerke ab den 1880er Jahren erst einzelne Firmen und dann Stadtteile mit Strom. Immer mehr Straßen, öffentliche Gebäude und Privatwohnungen erhielten elektrische Beleuchtung, rund zehn Prozent der deutschen Haushalte verfügten 1914 über einen Stromanschluss. In Berlin fuhr im Mai 1881 die erste elektrische Straßenbahn, im selben Jahr begann die Reichshauptstadt mit der Installierung einer elektrischen Straßenbeleuchtung. Der Anschluss an die Versorgung mit Wasser, Gas und Strom veränderte das Alltagsleben der Menschen in bislang unbekanntem Ausmaß. In Berlin und in Mülhausen im Elsass wurden 1881 erste Ortsvermittlungsstellen für Telefongespräche eingerichtet. Tischtelefone und Schreibmaschinen gehörten nach der Jahrhundertwende zur Ausstattung fast jeden Büros und jeder Amtsstube.

Adel und Militär

Trotz Industrialisierung und Modernisierung war das Deutsche Reich eines der wichtigsten europäischen Agrarländer. Die rund 24.000 Personen starke Gruppe von Aristokratie und grundbesitzendem Landadel bestimmte das politische Geschehen maßgeblich. Die gesellschaftliche Leitfunktion des Adels hielt vor allem in Preußen unangefochten an, wo das Offizierskorps eines der bevorzugten Betätigungsfelder der Aristokratie blieb: Rund 60 bis 70 Prozent der Söhne des Adels dienten im preußischen Militär als Offiziere. Nobilitierungen galten als Ausdruck gesellschaftlichen Aufstiegs. Die deutschen Monarchen und regierenden Fürsten hatten das Recht, den Erbadel zu verleihen, allerdings machten sie nur selten davon Gebrauch. In Preußen stellten die Nobilitierten zwischen 1871 und 1918 knapp neun Prozent des gesamten Adels. Der „alte Adel“ legte hingegen keinen Wert auf diese Emporkömmlinge. Im Kaiserreich hatte weiterhin die Geburt einen wesentlichen Einfluss auf die Stellung des Menschen in der Gesellschaft. Nur langsam gewann die individuelle Qualifikation an Bedeutung. Einigen gelang aber durch Leistung und Arbeit der Aufstieg in den sozialen Hierarchien dieser Klassengesellschaft. Mit dem Ausbau von Industrie und Finanzwesen bildete sich eine großbürgerliche Schicht, die dem Adel zentrale Positionen in Staat und Gesellschaft über ihr Geld streitig machte. Durch ihre Finanzkraft stand sie in Pracht und Luxus Formen der aristokratischen Repräsentation oft in nichts nach.

Uniformen und Militärparaden prägten das Straßenbild in Deutschland, insbesondere in der Hauptstadt Berlin, die als „Metropole in Gardeuniform“ galt. Der Militärdienst war mit hohem Ansehen verbunden. Für eine erfolgreiche berufliche Karriere war es beinahe unabdingbar, zuvor in der Armee gedient zu haben. Militärische Normen, Umgangsformen und Wertvorstellungen übertrugen sich auch auf das Zivilleben. Das von vielen jungen Männern angestrebte Reserveoffizierspatent war Nachweis „vaterländischer Gesinnung". Trotz der vergleichsweise starken Arbeiterbewegung war der „preußische Untertanen-Geist" sprichwörtlich. Auch in Haushalten sozialdemokratischer Arbeiter fand sich das Bild des Kaisers neben den Familienfotos und den Andenken an den Militärdienst. Nichts entlarvte die ehrfurchtsvolle Haltung gegenüber Uniformen so sehr wie der „Hauptmann von Köpenick", und der hochgezwirbelte Bart Kaiser Wilhelms II. war modeprägend. Mit einem solchen Bart konnte auch der „kleine Mann" ausdrücken, dass er es zu etwas gebracht hatte. Der überall wahrgenommene Anstieg von Macht und Ansehen des Kaiserreichs war eine verlässliche Klammer der bestehenden Klassengegensätze. Als diese nationale Klammer in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges zerbrach, traten die gesellschaftlichen Konflikte umso deutlicher hervor.

Burkhard Asmuss / Arnulf Scriba
19. Oktober 2015

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