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Jüdische Zivilgesellschaft

Bis in die späte Neuzeit folgten jüdische Gemeinden einer langen Tradition von Organisationen, die einerseits das religiöse Leben strukturierten und andererseits für alle denkbaren Aspekte des Alltagslebens einen Rahmen für Hilfe und Gemeinschaft herstellten. Im Zuge der Aufklärung und der beginnenden Säkularisierung entstanden andere Zusammenhänge und neue Bedürfnisse, angelehnt an organisatorische Beispiele aus der bürgerlichen Allgemeingesellschaft. Das Vertrauen in zuverlässige Zusammenhänge der Gemeinde und Gemeinschaft verband sich zunehmend mit dem Vertrauen in die Verlässlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, mit Rechtssicherheit und einem generellen Gesellschaftsvertrag. Zugleich waren es die Spannungen zwischen der sogenannten Assimilation und dem wachsenden Antisemitismus, die zu mehr Selbstschutz, Widerstand und Abwehr sowie zur Neuorientierung (zum Beispiel im Zionismus) führten.

Das Konzept einer einheitlichen jüdischen Gemeinschaft als übergreifendes Netzwerk mit Spannungen zwischen religiösen und nationaljüdischen Kräften setzte sich in Deutschland als Einheitsgemeinde im nationalen Rahmen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik fort. Es entstanden aber auch schwache Abspaltungen, wie beispielsweise die neo-orthodoxe Austrittsgemeinde. Die politische und territoriale Aufspaltung in eine Vielzahl von Kleinstaatendes 19. Jahrhunderts ließ zuerst viele lokale Emanzipationsanstrengungen entstehen, die sich erst ab der Reichsgründung 1871 zusammenschlossen. 

Die zunehmende Integration und Verbürgerlichung der deutschen Jüdinnen und Juden seit der Aufklärung schafften mehr Reichtum und somit auch mehr Mittel zur Versorgung der Notleidenden. Die Gemeindeorganisationen und -verbände blieben weitgehend bestehen. So existierte bis in die 1930er Jahre hinein ein breites Netzwerk an Institutionen. Um 1900 gab es etwa 5.000 jüdische Vereine und Verbände jeglicher Art, von denen nach Schätzungen weniger als zehn Prozent schon um 1800 bestanden hatten und nur ein Fünftel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet worden war. Die Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin ins Leben gerufene „Gesellschaft der Freunde“ war der erste jüdisch-säkulare Verein zur gegenseitigen Unterstützung junger lediger Männer, der im Laufe des 19. Jahrhunderts Nachahmer in einer Reihe deutscher Städte fand. Bis zum Ende der 1930er Jahre sollte sich die „Gesellschaft der Freunde“ zu einem Sammelbecken bürgerlicher Prominenz entwickeln, dem zunehmend auch nicht-jüdische Mitglieder angehörten.

Die innovative Kraft der neuen Zusammenschlüsse

Die innovative Kraft dieser neuen Zusammenschlüsse zeigte sich vor allem anhand der im frühen 19. Jahrhundert entstandenen und von jüdischen Frauen geleiteten Salons. Sie etablierten sich im urbanen Raum als interkulturelle Treffpunkte von Männern und Frauen, jüdisch wie nichtjüdisch. Diese Salon Gesellschaften bestanden durch das 19. Jahrhundert hindurch weiter fort, mit zu- und auch abnehmendem Erfolg, nach 1815, um 1848 und nach 1871, ehe sie spätestens in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend an Bedeutung verloren und durch andere gesellschaftliche Plattformen abgelöst wurden.

Neben Synagogen, Friedhöfen und dem Beerdigungswesen unterhielten die jüdischen Gemeinden eigene Wohlfahrts- und Jugendfürsorgedienste, ein aktives Schul- und Wohlfahrtswesen, zahlreiche Krankenhäuser, Waisenhäuser, Altersheime, Bibliotheken und, mit zunehmender Integration und Interaktion in die Allgemeingesellschaft, verschiedene Vereine und Verbände.

Zu den größten Organisationen gehörte der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, kurz C.V. Obwohl erst 1893 in Berlin mit weniger als 1.500 Mitgliedern gegründet, zählte er Anfang der 1930er Jahre über 60.000 Mitglieder in 555 Ortsgruppen und 21 Landesverbänden. Der C.V. war als eine Rechtsschutzorganisation eingerichtet worden, um einerseits dem wachsenden Antisemitismus entgegenzutreten und andererseits über die Lebenswelt von Jüdinnen und Juden in Wort und Schrift aufzuklären. Die Monatsausgabe der C.V.-Zeitung, die zwischen 1922 und 1938 erschien, hatte eine Auflage von 50.000 Exemplaren. 

Der „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ (RjF) war eine der verschiedenen Kriegsveteranenorganisationen in Deutschland, die nach dem Ersten Weltkrieg wiederum eine breite Palette von Diensten und Netzwerken schufen, derer sich auch die Familien jüdischer Kriegsteilnehmer in Form von Leibesübungen oder Ansiedlungsprojekten bedienen konnten. Der 1901 in Berlin gegründete „Hilfsverein der deutschen Juden“ war wiederum ursprünglich als Hilfswerk für ostjüdische Migrantinnen und Migranten eingerichtet worden und erlangte mit der Flüchtlingsnot deutscher Jüdinnen und Juden nach 1933 neue Bedeutung. Die „Vereinigung für das liberale Judentum“ verstand sich als nicht-zionistische Sammlungsorganisation zur Verbreitung sowohl religiöser als auch kultureller Aspekte des Judentums sowie als gemeindepolitische Organisation bei jüdischen Gemeinde- und Landesverbänden. Die „Zionistische Vereinigung für Deutschland“ (ZVfD) verschrieb sich seit 1897 der „Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ und fungierte als Landesvertretung der deutschen Zionistinnen und Zionisten. In direktem Zusammenhang dazu standen die „Berliner Zionistische Vereinigung“, die jüdisch-sozialdemokratische Arbeiterorganisation „Poale-Zion“ und deren deutscher Landesverband sowie die orthodoxe zionistische Föderation „Misrachi“. Ferner gab es zwei jüdische Kreditbanken und eine Darlehnskasse zur Geschäfts- und Mittelstandsfürsorge.

Wirtschaftlicher Aufstieg und Liberalismus

Daneben existierte eine große Anzahl kleinerer Vereine, die sich besonderer Belange annahmen wie beispielsweise der Unterstützung bedürftiger Kinder und Jugendlicher oder Wöchnerinnen.  Die Waisenpflege, mehrere Blinden- und Taubstummenanstalten sowie Frauenvereine und Heimatvereine verschiedener Landsmannschaften leisteten wichtige Dienste.

Hinzu kamen zahlreiche Synagogenvereine, die einerseits zur Unterstützung der Gottesdienste, andererseits für den Bau neuer Synagogen geschaffen wurden, so zum Beispiel der konservative Synagogen-Verein Moabit und der „Hansa-Bezirk“. Dieser hatte Anfang der 1930er Jahre mit seinen 250 Mitgliedern ein Haus in der Berliner Klopstockstraße erworben, um eine neue Synagoge einzurichten. Zu nennen ist hier auch die 1930 eingeweihte große Synagoge in der Prinzregentenstrasse in Berlin-Wilmersdorf, die davon zeugt, dass die Gemeinde auf lange Sicht geplant hatte. 

Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg nach der Reichsgründung entstand ein Geflecht von Stiftungen, die eine große Bandbreite an verschiedensten philanthropischen Aktivitäten ermöglichten und halfen, das jüdische Vereinswesen auszuweiten. Während der Inflation Anfang der 1920er Jahre verloren auch viele Jüdinnen und Juden, vor allem aus dem bürgerlichen Mittelstand, ihr Vermögen und so wurden Stiftungen erst langsam wiederaufgebaut. In den ersten Jahren des NS-Regimes konnte eine Reihe von gemeinnützigen Einrichtungen weiterbestehen. Auch wurden neue Organisationen ins Leben gerufen, wie zum Beispiel der „Jüdische Kulturbund“.

Mit erstarkendem Liberalismus und wachsendem Kapitalvolumen nach der Reichsgruendung 1871 entstanden neue Möglichkeiten der Kommunikation. Der Mosse-Konzern erreichte mit seinem nationalen und europäischen Reklame- und Anzeigenvertrieb, seinem großen Portfolio an Zeitungs- und Zeitschriftentiteln sowie Fachzeitschriften in allen denkbaren Branchen eine breite Öffentlichkeit. Sowohl der Firmengründer Rudolf Mosse (1843-1920) als auch sein Nachfolger und Schwiegersohn Hans Lachmann-Mosse (1885-1944) unterstützten neben Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde in Berlin Wohnungsbauprojekte und allgemeine Stiftungen. Die Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre und dann vor allem das NS-Regime beendeten diese Blüte ziviler Innovation und Sozialpolitik von gerade einmal 60 Jahren.

Frank Mecklenburg, Leo Baeck Institute – New York | Berlin
14. November 2024

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