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Der "Kulturkampf"

Viele europäische Mächte gerieten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Konflikt mit der katholischen Kirche, als sie nachdrücklich die Autonomie des Staates gegen geistliche Einflüsse und Ansprüche durchzusetzen versuchten. Im Kaiserreich forcierte Reichskanzler Otto von Bismarck die strikte Trennung von Kirche und Staat und hoffte, durch die Eindämmung der Zentrumspartei als Vertreter des politischen Katholizismus die weitgehende Verdrängung der katholischen Kirche aus politischen und staatlichen Entscheidungsprozessen zu erreichen. Das noch vor der Reichsgründung gebildete Zentrum sah Bismarck als Speerspitze einer "schwarzen Internationale", die von Rom aus antinationalistisch regiert werde. In Allianz mit den katholisch geprägten Ländern Polen, Österreich und Frankreich sowie mit bayerischen Partikularisten warf er den "Reichsfeinden" des preußisch-protestantischen Kaisertums die Bekämpfung der nationalen Einheit vor. Zugleich erkannte der Pragmatiker Bismarck, dass die Zentrumspartei mit ihrer schichtenübergreifenden Massenbasis zu einer unangenehmen Opposition im Reichstag werden konnte.

 

Zur Charakterisierung der Politik Bismarcks gegenüber der katholischen Kirche verwendete der Berliner Anatom und Abgeordnete der linksliberalen Fortschrittspartei Rudolf Virchow erstmals am 17. Januar 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus den Begriff "Kulturkampf". Bismarck gedachte, seine Ziele hauptsächlich mit Gesetzen und bürokratischen Schikanen zu erreichen. Im Juli 1871 löste die preußische Regierung die dreißig Jahre zuvor errichtete Katholische Abteilung im Kultusministerium auf, die nun als römische Vorhut im Herzen des protestantischen Preußens galt. Mehrere antikatholische Gesetze folgten: Im Dezember 1871 wurde der "Kanzelparagraph" ins Strafgesetzbuch aufgenommen, der Geistlichen unter der Androhung von Haftstrafen verbot, von der Kanzel staatliche Angelegenheiten kritisch zu erörtern. Das preußisches Schulaufsichtsgesetz vom März 1872 schränke den Einfluss der beiden christlichen Konfessionen auf die Schulen ein.

Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan unterwarfen die preußischen "Maigesetze" von 1873 die katholische Kirche fast vollständig der staatlichen Reglementierung: Für eine erfolgreich absolvierte Ausbildung mussten angehende Theologen ein staatliches Kulturexamen ablegen, und Bischöfe wurden verpflichtet, Neubesetzungen geistlicher Ämter dem zuständigen Oberpräsidenten zu melden. Ein eigens geschaffener "Königlicher Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten" erhielt weitgehende Vollmachten. Um das alleinige Eheschließungsrecht der Kirche aufzuheben, führte die Regierung 1875 durch ein Reichsgesetz die Zivilehe ein. Im selben Jahr verabschiedete der Reichstag auch das Reichsexpatriierungsgesetz, das die Freizügigkeits- und Staatsbürgerrechte für Geistliche beschränkte. Das "Brotkorbgesetz" verfügte die Einstellung sämtlicher staatlicher Zuwendungen an katholische Bistümer und Geistliche. Ferner wurde das katholische Vereins- und Pressewesen scharf überwacht und die staatliche Aufsicht über den Religionsunterricht deutlich ausgedehnt. Im Juni 1875 folgte schließlich die Aufhebung der Kirchenartikel in der Preußischen Verfassung, welche die kirchliche Autonomie und konfessionelle Parität gewährleistet hatten. Besonders der Zentrumsabgeordnete Ludwig Windthorst (1812-1891) protestierte gegen diese Bestimmungen.

Solche Einwände blieben jedoch ebenso wirkungslos wie päpstliche Beschwerden und bischöfliche Missbilligungen. Bischöfe und Priester, die Ausnahmegesetze nicht beachteten, wurden zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Bei Nichtbezahlen folgten demütigende Hausdurchsuchungen, Zwangsvollstreckungen und Zwangsversteigerungen. 1878 amtierten in den zwölf Bistümern Preußens nur noch drei Bischöfe. Ein Viertel aller katholischen Pfarreien in Preußen blieb unbesetzt. Insgesamt wurden 296 katholische Ordensniederlassungen mit knapp 4.000 Mitgliedern verboten.

Trotz aller Schikanen verfehlte Bismarck sein Ziel. Der Kampf gegen Katholiken verstärkte eher die innerkirchliche Solidarität, die Bindung an den Papst und die Identifikation mit dem Papsttum. Bisherige Interessensgegensätze zwischen liberalen und konservativen Katholiken rückten in den Hintergrund. Das katholische Vereins- und Verbandswesens erlebte ebenso einen deutlichen Aufschwung wie die katholische Presse, die ungeachtet der repressiven Maßnahmen die Politik des Zentrums massiv unterstützte. Bei den Reichstagswahlen 1877 und 1878 konnte sich die Zentrumspartei als zweitstärkste Fraktion im Parlament etablieren.

Auch Aufgrund dieser kontinuierlichen Wahlerfolge erkannte Bismarck Ende der 1870er Jahre, dass er seine Ziele der Zerschlagung des politischen Katholizismus nicht erreichen konnte. Mittlerweile beklagten sich auch protestantische Vertreter über das mangelnde Rechtsbewusstsein, die Einschränkung individueller Rechte und Freiheiten sowie die fortschreitende Säkularisierung des öffentlichen Lebens. Daneben verlor Bismarck durch seine Abkehr von den Prinzipien des Freihandels die Unterstützung großer Teile der Nationalliberalen. Zur Durchsetzung der konservativen Schutzzollpolitik brauchte der Reichskanzler eine neue parlamentarische Mehrheit, die er nur durch eine Annäherung an das Zentrum erreichen konnte. Darüber hinaus traten allmählich die Sozialdemokraten in den Mittelpunkt Bismarckscher Innenpolitik, die er als eine noch größere Gefahr für die Gesellschaft im Deutschen Reich erachtete.

Bismarcks innenpolitischer Kurswechsel war zusätzlich durch einen Wechsel auf dem päpstlichen Stuhl am 20. Februar 1878 erleichtert worden. Der neue Papst, Leo XIII. (1810-1903), hatte in Rom Bereitschaft zur Verständigung signalisiert. Noch im gleichen Jahr nahmen beide Verhandlungen auf, wenn auch zunächst wenig erfolgreich. Die entscheidende Wende im "Kulturkampf" ermöglichte ein unerwarteter Schritt des Papstes, der im Februar 1880 die Anzeigepflicht für die Neubesetzung von Pfarrstellen billigte. Im Mai 1880 kündigte Bismarck im Reichstag eine Abmilderung der antiklerikalen Gesetze an. Schon im Juli verabschiedete das preußische Abgeordnetenhaus das "Erste Milderungsgesetz": Vier Bischofssitze, die seit dem Ableben ihrer Inhaber vakant waren, konnten dadurch neu besetzt werden. 1882 wurde die preußische Gesandtschaft beim Vatikan wieder errichtet, nicht jedoch eine solche des Reichs. Das im selben Jahr verabschiedete "Zweite Milderungsgesetz" hob das Kulturexamen auf, und das "Dritte Milderungsgesetz" von 1883 erklärte alle bischöflichen Weihe- und Amtshandlungen straffrei: 280 ausgewiesene Geistliche wurden daraufhin begnadigt.

Im Herbst 1885 akzeptierte Bismarck einen Schiedsspruch von Papst Leo XIII. in einer nebensächlichen deutsch-spanischen Streitfrage um die Karolineninseln zugunsten Spaniens. Aufgrund dieser Anerkennung des Vatikans als Souverän verlieh das Kirchenoberhaupt dem Reichskanzler die höchste päpstliche Auszeichnung, den Christusorden - sehr zum Entsetzten der Katholiken in Deutschland, die in Bismarck immer noch den "Christenverfolger" sahen. In weiteren Verhandlungen wurde der "Kulturkampf" zusätzlich entschärft: Die beiden Friedensgesetze von 1886 und 1887 revidierten schließlich bis auf Schulaufsicht und Zivilehe nahezu alle Kulturkampfgesetze. Am 23. Mai 1887 erklärte Leo XIII., dass der Friedenszustand zwischen Heiligem Stuhl und Deutschem Reich wieder hergestellt sei. Anspielend auf die herbe Niederlage Bismarcks im "Kulturkampf" hieß es später im Volksmund, der Reichskanzler habe sich "am Weihwasser die Finger verbrannt".

Johannes Leicht
30. November 2005

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