Die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg waren voller Neuanfang. Weltweit wurden in diesen Jahren Grundlagen unserer Demokratien gelegt. Handel und Industrie stellten gewaltige Ressourcen zur Verfügung – und vernetzten die Welt zu einer ersten Globalisierung. Die Aufbrüche der Zeit, die um 1870 ihren Anfang nahmen, glichen sich in den verschiedenen Ländern, und die Akteure verbanden sich über die Grenzen hinweg in Vereinen, Zeitschriften und Konferenzen. „Plötzlich hatte sich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben“, schrieb der österreichische Schriftsteller Robert Musil, „überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen.“ Die Kulturwissenschaftlerin Helene Stöcker machte mit ihren Vorträgen über sexuelle Freiheit und über die neue Frau Sensation. Die männliche Vorherrschaft erschien vielen zunehmend als fragwürdig.
Kunst und Architektur
Die Nationalgalerie in Berlin erwarb im Jahr 1896 mit dem Gemälde „Im Wintergarten” als erstes Museum weltweit ein Bild des umstrittenen Malers Édouard Manet (1832–1883). Das Kunstwerk hatte schon in Frankreich für Aufregung gesorgt, nicht zuletzt wegen seiner erotischen Anspielungen. Da die Nationalgalerie unter ihrem Schweizer Direktor Hugo von Tschudi (1851–1911) außerdem Bilder von Paul Cézanne oder Edgar Degas erstand, wurde sie zum bedeutendsten Museum für moderne französische Kunst im Ausland. Architekten kombinierten im Historismus weltweit Stilepochen der Vergangenheit mit modernen Materialien und Elementen. In Berlin entstand das Reichstagsgebäude, die Stadtbürgerschaften bauten sich stolze Rathäuser, und mit dem Deutschen Werkbund legten Architekten wie Bruno Taut oder Henry van de Velde (1863–1957) den Keim für die moderne Architektur.
Vereine, Arbeiterparteien und Gewerkschaften
Allerorten sprachen die Menschen von Reform. Überall blühten Vereine auf, um das Leben neu zu gestalten. Bürger, aber auch Bürgerinnen organisierten sich im Einsatz für kindgerechte Erziehung, für Hygiene und besseren Wohnungsbau, für Natur-, Tier- und Umweltschutz, für Vegetarismus und für den Weltfrieden, andere Vereine bekämpften den Alkoholismus, die Prostitution, und vor allem gingen sie gegen die Armut vor, die in diesen Jahren zunehmend als Skandal empfunden wurde. Eines der bekanntesten Beispiele für den reformerischen Aufbruch boten die Arbeiterparteien und Gewerkschaften, die ebenfalls weltweit einen enormen Aufschwung erlebten – und aufgrund ihrer Revolutionsrhetorik vom Rest der Gesellschaft zumeist feindselig behandelt und abgewehrt wurden. Doch verloren die Revolutionsphantasien selbst im Arbeitermilieu an Boden, während der reformerische Aufbruch für die Arbeiterklasse immer einleuchtender wurde und den Ausbau des Sozialstaats beförderte.
Verbesserungen und Erfolge
Die Reformer waren keine realitätsfernen Träumer. Sie verbesserten konkret die Welt. Die Lebensdauer stieg in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg massiv an, und die Kindersterblichkeit sank mancherorts um die Hälfte. Gerade den Ärmsten kamen die Neuerungen zugute. Die Zeit setzte neue Standards für die „soziale Frage“, für den Körper, das Wohlergehen des Individuums, für die Ästhetik. Ein zentrales Reformfeld, gerade auch für Frauenrechtlerinnen, bildete der Arbeitsschutz, der ein neues Verständnis von der Würde des Menschen signalisierte. 1897 wurde in Berlin unter intensiver Mitarbeit von Frauen die katholische Caritas gegründet, die nun – wie bereits die evangelischen Kirchen mit der „Diakonie“ – tatkräftig dazu beitrug, die Armenhilfe zu professionalisieren. Diese Reformkräfte aus allen Lagern der Gesellschaft trugen zur Installierung des Sozialstaates bei, eines Pfeilers der modernen Demokratie. Sozialreformerinnen wie Alice Salomon (1872–1948), Anna von Gierke (1874–1943), Hedwig Dransfeld (1871–1925) oder Anna Pappritz (1861–1930) schufen in diesen Jahren die Grundlagen der Sozialen Arbeit.
Unter dem Staatssekretär des Innern, Arthur von Posadowsky-Wehner (1845–1932), erfuhr im Deutschen Reich auch die Sozialpolitik eine Blütezeit. Gesetze legten den Zehnstundentag und die Sonntagsruhe fest. Die Kinder- und Jugendarbeit geriet in die Kritik, wurde von zivilgesellschaftlichen Gruppen laut angeprangert und nahm massiv ab. Die Reallöhne auch der Ärmsten stiegen an, die Menschen lebten besser als zuvor, viele konnten sich Sonntagskleidung leisten. Zwar litten Arme immer wieder Not, die Wohnverhältnisse waren nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten oft bedrückend und Arbeitslosigkeit blieb trotz des in Deutschland gut ausgebauten Versicherungssystems ein Risikofaktor für die Familien. Aber Hungersnöte, wie sie fünfzig Jahre zuvor noch in Europa grassiert hatten, waren undenkbar geworden.
Mobilität
Auch die Technik trug zum Schutz der Menschen bei. Schwere Maschinen ersetzten vielfach die männliche Arbeitskraft, und die Elektrifizierung erleichterte den Alltag der Menschen. Das wachsende Eisenbahnnetz und Autos ermöglichten eine ganz neue Mobilität. Vor allem aber eröffnete das Fahrrad in allen Schichten bislang ungeahnte Freiheiten. Die amerikanische Aktivistin Susan B. Anthony (1820–1906) wurde damit zitiert, dass das Rad mehr zur Emanzipation der Frauen beigetragen habe als alles andere in der Welt.
Reaktionäre Tendenzen
Die Zeit vor dem Weltkrieg hatte gleichwohl ihre schrecklichen, dunklen Seiten. Reaktionäre Frauen und Männer engagierten sich in Vereinen für den Kolonialismus, der in dieser Zeit einen Höhepunkt erfuhr und vielfach geradezu eine Terrorherrschaft auf anderen Kontinenten errichtete. Rassismus entwickelte sich zu einem der ersten globalen Phänomene und weltweit wurde die Forderung nach besseren Lebensverhältnissen und Volksgesundheit immer wieder mit eugenischen und rassistischen Überlegungen gekoppelt. Antisemitismus grassierte in ganz Europa wie ein Krebsgeschwür. In Vereinigungen wie dem Alldeutschen Verband paarte sich die Begeisterung für Kolonialismus mit Rassismus und einem nationalistischen Militarismus.
Die Würde der Vielen
Viele Intellektuelle wie der Franzose Gustave Le Bon (1841–1931) sprachen von der Zeit der Massen und klagten über die Dekadenz der Kultur. Doch die meisten Denker sahen die Dinge nüchtern. Typisch war die Haltung des Historikers Otto Hintze (1861–1940), der die „fortschreitende Befreiung der Massen“ für eine der grundlegenden Entwicklungen in der Geschichte hielt. Tatsächlich betrat damals die Mehrheit der Menschen die politische Bühne – ein ungeheurer Vorgang. Zumeist wurden die neuen Akteure respektvoll als Klasse, Nation oder Volk bezeichnet. Die organisatorische und politische Grundlage dieser Massenpolitisierung bildete im nordatlantischen Raum ein weites Wahlrecht. In den Jahren um 1870 installierten Staaten wie das Deutsche Reich oder die USA ein allgemeines und gleiches Männerwahlrecht, andere Staaten wie Großbritannien erweiterten immerhin den Kreis der Wahlberechtigten, in Frankreich wurde die Dritte Republik gegründet. Um 1900 führten zahlreiche dieser Staaten Reformen der Wahltechniken durch, die dafür sorgten, dass die Geheimhaltung der Wahl – und damit die freie Partizipation – garantiert wurde. Das Massenwahlrecht trug zum Aufschwung der Parteien bei, die in den mächtigen Parlamenten das politische Geschehen bestimmten. Abgeordnete konnten – wie im Reichstag in Berlin der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger oder der Sozialist Karl Liebknecht – mit feurigen Ansprachen zu Volkshelden werden; die Reden wurden vielfach abgedruckt und in Kneipen und Salons diskutiert. Die neue Würde der Vielen, um die es einem Großteil der Reformkräfte ging, war also aufs Engste mit politischen Reformen verbunden.
Optimistische Aussichten
Die Sozialdemokratie war stolz auf das Erreichte und sah hoffnungsfroh in die Zukunft. In ihrem Zentralorgan „Vorwärts“ hieß es 1899 am Vorabend des neuen Jahrhunderts: „Es ist der bleibende Ruhm des neunzehnten Jahrhunderts, die Kultur der Menschen auf feste Füße gestellt zu haben“, durch die Industrialisierung seien die „Massen selbst zu den entscheidenden Trägern der menschlichen Kultur geworden“. Aber auch im Bürgertum herrschte Kulturoptimismus. Die Berliner Illustrirte Zeitung verkündete in einer „Bilanz des Jahrhunderts“ 1898/1899, die Gründung des Deutschen Reichs gelte für die große Mehrheit der Leserschaft als das größte historische Ereignis und die Gegenwart als die beste Zeit überhaupt.
Besonderen Grund zum Optimismus hatten die Frauen. Sie arbeiteten in Wohlfahrtsverbänden und Reformvereinen mit, aber sie organisierten sich auch im Kampf um Frauenrechte, für bessere Bildung, gegen den Gender Pay Gap. Ein weites Spektrum an bürgerlichen und sozialistischen Frauen kämpfte für das Stimmrecht. Wie fast alle Reformbewegungen griff auch dieses Engagement weit über die nationalen Grenzen hinaus. 1904 fand in Berlin der Internationale Frauenkongress statt, den einige der wichtigsten Feministinnen aus den USA, Deutschland oder Großbritannien zum Anlass nahmen, um die „International Woman Suffrage Alliance“ zu gründen, der erste internationale Zusammenschluss für den Kampf um das Frauenwahlrecht.
Viele der Grundlagen unserer heutigen Demokratie nahmen also im Kaiserreich ihren Anfang: die Politisierung der Massen, eine aufblühende Zivilgesellschaft mit Vereinen und Lobbyarbeit, die Anfänge des Sozialstaates, erstarkte Parteien in einem mächtigen Parlament, ein weites Wahlrecht, dessen Ausdehnung auf die Frauen vehement eingefordert wurde – und damit zu einer der größten Freiheitsbewegungen der Menschheit überhaupt beitrug: der Emanzipation der Frau.