> Erster Weltkrieg

Innenpolitik

Schon vor dem Ersten Weltkrieg standen das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht in Preußen und die Forderung nach einer Parlamentarisierung des Reichs im Zentrum der innenpolitischen Auseinandersetzung. Mit dem zu Kriegsbeginn verkündeten Burgfrieden sollte auch die Lösung dieser drängenden Probleme auf die Zeit nach Kriegsende vertagt werden. Doch als sich der Krieg immer länger hinzog und als insbesondere den von der politischen Macht ausgeschlossenen Bevölkerungsschichten immer größere Opfer abverlangt wurden, brachen die politischen Gegensätze um so schärfer hervor.

Der Beginn des Krieges

Nach der russischen Mobilmachung vom 31. Juli 1914 verfestigte sich in der deutschen Öffentlichkeit die Vorstellung, dem Deutschen Reich werde ein Krieg aufgezwungen und die ganze Nation müsse nun fester als jemals zuvor zusammenstehen. Die patriotische Aufbruchsstimmung reichte bis in die Reihen der oppositionellen SPD, die - trotz ihrer Vorbehalte - den Kriegskrediten in der Reichstagssitzung vom 4. August geschlossen zustimmte. Mit dem Satz "Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur noch Deutsche" bekundete Kaiser Wilhelm II. seine Absicht zum Bruch mit der bisherigen Regierungspolitik.

Der Kriegsbeginn änderte die Rahmenbedingungen für die deutsche Innenpolitik grundlegend. Mit der Verhängung des Belagerungszustands waren die Militärbefehlshaber nun für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung ebenso zuständig wie für die Überwachung der Pressezensur. Der Reichstag verabschiedete ein "Ermächtigungsgesetz" und verzichtete damit aus eigenem Antrieb auf seine politischen Mitgestaltungsrechte. Das Recht, den Kriegskrediten zuzustimmen, übertrug der Reichstag dem Haushaltsausschuss und vertagte sich bis Kriegsende. Während die Bedeutung der politischen Parteien erheblich eingeschränkt war, griffen nationalistische Gruppierungen wie der Alldeutsche Verband, der Kolonialverein und der Deutsche Flottenverein immer offener in die Innenpolitik ein.

Da der amtierende Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg kein zu konsequenter Gestaltung fähiger Politiker war und Wilhelm II. sich nach seinen politischen Ungeschicklichkeiten aus der Vorkriegszeit auf die Rolle eines "Schattenkaisers" beschränkte, drängte die Oberste Heeresleitung (OHL) in das machtpolitische Vakuum. Mit der Übernahme der OHL durch Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff verlagerte sich das politische Schwergewicht endgültig von den zivilen auf die militärischen Entscheidungsträger. Um immer mehr Menschen und Material für den "totalen Krieg" bereitstellen zu können, forderte insbesondere Ludendorff diktatorische Vollmachten. Weit über das Hilfsdienstgesetz von 1916 hinausgehend, griffen die militärischen Stellen mit fortschreitender Kriegsdauer immer tiefer in das Alltagsleben der Bevölkerung ein. Die Militärs reglementierten die Wirtschaftspolitik und Rüstungsproduktion mit unzähligen Anordnungen, ohne jedoch den Schleichhandel wirksam eindämmen oder die Folgen der englischen Seeblockade nachhaltig abmildern zu können. Mit der wachsenden Diskrepanz zwischen utopisch weitgehenden Kriegszielen auf der einen und der sich dramatisch verschlechternden Lebensmittelversorgung auf der anderen Seite wuchsen auch Unzufriedenheit und Kritik am Krieg.

Annexionsgelüste und Friedenssehnsucht

Die Reichsregierung vermied zwar jede öffentliche Festlegung ihrer Kriegsziele, aber schon 1914 war Bethmann Hollweg in seinem September-Programm von Annexionen ausgegangen. Während die annexionslüsterne Rechte viel ausgreifendere Gebietserweiterungen im Osten und Westen forderte, wünschte insbesondere der linke Flügel der SPD einen schnellen Verständigungsfrieden. Da trotz ungeheuer hoher Opferzahlen in den Materialschlachten keine kriegsentscheidende Schlacht gewonnen wurde, wuchsen die Zweifel an einem deutschen Sieg. Mit den Stimmen der Fortschrittlichen Volkspartei, des Zentrums sowie der SPD und der Nationalliberalen Partei wurde 1916 im Reichstag ein ständiger Hauptausschuss eingerichtet, in dem die Mehrheitsparteien über Kriegsziele und Kriegspolitik berieten. Als nach der russischen Februarrevolution und dem Sturz des Zaren Nikolaus II. ein entscheidender Grund für die Kriegsunterstützung der Sozialdemokraten hinfällig war, verstärkten sich die Spannungen zwischen der Parteiführung und dem linken Flügel, der sich im April 1917 als Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) mit 20 Reichstagsabgeordneten von der SPD abspaltete. Um die immer nachdrücklicher vorgetragene Forderung nach Reformen abzufedern, stellte Wilhelm II. in seiner Osterbotschaft eine Reform des preußischen Wahlrechts in Aussicht. Während sich das von den Konservativen beherrschte Preußische Abgeordnetenhaus jeglicher Reformabsicht widersetzte, kam es in Berlin und Leipzig zu ersten Massenstreiks, bei denen sich die Forderung nach dem gleichen und geheimen Wahlrecht in allen Bundesstaaten mit der Forderung nach einem Frieden ohne Annexionen verband.

Auf Initiative des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger, der sich zwischenzeitlich zum scharfen Kritiker des deutschen U-Boot-Kriegs entwickelt hatte, gründeten die Mehrheitsparteien den Interfraktionellen Ausschuss, der eine Friedensresolution des Reichstags vorbereitete. Bethmann Hollweg hielt eine solche Resolution zwar für inopportun, erwirkte aber dennoch beim Kaiser die Erlaubnis, ihr zustimmen zu dürfen. Hindenburg und Ludendorff sahen jedoch ihre Kriegspolitik durchkreuzt und setzten bei Wilhelm II. ultimativ die Entlassung von Bethmann Hollweg durch. Auf Drängen der OHL wurde Georg Michaelis neuer Reichskanzler. Michaelis, der sich stärker dem Kaiser und der OHL als dem Reichstag verantwortlich fühlte, verweigerte die Umsetzung der Friedensresolution vom 19. Juli und griff wenig später eine päpstliche Friedensinitiative nur halbherzig auf.

Als Reaktion auf die Friedensresolution des Reichstags gründeten die Gegner eines Verständigungsfriedens im September 1917 unter Führung von Alfred von Tirpitz und Wolfgang Kapp die Deutsche Vaterlandspartei, die als "nationale Sammlungsbewegung" einen "Siegfrieden" mit weitgreifenden Annexionen propagierte und innenpolitische Reformen strikt ablehnte.

Innenpolitische Reformen

Nach der russischen Oktoberrevolution und dem wenig später erfolgten Waffenstillstand mit Rußland bekamen die Verfechter raumgreifender Annexionen zwar starken Auftrieb, doch als die deutscherseits mit diktatorischer Härte geführten Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk sich über zwei Monate hinzogen und aller Welt vor Augen führten, in welchem Umfang das Deutsche Reich seine Hegemonialstellung auf dem europäischen Kontinent auszubauen gedachte, organisierten USPD-nahe Revolutionäre Obleute im Januar 1918 Proteste und Streiks, die vor dem Hintergrund der miserablen Ernährungslage massenhaft Zulauf fanden. Zugleich verstärkte der noch weiter links stehende Spartakusbund mit seiner radikalen Propaganda die Furcht vor Revolution und Bolschewismus. Mit ihrer Teilnahme an den Streiks konnten führende SPD-Politiker wie Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann zwar die Situation politisch entschärfen, aber sie handelten sich dafür den Vorwurf der Sabotage gegen das kämpfende Heer ein.

Nach dem Scheitern der deutschen Frühjahrsoffensiven im Westen und der erfolgreichen Gegenoffensive der Alliierten musste die OHL schließlich Ende September - entgegen der sich bis zuletzt siegessicher gebenden amtlichen Propaganda - die deutsche Niederlage eingestehen. Nun verlangte Ludendorff kategorisch ein sofortiges Waffenstillstandsgesuch auf Basis des 14-Punkte-Programms des US-Präsidenten Woodrow Wilson und eine Parlamentarisierung des Deutschen Reichs auf dem Wege einer "Revolution von oben". Am 3. Oktober ernannte Wilhelm II. den Prinzen Max von Baden zum neuen Reichskanzler. Dessen "Kabinett der neuen Männer" war zwar die erste demokratisch legitimierte Reichsregierung in Deutschland, doch diese Reform ging den amerikanischen Verhandlungsführern noch nicht weit genug. Der Entlassung Ludendorffs folgte die Verabschiedung der Oktoberreformen, mit denen das bis dahin autokratisch regierte Deutsche Reich verfassungsrechtlich auf eine parlamentarische Grundlage gestellt wurde. Dennoch blieben diese erfolgreichen Reformen in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Sie wurden überlagert vom Ruf nach Frieden und nach der Abdankung des Kaisers. Innerhalb weniger Tage entwickelte sich so der Kieler Matrosenaufstand zur Novemberrevolution.

Burkhard Asmuss
8. Juni 2011

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