> Kaiserreich > Antisemitismus

Die "Antisemiten-Petition"

Während der anhaltenden Wirtschaftskrise Mitte der 1870er Jahre kamen im Kaiserreich vermehrt antisemitische Stimmen auf, die Juden die Schuld an der desolaten wirtschaftlichen Entwicklung gaben und sich gegen ihre rechtliche und soziale Gleichstellung wandten. Die zunächst noch lose auftretenden antisemitischen Agitatoren vertraten dabei nicht mehr nur einen rein religiösen Antisemitismus, sondern begründeten ihre Judenfeindschaft zunehmend rassistisch. Die Gründung der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei durch den Berliner Hofprediger Adolf Stoecker 1878 stellte eine erste organisatorische Formierung der zersplitterten antisemitischen Bewegung dar. Es folgten weitere antisemitische Parteien, deren politische Einflussnahme jedoch zunächst begrenzt blieb. Einen anderen Weg schlugen daher der Berliner Gymnasiallehrer Bernhard Förster (1843-1889) und der Publizist Max Liebermann von Sonnenberg ein. Sie hofften, mit einer großangelegten Unterschriftenaktion eine breite öffentliche Aufmerksamkeit für ihre antisemitischen Ziele zu erreichen. Nach Artikel 23 der Reichsverfassung hatte jeder volljährige Bürger das Grundrecht, sich einzeln oder gemeinsam mit Eingaben an die obersten Behörden zu wenden.

 

In der von Förster und Sonnenberg verfassten "Antisemiten-Petition" forderten sie die deutliche Einschränkung der 1871 in der Verfassung des Deutschen Reiches festgelegten verfassungsrechtlichen Gleichstellung der Juden. Wie auch andere Agitatoren sahen sie in der jüdischen Bevölkerung eine zerstörerische Gefahr, eine Bedrohung für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und nationale Entwicklung des deutschen Volkes. Die Petition enthielt vier zentrale Punkte:

1. Die gesetzliche Begrenzung der Einwanderung ausländischer Juden nach Deutschland.
2. Ihren Ausschluss von allen Regierungsämtern und die Beschränkung der Anzahl jüdischer Richter.
3. Ein vollständiges Beschäftigungsverbot jüdischer Lehrer an den Volksschulen und die Einschränkung der Zahl jüdischer Lehrer an den höheren Schulen.
4. Die Wiedereinführung der konfessionellen Statistiken für die jüdische Bevölkerung.

Damit stellte die Petition die Forderung, die erreichte verfassungsrechtliche Emanzipation und gesellschaftliche Assimilation der Juden im Deutschen Reich nahezu aufzuheben.

Um zunächst eine größere Beachtung zu erreichen, sammelte Bernhard Förster im Frühjahr und Sommer 1880 Unterschriften hochrangiger Persönlichkeiten, die dem Begleitschreiben beigelegt werden sollten. Zu den Erstunterzeichnern gehörten neben Liebermann von Sonnenberg und Förster auch die bekannten Antisemiten Adolf Stoecker, Ernst Henrici (1854-1915) sowie der Chemnitzer Verleger Ernst Schmeitzner (1851-1895). Darüber hinaus signierten zahlreiche Lehrer, Kaufleute, Rechtsanwälte, Professoren und Honoratioren die Petition, unter ihnen der Komponist und Dirigent Hans Guido Freiherr von Bülow (1830-1894) sowie der Leipziger Physik- und Astronomieprofessor Friedrich Zöllner (1834-1882).

Die zweite Phase begann im Herbst 1880 mit der eigentlichen deutschlandweiten Unterschriftensammlung. Nach Angaben der Initiatoren unterzeichneten etwa 250.000 wahlberechtigte Bürger die Petition. Gegner der Petition erklärten hingegen, dass nicht alle Unterschriften rechtmäßig abgegeben, sondern teilweise die Listen durch Abschreiben aus Adressbüchern gefüllt wurden. Ein Großteil der Unterschriften wurde dabei in Schlesien (ca. 54.000), Brandenburg (ca. 38.000) und Westfalen (ca. 27.000) gesammelt, während in Nord- und Süddeutschland die Resonanz weitgehend gering ausfiel. In Bayern erklärten sich lediglich etwa 9.000 Menschen zur Unterschriftenabgabe bereit. Vor allem an den Universitäten erhielt die Petition viel Zuspruch. Unter den Unterzeichnenden befanden sich mit etwa 4.000 Studenten fast 18 Prozent aller Studierenden. Insbesondere in Berlin und Leipzig kam es zu einer starken Mobilisierung der Studentenschaft, maßgeblich gefördert vom konservativ-preußischen Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896). Obwohl Treitschke die "Antisemiten-Petition" wohlwollend befürwortete, unterzeichnete er sie nicht. Vielmehr ermutigte er seine Studenten, die um einen speziell für Studenten gerichtete Zusatz erweiterte Petition zu unterschreiben.

Der Althistoriker Theodor Mommsen wendete sich gegen diese Politisierung und Instrumentalisierung der Studentenschaft. Im "Berliner Antisemitismusstreit" konterte Mommsen immer wieder die antisemitischen Positionen Treitschkes, der schließlich innerhalb der Berliner Professorenschaft eine Außenseiterposition einnahm. Mommsen unterstützte auch eine Gegenpetition, die am 12. November 1880 in Berlin veröffentlicht wurde. Die Schrift war ein Plädoyer für Bekenntnisfreiheit, Gleichheit und Toleranz, sie sprach sich gegen die in der "Antisemiten-Petition" geforderte Ausgrenzung der Juden aus und befürwortete die freie und liberale Gesellschaft. Neben Mommsen schlossen sich zahlreiche weitere berühmte Personen aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft an, unter anderem der Mediziner Rudolf Virchow, der Direktor der Deutschen Bank Georg von Siemens, der Erfinder und Elektroingenieur Werner von Siemens und der Berliner Bürgermeister Maximilian von Forckenbeck (1821-1892). Aber auch unter den Studenten regte sich Widerstand. In Göttingen organisierte Ludwig Quidde, der kurz vor dem Abschluss seines Mediävistikstudiums stand, eine Protestveranstaltung gegen die Aktion.

Im April 1881 wurde die Petition mit den in 26 Bänden gesammelten Unterschriftenlisten dem Reichskanzleramt übergeben. Reichskanzler Otto von Bismarck ignorierte allerdings die Eingabe und ließ sie unbeantwortet. Für die Politik der Reichsregierung blieb sie weitgehend folgenlos. Dem Initiator Max Liebermann von Sonnenberg verschaffte sie aber deutschlandweite Popularität. Im Zusammenhang mit der Agitation für die "Antisemiten-Petition" kam es im westpommerischen Neustettin zu gewaltsamen Ausschreitungen: Einige Tage nach einer Rede Ernst Henricis im Februar 1881 brannte die städtische Synagoge und es kam zu judenfeindlichen Krawallen. Die erstaunliche Anzahl von einer viertel Million Unterstützer ermutigte die Antisemiten, zahlreiche neue Parteien zu gründen, die allerdings erst bei der Reichstagswahl 1890 und 1893 deutliche Wahlerfolge erzielen konnten.

Johannes Leicht, Arnulf Scriba
7. Juli 2021

 

lo