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Die Neue Frau

Der industriellen und technologischen Revolution schloss sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Umgestaltung der Gesellschaft an. Ausdruck des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses im Kaiserreich war auch ein verändertes Rollenverständnis der Geschlechter. Viele Frauen organisierten sich verstärkt innerhalb der Frauenbewegung für das Erlangen von politischen, sozialen und zivilen Bürgerrechten. Auf kultureller Ebene thematisierte zunächst die Literatur die neue Frauenrolle und ihr Auftreten in der Öffentlichkeit. In Romanen von Schriftstellerinnen der Jahrhundertwende wurde der Typus der Neuen Frau zuerst vorgestellt, die als Protagonistin ihr Leben selbstständig und selbstbewusst in die Hand nahm, um es aktiv zu gestalten. In der traditionsbewussten Gesellschaft des Kaiserreichs waren diese modernen Ideen allerdings nur von einer sehr geringen Zahl von Frauen umsetzbar.

Der Erste Weltkrieg bedeutete für viele Frauen im politischen und sozialen Sinn eine einschneidende Zäsur. Frauen übernahmen neue Aufgaben in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt. Bedingt durch die Abwesenheit der Männer an der Front fand zumindest in Großstädten bei einer Vielzahl von Frauen ein grundlegender Wandel der sexuellen Moral statt. Nach dem Ende des Krieges machte die um sich greifende Aufbruchstimmung nicht vor den Türen privater Häuser Halt: Die Zahl der Ehescheidungen nahm 1919 sprunghaft zu. Betroffen davon waren überproportional häufig die übereilt geschlossenen Ehen während des Krieges. Aber auch viele Langverheiratete hatten sich durch das hinziehende Getrenntsein emotional voneinander distanziert.

Nach Kriegsende 1918 und der Rückkehr der Frontsoldaten wurde die Mehrzahl der Frauen aus dem öffentlichen Leben wieder zurückgedrängt. Mit der Einführung des Wahlrechts für Frauen zu Beginn der Weimarer Republik erfüllte sich aber eine von der Frauenbewegung seit langem aufgestellte politische Hauptforderung. Auch im Alltagsbereich boten sich in den 20er Jahren für eine kleine Gruppe von jungen und ungebundenen Frauen neue Möglichkeiten zu bisher unvorstellbaren Lebensplanungen. Veränderte Moralvorstellungen und ein neues weibliches Selbstverständnis boten die Grundlagen für das Erscheinen der sogenannten Neuen Frau im städtischen Alltag.

Eine kleine, elitäre Gruppe der weiblichen Bevölkerung, zumeist um die Jahrhundertwende geborene Akademikerinnen, Journalistinnen, Schriftstellerinnen, Tänzerinnen oder Künstlerinnen, waren die Protagonistinnen der Neuen Frau. Vor allem in den Großstädten ansässig, brachen sie mit dem traditionellen weiblichen Lebensstil ihrer Mütter, lebten und wirkten jenseits der konventionellen Auffassung von Ehe und weiblichem Bezugsfeld. Vielmehr wollten sie einen Beruf ausüben und in einer "ebenbürtigen Beziehung" leben, was aber keinesfalls die Institution der Ehe oder den Wunsch nach Familie ausschloss. Das Frauenbild der radikalen Frauenbewegung, welches sich auch fundamental von den alten Konventionen unterschied, lehnte die Neue Frau als altmodisch ab. Ihr Frauenbild streifte vielmehr den Nimbus des Politischen ab und fokussierte sich auf die kulturelle Selbstdarstellung und auf ein neues Selbstverständnis der Frau in der Weimarer Republik.

Häufig entstammte die Neue Frau großbürgerlichen oder adeligen Kreisen. Nur sie hatten die finanziellen Möglichkeiten, einen normabweichenden Lebensstil zu führen und an dem uneingeschränkten Konsum der neuesten Mode sowie an Kultur, Unterhaltung und Freizeit teilzunehmen. Häufig übten sie moderne, aus dem angloamerikanischen Raum eingeführte Sportarten wie Tennis oder Golf aus, drangen so auch beim Sport in männliche Domänen ein und entwickelten ein neues Selbstverständnis zu ihrem Körper. Das Image der Neuen Frau wirkte aber auch jenseits der gebildeten Elite. Es waren zumeist die weiblichen Angestellten, die sogenannten Tippmamsells, die den Trendsetterinnen nachzueifern trachteten. Die Werbung, Romane wie "Stud. chem. Helene Wilfüer" von Vicki Baum und vor allem Zeitschriften wie "Die Dame" oder "Elegante Welt" brachten das Bild der Neuen Frau in die Öffentlichkeit. Bubikopf, Zigaretten aufgesteckt im Spitz und knielange Röcke wurden vor allem in den "Goldenen Zwanzigern" zu den Modeerscheinungen einer neuartigen Massenkultur. Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 und ihrer sozialen Folgen verlor das Image der selbstständigen und unabhängigen Neuen Frau jedoch zunehmend an Glanz. Als kulturelles und konsumorientiertes Phänomen verschwand es ebenso schnell aus dem Alltag, wie es aufkam.

Susanne Herzog
14. September 2014

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