„Jeder gute Film ist Kulturfilm“ behauptet 1924 der Filmemacher Richard Oswald (1880-1963) in seinem Beitrag im „Kulturfilmbuch“, einem von Edgar Beyfuss (1893-1936), Mitbegründer der Kulturfilmabteilung der UFA, und Alex Kossowsky (1889-1975), Direktor von Kosso-Film, herausgegebenen Sammelband, der einen Überblick über die Geschichte und den Status dieses Genres des meist nichtfiktionalen Films geben sollte. Der Begriff Kulturfilm umfasst Filme, die heute als Dokumentarfilme, aber auch solche, die heute eher als Spielfilme bezeichnet werden würden.
Genese des Kulturfilms
Der Kulturfilm hat seine historischen Wurzeln im Propagandafilm, der während des Ersten Weltkriegs aufblühte, nachdem man festgestellt hatte, wie hervorragend sich das neue Medium des Bewegtbildes eignete, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. Kein Wunder also, dass die UFA am 1. Juli 1918, noch während des Ersten Weltkriegs im Auftrag des Deutschen Reichs eine Kulturfilmabteilung gründete und das Kino in den Dienst der „nationalen Sache“ stellte. Diese Gründung erscheint als eine plausible Reaktion auf zwei Interessengruppen, die sich in Deutschland um die damals neue Kunstform entwickelten: Die wachsende Kinoindustrie mit ihren kommerziellen Zielen und die Kinoreformbewegung, die vor allem auf Volkserziehung abzielte. Der Kulturfilm sollte letztlich wie eine Art Bildungsroman fungieren, also die Zuschauer und Zuschauerinnen erziehen und zu einer „Daseinssteigerung“ führen. Gleichzeitig war er auch ein Instrument der Diplomatie: Mit der Exportware Film versuchte die Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg ihr Ansehen im Ausland zu verbessern. Gerade die Schweiz, die Tschechoslowakei, die Niederlande und Spanien waren große Abnehmerinnen der deutschen Produktionen. Erfolge der UFA aus dem Jahr 1919 sind beispielsweise „Krüppelnot und Krüppelhilfe“ oder „Behandlung von Kriegsversehrten. Die Wirkung der Hungerblockage auf die Volksgesundheit“. Ab Beginn der 1920er Jahre verlor der Kulturfilm seine national-propagandistische Tendenz zugunsten einer allgemein konservativen Volkserziehung, die keine Gesellschaftskritik an den bestehenden Verhältnissen zuließ.
Produktion und Distribution
Um die Erziehung der Gesellschaft zu gewährleisten, entstanden unterschiedliche Arbeitsgruppen der UFA zu Themen wie Geschichte, Geografie und Militär bis hin zu Sport, Gewerbe und Verkehr. Zunächst produziert man sowohl Filme für die Lichtspielhäuser als auch Lehrfilme für Universitäten und Schulen. Sie wurden sowohl als Kurzfilm als auch als Langfilm hergestellt. Als im Zuge der Inflation 1923 die Nachfrage nach Kulturfilmen, vor allem kürzeren, sank, entschied man sich dazu, Steuervergünstigungen für Vorstellungen mit Kulturfilmen einzusetzen, um die Nachfrage anzukurbeln. Begründet wurde diese Vergünstigung auch mit dem volksbildenden Charakter der Kulturfilme. Neben der UFA produzierten auch die Filmproduktionsfirmen Deulig, Emelka, Terra und Tobis sowie kleinere Unternehmen Kulturfilme, die wie die UFA-Filme der staatlichen Filmzensur vorgelegt werden mussten.
Ästhetik und Fallbeispiele
Anspruch an die Filme ist der des antiken Dichters Horaz geprägte Leitspruch „prodesse et delectare“, sie sollten nutzen und erfreuen, ganz gleich, wie ihre Zugänge zur Realität ausgeprägt waren. So rief man den Kulturfilm aus, zu dem 1924 auch das eingangs erwähnte Buch erschien – in dem aber keine Kritiker und Kritikerinnen oder Theoretiker und Theoretikerinnen das Wort erheben, sondern vor allem Filmschaffende selbst, Unternehmer und Funktionäre. Das Buch stellt Ansätze vor, weist aber keine Hinweise zu einem Diskurs auf, was eigentlich genau den nichtfiktionalen Zugriff des Kulturfilms ausmacht. Der Band setzt sich vielmehr zum Ziel, den Kulturfilm in Opposition zum sogenannten Schundfilm als Bildungsmedium zu etablieren.
Zwei Beispiele aus dem Jahr 1925 verdeutlichen, in welchem ästhetischen und konzeptionellen Spannungsfeld sich die unter dem Begriff Kulturfilm laufenden Arbeiten befinden: „Wege zu Kraft und Schönheit“ (Regie: Wilhelm Prager; 1876-1955) entstand im Kontext einer sich neu ausbildenden Körperkultur im Deutschen Reich und stellte Sport als eine dem Körper und Geist zuträgliche Freizeitbeschäftigung in den Mittelpunkt. Der Film inszenierte die zeitgenössische, moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft einer Großstadt als wenig erstrebenswertes Gegenstück zur hoch entwickelten, körperbewussten und betonten Gesellschaft der Antike. Gestalterisch mischte der Film seine Zugriffe, um für ein neues Körperverständnis zu argumentieren: Fiktional markierte, kleine Geschichten wechseln sich mit Kurzporträts über körperlich sich ertüchtigende Bürgerinnen und Bürger ab, ausführliche Texttafeln mit fein komponierten Ansichten sich symmetrisch und rhythmisch bewegender Sportlerinnen und Sportler. So entwickelte der Film einen didaktischen Ton mit appellativem Charakter, der wenig mit einem heutigen Dokumentarfilm gemein hat. Siegfried Kracauer (1889-1966) bezeichnete Pragers Werk in der Frankfurter Zeitung gar als „Werbefilm großen Stils“.
„Geheimnisse einer Seele“ (Regie: G. W. Pabst) wiederum entstand im Kontext des – mit der Popularisierung der Psychoanalyse einhergehenden – zunehmenden Interesses an der menschlichen Psyche. Der Stummfilm wurde als Kulturfilm produziert, wies jedoch kaum Eigenschaften auf, die ihn von einem gängigen Spielfilm unterschieden. So schildert „Geheimnisse einer Seele“ die psychische Krise eines jungen Wissenschaftlers, der von seinen gewaltvollen Träumen verfolgt wird. Stilistisch hervorzuheben sind die dem expressionistischen Stummfilm entlehnten Trick- und Traumsequenzen.
Im Kulturfilm zielt die Mischung verschiedener Präsentationsformen fiktionaler und nonfiktionaler Natur nicht darauf ab, dokumentarisch-wahrhaftig gelesen zu werden, sondern das Publikum zu bilden. Die Fiktionale kann als das Beispiel gelten, das die These des Films plausibilisiert. Mit der Einführung des Tonfilms 1927 etabliert sich die erklärende und allwissende Stimme aus dem Off als beliebtes Gestaltungsmittel.
Insgesamt ist festzustellen, dass für den Kulturfilm keine klare Zielvorstellung definiert wurde, was konkret zur Bildung des Publikums beigetragen und vermittelt werden sollte. So konnten in den Produktionen künstlerische, geistige oder aufklärerische Aspekte überwiegen. Viele Filme standen an der Schnittstelle zwischen fiktionalen und faktualen (sich auf tatsächliche Geschehnisse beziehende) Darstellungen die unterschiedliche Ansprüche an ihren dokumentarischen Gehalt stellten.
Der Kulturfilm im Nationalsozialismus
Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 wurde die deutsche Filmproduktion in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt. Kulturfilme wurden durch Formen des nationalsozialistischen Propagandafilms ergänzt und beschränkten sich vor allem auf erklärende, weniger künstlich avancierte Macharten. Sie wurden in den Lichtspielhäusern weiterhin als Vorprogramm vor dem Hauptfilm gezeigt – nun aber verpflichtend.
Die Kulturfilme im Nationalsozialismus umfassten neben informativen, dokumentarischen Formen auch Werbefilme, die die heimische Industrie und ihre Unternehmen anpriesen und vorstellten. Sie nahmen damit eine Tendenz des Weimarer Kinos auf und verfolgten sie konsequent weiter. Zu den üblichen Sujets des Kulturfilms zwischen 1933 und 1945 zählten Reise- und Kolonialfilme, Deutschlandbilder, Filme zur Leibeserziehung und Industriefilme.
Weiterentwicklung
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte man zunächst die Kulturfilmtradition der UFA fort, auch wenn die sozialistische Propaganda in DEFA-Filmen stärker betont wurde, während die Filme aus den westlichen Besatzungszonen und später der Bundesrepublik unter anderem für den Marschallplan warben, ferne Länder präsentierten oder Kulturdenkmäler vorstellten.
Der Kulturfilm wurde mit dem Aufkommen des Fernsehens endgültig vom Dokumentarfilm abgelöst: Die von den westdeutschen Rundfunkanstalten produzierten journalistischen Filme übernahmen ab Ende der 1950er Jahre die Funktion als Leitmedium und somit die Aufgaben der Information und Bildung. In der DDR behielt man kurze dokumentarische Arbeiten als Vorfilm im Kino oft bei – wobei nun der Begriff Dokumentarfilm verwendet wurde.