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Walter Benjamin: Einbahnstraße

Die Sammlung philosophischer Fragmente von Walter Benjamin erschien 1928. Wenn Benjamin philosophische "Lesestücke" und Skizzen in nichts den klassifikatorisch-deduktiven Darstellungsformen ähneln, die die Philosophie der letzten Jahrhunderte entwickelt hat, so erklärt sich diese ironische Standhaftigkeit des Autors gegenüber den herkömmlichen "Prinzipien der Kunst, dicke Wälzer zu schreiben", nicht zuletzt aus einem ungewöhnlichen Begriff von "philosophischem Stil". Was darunter nach dem Untergang der idealistisch-diskursiven Systeme und in direktem Gegensatz zu ihnen zu verstehen sei und aus welchen stilistischen Postulaten er hervorgehe, hat der Autor im Einleitungskapitel seiner ebenfalls 1928 veröffentlichten Abhandlung über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" eindeutig formuliert: Es ist "die Kunst des Absetzens im Gegensatz zur Kette der Deduktion; . . . die Wiederholung der Motive im Gegensatz zum flachen Universalismus; die Fülle der gedrängten Positivität im Gegensatze zu neigender Polemik."

Diesen stilistischen Postulaten kommt die alte Form des Traktats entgegen. Dessen Formgesetz beschreibt ein Aphorismus der "Einbahnstraße" mit der Überschrift "Innenarchitektur" als das der "ornamentalen Dichtigkeit", in dem der "Unterschied von thematischen und exkursiven Ausführungen" aufgehoben sei: "Sein Äußeres ist unabgesetzt und unauffällig, der Fassade arabischer Bauten entsprechend, deren Gliederung erst im Hofe anhebt. So ist auch die gegliederte Struktur des Traktats von außen nicht wahrnehmbar, sondern eröffnet sich nur von innen." Diesem Formgesetz gehorchen auch die kleinen Prosastücke der "Einbahnstraße". Benjamin plante seit einem Aufsatz über Pariser Passagen - jene Durchbrüche und Querverbindungen zwischen parallel verlaufenden Straßenzügen und Häuserblocks - eine größere Arbeit, von der er jedoch lediglich einzelne Kapitel - darunter das Exposé "Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" - abschloß. Das gesamte fragmentarische Material wurde unter dem Titel "Das Passagen-Werk" 1982 veröffentlicht. Der Begriff der "Passage", die überraschende Durchblicke auf Vertrautes erlaubt, spielt in seiner Philosophie eine bildlich-bezeichnende Rolle. Die Fragmente, Skizzen und Aphorismen der "Einbahnstraße" mit Titeln wie "Tankstelle", "Frühstücksstube", "Nr. 113", "Normaluhr", "Tiefbauarbeiten", "Coiffeur für penible Damen", "Galanteriewaren", "Bürobedarf", "Maskengarderobe", Stehbierhalle", "Briefmarkenhandlung" usw. formieren sich - unter dem Oberbegriff der "Straße", des "Basars" - zu bildhaften Bruchstücken einer philosophischen Landschaft, in der Benjamins enger Freund Ernst Bloch, dessen 1930 veröffentlichte "Spuren" der "Einbahnstraße" nahestehen, den Typus einer "surrealistische Denkart", einer "Revueform in der Philosophie" verwirklicht sah: "Dieser Sprachstil hat jene Fülle von Verkopplungen gedanklich, welche von Max Ernst bis Jean Cocteau (1889-1963) den Surrealismus ausmacht. Die Verkopplung von Dort und nächstem Hier, von brütenden Mythen mit dem exaktesten Alltag."

Benjamins Vorliebe für die kruden, erstarrten, nur noch halb verständlichen, beinahe archaischen Restbestände von "Kultur", zumal jener des 19. Jh.s, wie sie Jahrmarkts- und Schießbudendekorationen, Banknotenornamente, Briefmarkenlandschaften, mechanische Spiegel- und Puppenkabinette, Modellierbilderbogen oder das "bürgerliche Pandämonium" orientalisch-üppiger, mit Palmen, Ottomanen, riesigen Büffets, kaukasischen Dolchen und milchig-weißen Ampeln bestückter Wohnungsinterieurs aufbewahren, entspricht seiner Neigung, "Leben" gerade dort aufzusuchen, wo ihm ein "Einschlag von Verwesung" beigemengt ist, "zum Zeichen, daß es aus Abgestorbenem sich zusammensetzt". Diese Neigung korrespondiert wiederum mit einem der zentralen Begriffe des Autors, den er im Trauerspielbuch und in späteren Schriften (z.B. in "Zentralpark") entfaltet, dem der - barocken - Allegorie: "Das von der allegorischen Intention Betroffene wird aus den Zusammenhängen des Lebens ausgesondert: es wird zerschlagen und konserviert zugleich. Die Allegorie hält an den Trümmern fest. Sie bietet das Bild der erstarrten Unruhe." Die krause Rätselhaftigkeit und klägliche Banalität solcher Szenerien, wie etwa der einer Schießbude, in deren Hintergrund sich, sobald der Besucher mit dem Gewehr ins Schwarze trifft, ein mit der Aufschrift "Les délices du mariage" versehenes Kästchen öffnet und Einblick in ein dürftiges Zimmer gewährt, indem ein junger Vater ein Kind auf den Knien hält und ein zweites in einer Wiege schaukelt, habe für Benjamin denselben Reiz wie für die Surrealisten (so fügt etwa André Breton (1896-1966) seinem ebenfalls 1928 veröffentlichten Roman "Nadja" eine Anzahl von Fotos bei, die zum großen Teil dieselben verstaubten "Stilleben" - Denkmäler des 19. Jh.s, Werbeplakate, Auszüge aus Kinderlesebüchern, Szenenfotos abstruser Schauerstücke usw. - zeigen).

Die materiale Dichte zahlreicher Abschnitte der Sammlung und die Konzentration des Autors auf signifikante Details, auf "Konfigurationen", in denen sich Elemente der "Urgeschichte der Moderne" verbergen, habe ihren bestimmten Sinn: Dem einzelnen wahrgenommenen Konkretum soll seine Bedeutung nicht gewaltsam entrissen werden, vielmehr sollen die Phänomene selbst reden. Der Bedeutungsbereich eines Gegenstands, seine "Aura", ist nicht definitorisch abschließbar, sondern nur durch wiederholte Umkreisung, durch "Passagen-Denken" (Ernst Bloch) zu "entfalten". So bestimmt Benjamin das Vermögen der Phantasie als die "Gabe, im unendlich Kleinen zu interpolieren, jeder Intensität als Extensivem ihre neue gedrängte Fülle zu erfinden, jedes Bild zu nehmen, als sei es das des zusammengefalteten Fächers, der erst in der Entfaltung Atem holt . . ." Ein charakteristisches und für die Richtung seines philosophischen Denkens bezeichnendes Beispiel gibt ein Aphorismus im Abschnitt "Reiseandenken": "Florenz Baptisterium. - Auf dem Portal die 'Spes' Andrea de Pisanos. Sie sitzt, und hilflos erhebt sie die Arme nach einer Frucht, die ihr unerreichbar bleibt. Dennoch ist sie geflügelt. Nichts ist wahrer." Der Begriff "Utopie", der auch im Zentrum des philosophischen Hauptwerks von Bloch, "Das Prinzip Hoffnung" (1954-1959), steht, erscheint hier in einem widerspruchsvollen-dialektischen Bild, das Benjamins spätere philosophische Entwicklung vorwegnimmt.

"Utopie" wird hier bereits, nach und im Gegensatz zu einer theologisch-eschatologischen, dem jüdischen Messianismus bestimmten Frühphase, unter dem Einfluß des historischen Materialismus, dem der Autor sich zugewendet hat, als "innerweltliche" Versöhnung gedacht und von ihren theologischen Voraussetzungen (als messianischer "Erlösung") emanzipiert. Wenn Benjamins Philosophie, die alle bündigen, losungsähnlichen Resultate verschmäht, eine Forderung erfüllt, so ist es die, die sein Freund Theodor W. Adorno in seinen "Minima Moralia" (1951) an alles dialektisch-kritische Denken richtet: "In einem philosophischen Text sollen alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen." (§ 44) Diese Forderung ist verbunden mit der nach "Abschaffung des Unterschieds von These und Argument", die Benjamin schon in der Beschreibung der Traktatform stellte und in den Fragmenten der "Einbahnstraße" verwirklichte.

(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München)

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