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Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter

Die gesammelten Reportagen von Egon Erwin Kisch erschienen 1925. Kischs Reportagebände "Der rasende Reporter" zeigen wie auch die "Hetzjagd durch die Zeit" (1926) und "Wagnisse in aller Welt" (1927) die für den deutschsprachigen Journalismus folgenreichen Ansätze einer kritischen Wirklichkeitsdarstellung. Seinen Reportagestil, der sich durch distanzierte Sachlichkeit auszeichnet, entwickelte Kisch 1906 bis 1913 als Lokalreporter in Prag. Neben denkwürdigen Ereignissen interessieren ihn vor allem Themen aus der Schattenwelt des Lumpenproletariats.

 

Im Vorwort zum "Rasenden Reporter", der seinen fast legendären Ruf begründete, stellt Kisch einen Katalog der Formen und Ziele seiner Berichterstattung zusammen: Er geht davon aus, dass der Reporter weder Künstler noch Politiker, sondern ein ganz "gewöhnlicher Mensch" ist, dessen Werk einzig "vermöge des Stoffes" wirkt. Nur der Wille zu nüchterner Sachlichkeit vermag die Gefahr einer subjektiven Entstellung der Realität zu unterdrücken. Für den Reporter gilt allein die Tugend der Objektivität, die keiner Rechtfertigung bedarf. "Er hat unbefangen Zeuge zu sein und unbefangene Zeugenschaft zu liefern." Die Abhängigkeit von festen Tatsachen und prüfbarem Material zwingt ihn zu untendenziöser Wiedergabe der Wahrheit. In einer Welt, "die von Lüge unermeßlich überschwemmt ist", zeigt Kisch, was es heißt, die kritisch erlebte Wirklichkeit in Gestalt unretouchierter Zeitaufnahmen zu fixieren. Objektivität aber bedeutet nicht Teilnahmslosigkeit, sondern vielmehr eine unparteiische Verpflichtung zum Menschlichen. Reportagen wie "Unter den Obdachlosen von Whitechapel, Generalversammlung der deutschen Schwerindustrie", "Wallfahrtsort für Kriegshetzer" und "Bürgerkrieg um die Festung Küstrin" nehmen einen doppelten Standort ein: einmal den des unbefangenen Zeitgenossen, zum anderen den des Streiters wider Krieg, Ausbeutung, Armut und Chauvinismus. Kisch versteht auch die Reportage als engagierte Kunst, als ein gesellschaftsveränderndes Kampfinstrument.

Gemeinsam ist den Reportagen der Zug zum Außergewöhnlichen. Ganz Europa ist Schauplatz der geschilderten Ereignisse. Kisch notiert mit knapper, aber erschöpfender Information einmalige Aktualitäten ("Spaziergang auf dem Meeresgrund", "Flug über Venedig"), berichtet von historischen Untersuchungen ("Nachforschungen nach Dürers Ahnen", "Dem Golem auf der Spur") und zeichnet mit Vorliebe ungewöhnliche Lokalitäten, wie die Hochschule für Taschenspieler, ein Leichenschauhaus und die Wohnung des Scharfrichters von Wien. Bisweilen verpackt er die nackte Information in fiktive Handlung ("Referat eines Verbrechers über die Polizeiausstellung") oder lockert den sachlichen Bericht mit trockenem Humor auf. In seinen Elendsberichten ("Mit Auswanderern durch Frankreich", "Bei den Heizern des Riesendampfers") verfremdet er die mitleiderregenden Einzelheiten durch kalte, jede Emotion erstickende Reihung und Häufung, denn die erschütternde Sprache der Fakten überzeugt weit stärker als deren gefühlsbetonte Ausdeutung ("Feldpost nach dem Sturm", "Die Mutter des Mörders und ein Reporter"). Kisch charakterisiert exakt Milieu, Idiom und Zeitkolorit; eine kaleidoskopartige, durch Tempo und Faktizität bestimmte Darstellungstechnik machte Kisch zum Reporter der Neuen Sachlichkeit und zum eigentlichen Begründer der literarischen Reportage. Zielen die Berichte im "Rasenden Reporter" noch auf die Sensationslust und das Amusement eines bürgerlichen Lesepublikums, so wandelt sich Kischs Wirkungsabsicht im Zuge der radikaler werdenden politischen Verhältnisse am Ende der Weimarer Republik. Ab 1927 ("Zaren", "Popen", "Bolschewiken", 1927; "Paradies Amerika", 1930) schrieb Kisch seine Reportagen als dezidiert marxistischer Publizist.

(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München)

wpc/Arnulf Scriba

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