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Urbane Gefühle

1903 schrieb der Berliner Soziologe und Philosoph Georg Simmel in einem Text über „die Großstädte und das Geistesleben“ von der breitflächigen Versachlichung und Rationalisierung sozialer Beziehungen im urbanen Raum. Sei das „Seelenleben“ in Kleinstädten und auf dem Land vom „Gemüt und gefühlsmäßigen Beziehungen“ geprägt, reagiere der Großstädter „statt mit dem Gemüte“ mit dem Verstand, nicht zuletzt deshalb, um sich vor den emotionalen Zumutungen der Urbanität zu schützen. Zu solchen Zumutungen zählte Simmel die rasante Beschleunigung, Multiperspektivität und Reizüberflutung, gegen die sich der Großstädter durch „Blasiertheit“ und Reserve wehre.

Simmels Diagnose wurde damals von vielen anderen Beobachtern geteilt. „Kühl bleiben, um jeden Preis“: So beschrieb ein Mediziner die typische Verhaltensanweisung des Großstadtmenschen, der die Tendenzen der Moderne am sichtbarsten verkörpere. Aber hat, kritische Gegenfrage, die moderne Urbanität tatsächlich primär versachlichend gewirkt? Hat sie nicht auch neue Gefühle und Leidenschaften kultiviert? Hat sie nicht, gerade durch ihre räumliche Verdichtung, durch die Vielfalt öffentlicher Arenen und eine entsprechende Infrastruktur, Gefühlen ein neues Forum gegeben? Und hat nicht gerade dieses Forum dazu beigetragen, dass der öffentliche Raum viel stärker von kraftvollen Emotionen bevölkert war, als man das von kleinräumigeren Lebensweisen kannte?

Politische Emotionen

Ein Beispiel wäre die Politik, die sich in Großstädten ganz neue Veranstaltungsformate und Kommunikationsformen schuf. Der politische „Massenmarkt“ (Hans Rosenberg), wie er mit der Verbreiterung des Wahlrechts und den Parlamentarisierungsprozessen des späten 19. Jahrhunderts entstand, produzierte Leidenschaften unerhörten Ausmaßes. Sie machten sich umso massiver Laut, je agonaler Politik wurde, je höher ihr Streitwert war und je mehr Menschen damit in Berührung kamen. Demokratische Partizipation und Emotionalisierung gingen Hand in Hand. Im Kampf um Zustimmung buchstabierten sich, wie die Früh- und Spätjahre der Weimarer Republik zeigten, die politischen Gegensätze und Feindschaften scharf und unversöhnlich aus. Das ließ sich an den Parlamentsdebatten, die in Zeitungen abgedruckt und kommentiert wurden, ebenso ablesen wie an der Straßenpolitik, die gerade in Großstädten an Bedeutung gewann und zunehmend gewaltsame Formen annahm. Auch in Kneipen war Politik ein Dauerthema, das jederzeit für hitzige Auseinandersetzungen gut war und die Gefühle zum Kochen brachte. Von Blasiertheit und Reserve war hier wenig zu spüren, und von den versachlichenden Tendenzen der modernen Großstadt auch nicht.

Vergnügungssucht der Großstadtmenschen

Aber nicht nur politische Gefühle fanden in großen Städten einen Resonanzraum. Auch höchst private Gefühle kamen hier auf andere, neue Weise zur Geltung. Bereits um 1900 war die sprichwörtliche Vergnügungssucht der Großstadtmenschen in aller Munde. Zahlreiche Restaurants, Bars, Cafés, Theater und Varietés luden zu „Amusement“ und „müßigem Zeitvertreib“ ein. In den 1920er Jahren entwickelten sich die Kinopaläste zu Anziehungspunkten, die nicht nur die „kleinen Ladenmädchen“ faszinierten. Selbst Geringverdiener ließen sich hier in andere Vorstellungswelten entführen. Man träumte von fernen Sehnsuchtsorten und schwärmte für ebenso unerreichbare Leinwandstars. Mädchen wollten nicht mehr Prinzessinnen werden, sondern so wie Greta Garbo sein.

Liebe und Sexualität

Auch die Liebe fühlte sich in Großstädten anders an. Der Markt war groß, und der Zufall spielte eine nicht unwichtige Rolle. Menschen, die einander früher nie begegnet wären, trafen in den urbanen Verdichtungszonen absichtslos aufeinander. Sie konnten ihre Beziehung sehr viel unbeobachteter beginnen und führen, als es in kleineren Städten oder auf dem Lande möglich war. Parks und belebte Geschäftsstraßen boten sich zum Flanieren und Flirten an, in Stundenhotels oder Studentenbuden kam man sich körperlich näher. Eine solche Nähe ließ sich auch auf dem städtischen Prostitutionsmarkt kaufen. Aber man konnte sie auch seriöser herbeiführen, indem man eine Zeitungsannonce aufgab und gezielt auf die Suche ging. Diese Art der Partnerwahl machte die Liebe tatsächlich zur Privatsache, weil weder Eltern noch Verwandte oder Freunde mitredeten.

Das war für Männer, die Männer liebten, und Frauen, die Frauen liebten, noch viel bedeutsamer. Obwohl ihre Liebe offiziell unter Strafe stand, konnten sie sie in der Großstadt, wenn auch verdeckt, leben. Hier gab es homosexuelle Zeitschriften mit Kontaktanzeigen, ebenso wie stadtbekannte Treffpunkte, die gerade wegen ihrer „Verruchtheit“ oft auch außerhalb der „Szene“ beliebt waren.

Auch das Wissen über Liebe und Sexualität war in Großstädten leichter erhältlich. In den 1920er Jahren öffneten Beratungsstellen, die Paare über Sexualität und Verhütung aufklärten und bei ungewollten Schwangerschaften Rat wussten.

Die „Masse“

Und wie stand es um die negativen Seiten großstädtischen Lebens? Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sprach Simmel von der „Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht“. Dieser stete Wechsel mache den Großstädter überreizt und ruhelos. Erbitterte Konkurrenz um karge Ressourcen, der immer schnellere Zeittakt der Arbeit sowie deren zunehmende Mechanisierung zerrütteten das Nervenkostüm und brächten seelische Krankheiten in ungeahnter Zahl hervor. Das rief die Nervenärzte und Psychologen auf den Plan. Ihnen begegnete man nicht nur in Krankenhäusern und freier Praxis, sondern auch in großen Fabriken, wo sie sich mit der „Psychophysik“ der Arbeit und der Arbeiter beschäftigten. Mit ihnen gewann der Blick nach innen, die Aufmerksamkeit für Empfindungen und Gefühle professionelle Verstärkung. 

Was die Experten besonders interessierte, war das Spannungsverhältnis zwischen den Einzelnen und der „Masse“. In der Großstadt gehe, so Friedrich Nietzsche abfällig, das Individuum in der „Herde“ auf. Selbst als bürgerlicher Passant konnte man Teil einer Masse sein oder werden, wie Oswald Spengler 1922 beobachtete: „Eine zufällige Menge wird auf der Straße zusammengeballt, sie hat ein Bewußtsein, ein Fühlen, eine Sprache, bis die kurzlebige Seele erlischt und jeder seines Weges geht“, etwa anlässlich eines Verkehrsunfalls oder einer Polizeiaktion. Auch im Sportstadion, als Publikum bei den immer beliebter werdenden Boxkämpfen oder Sechstagerennen, waren solche Massengefühle zu haben.

Für viele Zeitgenossen stellten sie eine Quelle der Irritation dar. Dass man sein Ich in der Masse verlor oder zumindest einschneidend veränderte, alarmierte. Man entdeckte Gefühle in sich, die man sonst nicht bemerkt oder zugelassen hatte; man entwickelte sie in einer Intensität, die den Einzelnen oft überwältigte. Das schreckte ab, zog aber auch an. Denn anders als Simmel meinte, ging es Großstadtbewohnern nicht nur darum, sich mit Blasiertheit gegen die zudringlichen Reize des Metropolenlebens abzuschotten. Sie sehnten sich zugleich nach starken, lebendigen Gefühlen, die Kraft, Aktivität und Vitalität verbürgten. Die Modedroge Kokain eignete sich perfekt dafür, solch exzessive Gefühle hervorzuzaubern. Auch sie gab es vornehmlich in großen Städten zu kaufen.

Ute Frevert
19. Juni 2019

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